Einleitung: Nirit Sommerfeld
Der „Göttinger Friedenspreis“, seit 1998 von der Dr. Roland Röhl Stiftung ausgelobt und an herausragende Institutionen wie PRO ASYL und Reporter ohne Grenzen sowie an Persönlichkeiten wie Egon Bahr und Konstantin Wecker verliehen, geht in diesem Jahr an den Verein „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ (JS). Dieses Bündnis, das sich als deutscher Ableger der „European Jews for a Just Peace“ (EJJP) versteht, setzt sich aus säkularen und praktizierenden Jüdinnen und Juden aus Deutschland zusammen, aus Menschen, die entweder deutsch-jüdische Wurzeln und Holocaust-Überlebende als Vorfahren haben oder in den letzten Jahren aus Israel nach Deutschland, vorwiegend nach Berlin, ausgewandert sind — meist weil sie die politischen Verhältnisse in ihrer Heimat nicht ertragen konnten.
Die Ankündigung der Preisverleihung rief den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, auf den Plan, der die Schamlosigkeit besaß, die JS wegen ihrer punktuellen Unterstützung der BDS-Bewegung öffentlich als antisemitisch zu diffamieren. Die FDP-Abgeordnete Oldenburg schloss sich dieser Diffamierung an, weitere Proteste gegen die Preisverleihung folgten. Das Ergebnis: Der Göttinger Oberbürgermeister, der seit Anbeginn der Preisverleihung zum Empfang der Stadt einlädt, sagt für dieses Jahr den Empfang ab; die Uni-Präsidentin entzieht der Veranstaltung, die seit 1998 jährlich in der Universitätsaula ausgerichtet wird, die Räumlichkeit; und die Sparkasse, die traditionell 2.000 € für die Nebenkosten der Preisverleihung zur Verfügung stellt, zieht ihr Sponsoring zurück. Alle drei begründen ihre Schritte damit, sie wollten „neutral“ bleiben.
Unter Jüdinnen und Juden, die sich für eine friedliche Lösung, für Ausgleich und Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern einsetzen, erzeugen diese Verleumdungen und der Druck, der damit ausgeübt wird, Entsetzen und Wut. Die Mit-Gründerin der Jüdischen Stimme, emeritierte Professorin und ehemalige Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte Fanny-Michaela Reisin schrieb daher einen persönlichen Brief an ihre Kollegin Frau Prof. Dr. Ulrike Beisiegel, Präsidentin der Georg-August-Universität Göttingen. Darin kritisiert sie die Entscheidung des Präsidiums der Göttinger Universität, dem Festakt der Verleihung in diesem 21. Jahr wegen der Auszeichnung der JS für ihre menschenrechts- und friedenspolitische Arbeit ohne Angabe von triftigen Gründen eine Absage zu erteilen. Zu erwarten sei von der Universität nicht zuletzt aufgrund ihres weltweit anerkannten Rufs zumindest der Mut, eine Mittlerrolle zwischen den Konfliktparteien um die Auszeichnung wahrzunehmen und ein Rundtischgespräch zu ermöglichen, wie vom Jury-Vorsitzenden Andreas Zumach gefordert.
Fanny-Michaela Reisin hat sich entschieden, diesen sehr persönlichen Brief der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Wir halten ihn in seiner stringenten Argumentation für wegweisend; er beleuchtet ausführlich wissenschaftsethische sowie friedenspolitische Aspekte und zeigt zwingend auf, dass eines unserer wertvollsten Güter dringend geschützt werden muss: die Meinungsfreiheit.
Cui bono – Wem nützt es?
Offener Brief von Prof. Fanny-Michaela Reisin an die Präsidentin der Georg-August-Universität Göttingen, Prof. Dr. Ulrike Beisiegel
Sehr geehrte Präsidentin,
liebe Ulrike,
mein Name ist Fanny-Michaela Reisin,
Sie und ich wirkten während der 80er und 90er Jahre gemeinsam – vielleicht erinnern Sie es noch – in der wissenschaftlichen Friedensbewegung. Sie als Biochemikerin, ich als Informatikerin. Anfang der 90er konzipierten wir den internationalen Friedens- und Kulturkongress „CHALLENGES – Science and Peace in a Rapidly Changing Environment“ und brachten mit internationalen Teilnehmenden die Vereinigung INES (International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility) auf den Weg. Ich kehrte danach ins FIFF (Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e. V.) zurück, Sie wahrscheinlich zu NatWiss (NaturwissenschaftlerInnen – Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit e. V.).
Ich erinnere zwar noch ein Gespräch mit Ihnen über Israel, bin aber sicher, dass meine Herkunft zwischen uns nie zur Sprache kam. Ich wurde in Jerusalem geboren. Nach dem Abitur an einem Berliner Gymnasium nahm ich mein Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem auf und erlebte im zweiten Studienjahr 1967 den sog. Junikrieg als Teil der Zivilverteidigung im Bunker der großen Zentralbibliothek. Nach Bombardements auf zivile Stätten zogen wir aus, um die Menschen zu versorgen.
Der aktuelle Anlass für den vorliegenden Brief ist – Sie ahnen es sicher – die Auszeichnung der von mir im Jahre 2003 mit ins Leben gerufenen „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ (JS) mit dem diesjährigen Göttinger Friedenspreis. Der Grund ist die im Namen des Präsidiums der Georg-August-Universität publizierte Presserklärung in diesem Zusammenhang. Hier heißt es u. a.:
“In der aktuellen Situation hat die Entscheidung zu einer Kontroverse geführt, bei der sich die Universität keiner der kontrovers geäußerten Meinungen anschließen kann. Daher wird die Universität in diesem Jahr die Preisverleihung nicht unterstützen und die Verleihungsfeier kann nicht in Räumen der Universität stattfinden. (…)”
Ich bevorzuge die Anrede in der dritten Person, da ich Sie in erster Linie als Universitätspräsidentin anrufe. Überdies sehe ich uns in Kenntnis der Entscheidung Ihres Hauses auf verschiedenen Seiten. Gleichwohl habe ich, da die online einsehbaren Angaben zu Ihrer Vita besagen, dass Sie sich der wissenschaftlichen Friedensbewegung weiterhin verbunden fühlen, Grund zur Hoffnung, dass Sie meine Äußerungen, wenn schon nicht teilen, so doch zumindest verstehen werden.
Die Erklärung verstört mich. Nicht nur wegen meiner Mitgliedschaft in der JS. Mindestens ebenso bedrückend ist, dass eine so lapidar formulierte Abweisung, die zudem vom Präsidium einer Universität allein mit der Unfähigkeit begründet ist, sich einer Meinung anzuschließen (sic!), ein bezeichnendes Licht auch auf die wissenschaftliche Gemeinschaft in Deutschland wirft, der auch ich angehöre.
Im 70. Jubiläumsjahr des Grundgesetzes mag auch mein langjähriges friedens- und menschenrechtspolitisches Engagement in Deutschland der Grund für meine Verzagtheit beim Lesen solcher Einlassungen sein. Ich werde im letzten Abschnitt meines Briefs darauf zurückkommen und einen größeren Zusammenhang jenseits der aktuellen Auseinandersetzung um die Auszeichnung der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost aufspannen, der sich mit einem Vorschlag zu einem friedenspolitischen Beitrag Ihrer Universität verbindet, aus dem mein Verständnis für ein glaubwürdiges Interesse an der langfristig verlässlichen Sicherheit Israels und seiner Bevölkerung hervorgeht.
Es ist schon bitter, wenn die Repräsentanten einer Universität, die weltweit als Leuchtturm der Zivilcourage und gesellschaftspolitischen Verantwortung hochgeschätzt wird, sich in der Weise unbeteiligt aus der Affäre ziehen.
Ich frage mich, ob Sie sich des kostbaren Erbes der Göttinger Sieben von 1837 sowie der Göttinger Achtzehn von 1957 unbedingt und durchgängig verpflichtet sehen oder nur von Fall zu Fall, etwa, wenn Zuspruch und nicht Unbill zu erwarten ist? Es stehe dahin, ob der gute Ruf der Göttinger Universität durch Ihre dem Schein nach um (Wert-) Neutralität bemühte, in der Sache jedoch – wie banal formuliert auch immer – unmissverständlich auf der Seite der Herren Verleumder und Rufmörder positionierte Einlassung Schaden genommen hat.
Als Mitglied der JS schreibe ich diesen Brief, weil ich Ihnen in aller Ausführlichkeit zurückspiegeln möchte, wie eine Erklärung wirkt, in der das Präsidium einer doch gestandenen Georg-August-Universität Göttingen wegen der Auszeichnung unserer kleinen Vereinigung seine seit 1998 jährlich der Stiftung Dr. Roland Röhl zugehende Einladung zur Ausrichtung der Verleihungsfeier in der Universitätsaula ohne Angabe triftiger Gründe zurückzieht. Eine Ausladung eigentlich, die mehr noch durch den Nachsatz, dass die Preisverleihung in diesem Jahr von der Universität nicht unterstützt werde und in keinem der Universitätsräume stattfinden dürfe, als nachdrückliche Aussperrung verstanden werden soll.
Die diesjährigen Laureaten sind samt der ehrenden Stiftung an Ihrer Universität unerwünscht. Soviel zum Tatbeständigen und wie es auf mich wirkt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, das die am Zustandekommen der genannten Entscheidung beteiligten Präsidiumsmitglieder sich bei der Prüfung und Würdigung der für den vorliegenden Vorgang relevanten Faktoren von der Umsicht, Sorgfalt und Akribie haben leiten lassen, die an einem wissenschaftlichen Standort üblich sind.
Vielmehr unterstelle ich – wofür in erster Näherung die offenkundig bewusste Abschmelzung eines in der Bundesrepublik Deutschland nun seit langem virulenten gesellschaftspolitischen Konflikts auf eine „Kontroverse“ (sic!) als Rechtfertigung herhalten mag –, dass die verwickelten, zweifellos komplexen Zusammenhänge vom Präsidium nicht überblickt wurden. Folglich können Sie bei Ihrer vermeintlich unverfänglichen Entscheidung auch nicht genau gewusst haben, auf welcher Seite des Konflikts Sie mit dem publizierten Beschluss unweigerlich Position ergriffen und zu wessen Gunsten und Interessen Sie sich zu verwenden entschieden haben.
Die folgenden Fakten und Argumente wollen Ihnen eine andere Seite des Konflikts (es gibt ja, wer wollte dies bestreiten, unzählig viele) zu bedenken geben. Keine Anklage. Eine bescheidene Zusammenschau wesentlicher Gesichtspunkte, in der Absicht, Ihnen und den übrigen Präsidiumsmitgliedern die Wirkung und Reichweite Ihrer Entscheidung aus anderem Blickwinkel zu vermitteln.
a) Eliminierung der internationalen BDS Bewegung – Element der israelischen Sicherheitspolitik
Ist Ihnen bekannt, dass die Aussperrung unserer Organisation aus allen Räumen der Universität unabweisbar 1:1 eine Kampagne umsetzt, die im Jahre 2016 von der Regierung des Staates Israel beschlossen, fortan unter dem Titel „anti-BDS“ systematisch als wesentlicher Topos der israelischen Sicherheitspolitik verfolgt wird?
Die erste „anti-BDS Conference“ fand, ausgerichtet von der Regierung Israels, zusammen mit überregionalen israelischen Medien am 28. März 2016 in Jerusalem statt. Yisrael Katz, der erst kürzlich vom Ministerpräsidenten Netanyahu mit dem Außenministeriums betraute bisher schon Minister für Geheimdienste, Transport und Atomenergie – (Minister for Intelligence, Transportation and Nuclear Energy) wusste schon damals öffentlich kundzutun, dass Israel sich die „gezielt zivile Eliminierung“ („civil targeted elimination“) von BDS-Führern mit Hilfe der Geheimdienste vorbehalten müsse („Israel should engage in ‚targeted civil eliminations‘ of BDS leaders with the help of Israeli intelligence“).
Beim Ministerium für öffentliche Sicherheit und strategische Angelegenheiten (Ministry of Public Security and Strategic Affairs) wurde im selben Jahr eine umfänglich budgetierte „anti-BDS“- Abteilung eingerichtet. Der zuständige (anti-BDS-)Minister Gilad M. Erdan erklärt seitdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Entschlossenheit, die BDS-Bewegung weltweit mit „allen mir verfügbaren politischen, geheimdienstlichen und sonstigen Mitteln“ zu eliminieren.
Gleich wenige Monate später lud der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen als Schirmherr und Gastgeber namenhafte jüdische Organisationen wie den World Jewish Congress (WJC), die Anti-Defamation League (ADL), die Zionist Organization of America und v. a. m. zur zweiten anti-BDS Conference im Hauptsaal der UN-Generalversammlung ein, auf der Strategie und Programmatik erörtert werden sollten. Hier brandmarkte der Präsident des WJC Ron Lauder „BDS“ als „modern-day anti-semitism“ und rief dazu auf, alle Ressourcen zu seiner Bekämpfung zu mobilisieren.
Tatsächlich sind in den vergangenen drei Jahren – vor allem in den Ländern Nordamerikas und Nordwesteuropas – umfängliche Interventionen israelischer und nordamerikanischer Journalisten sowie Lobbyisten zu verzeichnen, die in den jeweiligen Ländern von aktiven Freunden Israels und häufig von den offiziellen, von dem jeweiligen Staat mit der Vertretung der dort lebenden Juden betrauten Gemeinden unterstützt werden.
Zu den Interventionen gehören etwa: Initiativen zu Gesetzen, die BDS-Unterstützung unter Strafe stellen, Diffamierungen von AktivistInnen der Palästinasolidarität und Diskreditierung von Einlassungen in öffentlichen Medien und Einrichtungen wie dem Jüdischen Museum Berlin als antisemitisch, wenn die Kritik an der israelischen Regierungspolitik oder am gesellschaftlichen Status quo Israels den Zensoren als „israel-feindlich“ erscheint.
Im Mittelpunkt solcher Umtriebe steht die Vereitlung der Überlassung von Räumen zur Durchführung von Veranstaltungen, die z. B. die israelische Militärbesatzung palästinensischer Territorien, den israelischen Siedlungsbau auf besetztem Gebiet, die gescheiterte internationale Politik der „Friedensprozesse“, die Ausgrenzung der palästinensischen Bevölkerung innerhalb Israels oder Flüchtlingslager zum Thema haben, in denen Millionen vertriebener Palästinenser ohne Aussicht auf eine Staatsangehörigkeit ihr Leben fristen. Städtische und kirchliche Institutionen werden massivem Druck unterzogen, bis sie sich entschließen, sogar vertraglich zugesicherte Räume aufzukündigen, um einem etwaigen Ruf als Antisemiten zu entgehen. Solcherart „Eliminierungskampagne“ findet im großen Maßstab weltweit und nicht zuletzt auch hierzulande, etwa in München, Heidelberg oder Frankfurt statt.
Gilt in der Bundesrepublik Deutschland das Eintreten für die Rechte der Palästinenser generalis als antisemitisch?
Um Fehldeutungen und Missverständnissen vorzubeugen: Die Regierungen des Staats Israel sind selbstverständlich souverän ihre Politik im Interesse der Bürger und Bürgerinnen auf ihrem Hoheitsgebiet nach eigenem Ermessen und Gutdünken zu definieren. Das Ansinnen jedoch, die BDS-Bewegung weltweit zu eliminieren, kann indes schlechterdings nur in Verletzung des geltenden Völkerrechts verfolgt werden. Beruht es doch weitgehend auf unzulässige Einmischungen und mehr noch auf dem Export eigner Politikdefinitionen und nationaler Grundsätze in die Hoheitsgebiete anderer Staaten. Da erklärtermaßen kein Mittel gescheut werden soll, kommt die Durchsetzung von Regularien, zu denen die Regierungen Israels allenfalls auf dem Territorium der eigenen nationalen Grenzen ermächtigt sind, in anderen Staaten der Aussetzung der jeweils dort selbstbestimmt und souverän beschlossenen Verfasstheit gleich.
Die JS weiß aus eigenen Erfahrungen, wie sich solcherlei Übergriffe von umtriebigen Vertretern der Anti-BDS-Kampagne anfühlen. Im Herbst 2017 wurde ihr Konto bei der Bank für Sozialwirtschaft (BfS) aus heiterem Himmel ohne Angabe von Gründen gekündigt.
Ein Gespräch beim Vorstand ergab, dass die punktuelle Unterstützung der BDS-Bewegung der einzige Kündigungsgrund war. Auf das Angebot der Bank, abzuschwören und das Konto aufrechtzuerhalten, ging die JS nicht ein. Dank des Massenprotests demokratisch gesinnter Privatpersonen sowie vieler friedens- und menschenrechtspolitischer Organisationen, Verbänden etc., die als BfS-Kunden in Verteidigung des Grundgesetzes und der rechtsstaatlichen Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland nicht zuließen, dass die israelische Regierung hierzulande – so als sei Deutschland eine Bananenrepublik – agiert, unterhält die JS eines ihrer Konten nach wie vor bei der BfS.
Sie werden es vielleicht schon erkannt haben.
Ich sehe den Konflikt um die Auszeichnung unserer Vereinigung mit dem Göttinger Friedenspreis zweifelsfrei im Zeichen dieser, von der Regierung Israels definierten und international betriebenen Anti-BDS-Kampagne.
Sie zu tolerieren kommt in letzter Instanz einer Absage an geltendes internationales und ebenso bundesdeutsches Recht gleich, Kritik zu üben und von der Regierung Israels zu fordern, im Interesse internationaler und regionaler Abrüstungs- und Entspannungsbemühungen sowie nicht zuletzt auch im Interesse der in ihre Obhut gegebenen israelischen Bevölkerung zu den völkerrechtlichen Standards zurückzukehren. Damit wären übrigens auch die zentralen Forderungen der BDS-Bewegung erfüllt und ihr der Boden für ihr weiteres Wirken entzogen.
Nun handelt es sich bei der international vernetzten, gewaltfreien BDS-Bewegung, die von der JS punktuell unterstützt wird, um eine rein politisch-moralische Basisbewegung, die von der palästinensischen Zivilgesellschaft 2005, im vierten Jahrzehnt israelischer Militärbesatzung, ausging. Es steht außer Frage, dass die zivile, ihrem Selbstverständnis nach zivile und gewaltfreie BDS-Bewegung, weder militärisch noch ökonomisch auch nur im Ansatz das Potential hat, eine Bedrohung für Israels Ökonomie, Verteidigung und Sicherheit darzustellen. Auch wird sich vergeblich mühen, wer in den offiziell publizierten, online jederzeit nachprüfbaren Dokumenten der Komitees der Initiatoren nach einer Infragestellung, Ablehnung oder Anfechtung der – durch internationales Recht ohnehin verbrieften – Existenz des Staats Israels sucht.
Die Regierungen Israels fürchten seit Jahren die ideelle Kraft der moralischen und politischen Kritik an der Definition und Praxis ihrer Politik, die vornehmlich auf militärische Stärke setzt und expressis verbis regionale Hegemonie beansprucht. Beides sind Politikgrundsätze, die von den Mitgliedsstaaten der EU und namentlich von der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 vor dem Hintergrund der verheerenden Zerstörungen im Namen von Militarismus, Nationalismus und nationaler Vorherrschaft aufgegeben wurden, weil sie auf lange Sicht nicht zukunftsfähig sind und insbesondere einer lebenswerten, sozial- und naturverträglichen Zukunft entgegenstehen. Die JS sieht sich als deutsche Sektion der European Jews for a Just Peace (EJJP) in diesbezüglich ausdrücklich der europäischen Politikkultur nach 1945 verpflichtet: Es kann doch eine Politik der militärischen Stärke und regionalen Hegemonie nicht für die Nationen Europas falsch und für den jüdischen Staat Israel richtig sein!
Kein Mensch in Deutschland, keine Bundes-, Landesregierung und keine Kommune kann behaupten, eine ehrliche und beschützende Freundschaft zu Israel und zur jüdischen Bevölkerung hierzulande zu hegen und zugleich kritiklos Verstöße der israelischen Regierungen gegen Standards tolerieren, die international und auf deutschem Territorium als kostbare Errungenschaften gepriesen werden, die nach den verheerenden Erfahrungen der von Deutschland ausgehenden NS-Herrschaft in Europa sowie zweier Weltkriege in der UN-Charta und dem Völkerrecht verbrieft wurden.
Und niemand in Deutschland kann guten Gewissens behaupten, den in Israel lebenden ca. 6 Millionen Juden in Freundschaft und Verantwortung verbunden zu sein und gleichzeitig offenkundige Problem- und Gefahrenbereiche ausblenden, die dringend der internationalen Aufmerksamkeit bedürfen.
Erst recht nicht eine Universität, deren Privileg es ist, alle geistigen, wissenschaftlichen und technologischen Kapazitäten zu vereinen, die Weitsicht und Prognose ermöglichen und in gesellschaftspolitischen Situationen fehlgeleiteter Orientierung zur fundierten Ermahnung und rechtzeitigen Korrektur verpflichten, wie dies uns die Göttinger Achtzehn zeigten und mithin doch für alle Zeiten aufgaben.
b) Die ungute Rolle des Zentralrats der Juden in Deutschland
Mir ist vollkommen bewusst: Ein Brief an Sie ist nicht der Ort, Beschwerde über die ungute Rolle des Zentralrats der Juden in Deutschland zu führen. Auch will ich nicht verhehlen, dass es mir überaus schwerfällt, die folgenden Zeilen zu schreiben. Gehöre ich doch einer Generation an, die dem Zusammenhalt und der Loyalität anhängt, die Minderheiten in Mehrheitsgesellschaften eigen ist und in der jüdischen Gemeinschaft immer vorschrieb, Differenzen untereinander intern auszutragen und nicht auf offenem Markt. Ich weiche von dieser Haltung nunmehr ab. Nicht so sehr, weil der Vorsitzende Schuster und andere Mitglieder des Zentralrats solcherart Zusammenhalt schon längst aufgekündigt und durchkreuzt haben. Vielmehr gehe ich im vorliegenden Brief auf den Zentralrat der Juden in Deutschland ein, weil ich nicht den geringsten Zweifel daran habe, dass das Präsidium Ihres Hauses bei seiner – alles in allem für das Entscheidungsgremium einer Universität auch erstaunlich kurzsichtigen – Entscheidung vorbehaltslos den Vor- und Maßgaben des Zentralrats der Juden gefolgt ist.
Eben dies darf so nicht stehenbleiben. Deshalb komme ich nicht umhin, einige der vom Zentralrat gegen uns verbreiteten Anwürfe einzuordnen und argumentativ zu parieren. Aus gegebenem Anlass will ich überdies die ungute Rolle des Zentralratsvorsitzenden Schuster im Konflikt um unsere Auszeichnung offenlegen, die m. E. geeignet ist, ein gedeihliches Zusammenleben in der Bundesrepublik Deutschland zu unterminieren.
Ich komme zur Sache.
Während ich dem Präsidium Ihres Hauses unterstelle – freilich ohne dies gutzuheißen –, dass es bei seiner Entscheidung nicht alle Implikationen und Folgen seines Handelns überblickte, muss für den Vorsitzenden Schuster und die übrigen Mitgliedern des Zentralrats der Juden in Deutschland festgestellt werden, dass sie sich ganz bewusst von der Regierung des Staates Israel vorgeblich zu seinem Schutze von der Anti-BDS-Kampagne in den Dienst nehmen lassen. Die Diffamierungen der JS, die bei der öffentlichen Bekanntgabe ihrer Auszeichnung mit dem Göttinger Friedenspreis von Schuster im Namen des Zentralrats publiziert wurden, lassen sich nicht anders erklären.
Sie werden dadurch allerdings nicht richtig und sind als ebenso fehlgeleitet zu beurteilen, wie die dahinterstehende „Eliminierungspolitik“ der israelischen Regierung. Dabei könnten die guten Beziehungen zu Israel von offiziell jüdischer Seite in Europa doch produktiv genutzt werden, den Blick im Sinne eines mehr und besser sehenden Außenbeobachters der Konfliktregion auf eine andere Politikkultur zu lenken, etwa der, der aus europäischem Blickwinkel Tragfähigkeit und bessere Lebensqualität zugesprochen werden können.
Laut Staatsvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland mit der Kultushoheit und Vertretung aller hierzulande lebenden Juden betraut. In diesem Sinne kommt dem Zentralrat eine Fürsorge- und Schutzpflicht zu, die er regelwidrig verletzt, indem er Juden und Jüdinnen, die eine Minderheitsmeinung vertreten, systematisch ausgrenzt und sich mehr noch dazu versteigt, sie öffentlich zu diskreditieren. Dabei ist dort allzu gut bekannt, dass niemand aus der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen und durch Vorhaltungen wie „Verräter“, „Selbsthasser“ diffamiert oder, wie im eben vorliegenden Fall geschichtsvergessen und würdelos als Antisemit gebrandmarkt werden kann.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat weder in jüdisch-religiöser noch in weltlich-demokratischer Hinsicht die Befugnis, Juden zu entwürdigen oder gar aus dem Judentum auszuschließen!
Von der Bundesrepublik Deutschland mit der Kultushoheit der jüdischen Gemeinden aller Richtungen in diesem Lande betraut, ist er gehalten, sämtlichen Juden Schutz zu gewähren, auch „rebellischen“, die anders denken und öffentlich andere Meinungen zu Israel, zum jüdischen Glauben oder zum allgemeinen Weltgeschehen vertreten als die vom Zentralrat und seinen Organen verlautbarten. In unseren Reihen sind etliche praktizierende Juden und Jüdinnen, die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sowie zu anderen Orten sind, und in Synagogen beten. Andersdenkende – zugegeben, meistens wenige, die in ihren Anschauungen von der Mehrheit der jüdischen Gemeindemitglieder abweichen und selbstbewusst keinen Hehl daraus machen, dass sie eine Minderheit in der Minderheit sind. Der Zentralrat missbraucht die ihm zugesprochene Monopolstellung in Deutschland, wenn er darauf besteht, Andersdenkenden, die seiner Obhut anvertraut sind, die im Grundgesetz verbriefte Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu versagen.
Im Sinne einer Kultusgemeinde, die doch mehr sein muss als nur eine politisch-ökonomische, dem Schutz von Israel verschriebene Überwachungszentrale könnten die Mitglieder des Zentralrats etwa dem guten Beispiel der Evangelischen und der Katholischen Kirche folgen, die in Zeiten der 68er Studenten-, der Friedens- oder der Anti-AKW-Bewegung ihre Häuser für Andersdenkende offenhielten und ihre Hand – ich erinnere mich an die PastorInnen und TheologInnen Helmut Gollwitzer, Heinrich Albertz, Dorothee Sölle, Ute Ranke-Heinemann u. a. m. – ausstreckten, um jenen menschlich zu begegnen, Verbindung zu halten und immer wieder Brücken zwischen der Mehrheit der christlichen Gesellschaft und kritisch denkenden Minderheiten zu bauen sowie Räume für ausgewogene Dialoge zu schaffen.
Fast hat es den Anschein, als vertrete der Zentralrat in Deutschland lautstark und vorrangig die Interessen des Staates Israel und nicht, wie es ihm per Staatsvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben ist, die Belange der hierzulande lebenden Juden. Die Bundesregierung, die die Bundesrepublik Deutschland in diesem Staatsvertrag formell vertritt nimmt an dieser Art Interessenvertretung keinen Anstoß. Für Israel gelten – ganz gleich, wie die Politik seiner jeweiligen Regierung sich ausnimmt – unter Bezugnahme auf eine „Freundschaft“ in historischer Verantwortung besondere Standards, und dem Vorsitzenden Schuster wird erstaunlicherweise zugestanden, sich bisweilen in die Rolle des Ministerpräsidenten eines 17. Bundeslandes zu versteigen.
Dass der Vorsitzende des Zentralrats in seiner Pressemitteilung gegen unsere Auszeichnung öffentlich vorbringt, die BDS-Bewegung wecke Assoziationen zum Boykott jüdischer Geschäfte im Dritten Reich, ist mehr als nur fadenscheinig und infam. Der antisemitische Völkermord, die demütigenden Pogrome, Vertreibungen und Verfolgungen, die Juden während des NS-Regimes, aber auch schon während fast zwei Jahrtausenden im christlichen Europa davor erlitten, wird von Schuster in unlauterer Absicht instrumentalisiert. Die Jüdische Stimme und unzählige andere Organisationen mit ihr haben schon längst in schriftlichen Einlassungen, auf Plakaten und Transparenten bei Aktionen öffentlich ausgerufen: „Kauf bei Juden, kauf bei Christen, Heiden, Moslems, Hindus, und Buddhisten: Kauf keine Siedlungsprodukte ‚made in Israel‘!“
Das „B“ in BDS eröffnet Bürgern und Bürgerinnen die Möglichkeit, individuell mit zivilen Mitteln gegen Unrecht und Ungerechtigkeit aufzustehen und sich anhaltenden Verletzungen der Grund- und Menschenrechte durch einen Staat, heiße er Iran, Sudan, Türkei oder eben Israel, zivilgesellschaftlich vernetzt, von jedem Ort auf dem Globus aus, gewaltfrei zu widersetzen. Ziviler Boykott ist ein – nicht zuletzt auch von den Vereinten Nationen immer wieder legitimiertes – Mittel des selbstorganisierten Widerstands, das historisch individuell und kollektiv vielerorts eingesetzt worden ist, um in zivilen Bewegungen die Breite und Kraft zu entfalten, die nötig sind, um politischen Druck auf Regierungen aufzubauen, die ihre Innen- oder Außenpolitik über geltendes internationales Recht stellen.
Was ist von dem Ansinnen zu halten, hierzulande Bürgerrechte und politischen Freiheiten einschränken zu wollen? Und weil solches Ansinnen nicht umstandslos durchkäme, noch dazu Opfer des Holocaust in unverantwortlicher Weise unentwegt, immer und immer wieder zu instrumentalisieren?
Wie ist die Gemengelage zu beurteilen, wenn der Zentralrat der Juden in Deutschland die Blaupause liefert, die von Krethi und Plethi wie etwa den Stadtpolitikern der FDP in Göttingen, umtriebigen Antideutschen allerorts, alten und neuen Nazis allzu gern als Freibrief verstanden wird, die JS und irgendwann vielleicht auch andere Juden zu diffamieren?
Wissenschaft wäre nach meinem Dafürhalten auch hier in der Verantwortung und aufgerufen, von einer Meta-Position die Verstrickungen einer Konstellation zu analysieren und zu beurteilen, die hierzulande dadurch entstehen, dass doppelte Rechts-und Politikstandards geltend gemacht werden können.
Die JS mahnt seit Jahren vor der Gefahr des Vertrauensverlusts in die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der bundesrepublikanischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, wenn im Falle Israel die außenpolitisch generell hochgehaltenen menschenrechts- und friedenspolitischen Standards ausgesetzt werden, aber auch wenn der Zentralrat die Einschränkung der Grundrechte für die JS betreiben und mit unhaltbaren Diffamierungen von sich Reden machen kann, ohne abgemahnt zu werden.
Soweit.
Mag sein, dass meine Ausführungen nun eher Zorn als besorgte Verzagtheit ausdrücken und doch zur Klage geraten sind. Tatsächlich bin ich enttäuscht, sehr besorgt und ja, nicht ohne Zorn. Wie ist es möglich, dass eine altehrwürdige Universität, ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister mit seinen Stadtverordneten und sogar eine Bank in der Weise leichtfertig und ohne nähere Prüfung den Anwürfen des Zentralrats der Juden folgen? Ich mag nicht glauben, dass die ganze Stadt in Sachen Ausgrenzung und Diffamierung einfach wegschaut. Oder gar einig zusammensteht? Ich will es nicht glauben. Und doch treiben mich Sorgen um.
Welche demokratischen Gepflogenheiten könnten in solchen Situationen helfen, wenn nicht ein Rundtischgespräch? Warum hat sich das Präsidium der Göttinger Universität nicht als Mittler aus politisch und inhaltlich nicht involvierter, wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch autonomer Position angeboten? Warum werden alle Gesprächsangebote vom Zentralrat in den Wind geschlagen und ein Podiumsgespräch mit der Vorsitzenden unserer Vereinigung brüsk zurückgewiesen? Wir hörten es schon oft, „mit Israel-Feinden“ setzt sich kein Repräsentant der Jüdischen Gemeinden an einen Tisch. Was sonst? Eliminieren?
Es bleibt dabei: Am wenigsten begreife ich, dass eine Universität, der hierzulande Autonomie verbrieft ist und die alle Freiheiten genießt, Forschung und Entwicklung selbst zu bestimmen sowie ihre Gangart in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die Implikationen und Folgen ihres Tuns eigenständig zu entscheiden, sich in der Weise aus der Affäre zieht, wie in der genannten bewusst unverfänglich gehaltenen Erklärung geschehen.
Es hätte nach meinem Dafürhalten der Georg-August-Universität gut angestanden, anstatt mit einer nichts erklärenden Erklärung dem Schein nach ihr Gesicht zu wahren, in klarer, verantwortungsvoller Haltung bestimmt und verbindlich Gesicht zu zeigen. Ich hatte bis zuletzt gehofft, ja, mehr noch erwartet, dass die Göttinger Universität nach umsichtiger Prüfung der Vorstellungen der Konfliktparteien in Wahrnehmung ihrer Souveränität und Eigenständigkeit Zeichen setzen wird, statt ihre Unfähigkeit zu beteuern, sich zu entscheiden, womit das Präsidium nicht desto trotz willfährig und auf bequemste Weise sich doch entschieden hat, blind dem Mainstream zu folgen.
Haben Sie bei Ihrer Entscheidung, uns aus den Räumen der Universität auszusperren, den Druck, die Unwägbarkeit und vor allem die Gefahren bedacht, denen sich die Göttinger Sieben 1837 aussetzten, als sie couragiert die Beibehaltung der liberalen Verfassung und Liberalität einzufordern und damit gegen die Obrigkeit des Königs von Hannover aufzustehen, sich entschlossen hatten? Es ist bekannt: Alle sieben Professoren verloren ihren Lehrstuhl, drei wurden sogar des Landes verwiesen.
Haben Sie bedacht, wie schwer es 120 Jahre später 1957 auch den Göttinger Achtzehn gefallen sein mag, Zivilcourage zu zeigen und sich mahnend nicht nur der Politik einer von Konrad Adenauer und Franz-Josef Strauß geführten Regierung, sondern auch der Mehrheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu verweigern, die in restaurativer Absicht bestrebt war, die militärische Verteidigung Deutschlands wiederherzustellen, den raschen Aufbau der Bundeswehr voranzutreiben und selbst vor der Planung der Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen nicht haltzumachen gesonnen waren?
Im Vergleich zu den genannten gesellschaftspolitischen Problemen ist der nunmehrige Konflikt, vor dem Sie und das Präsidium zurückgescheut sind, kaum der Rede wert. Ich respektiere Ihre Entscheidung nolens volens und werde freilich problemlos mit der Tatsache leben können, dass auch Leuchttürme der Zivilcourage der scientific community in Zeiten allgemeiner Ungeordnetheit und vernebelter Klarsicht ihre Strahlkraft einbüßen.
c) Ein Vorschlag zur genuin fürsorglichen Langfristsicherung der Existenz Israels
Ich will nun, bevor ich zum Schluss komme, die Göttinger Auseinandersetzungen um die Auszeichnung der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost in einen Kontext stellen, der wiederum einen anderen Blickwinkel auf die Dinge eröffnet und ihre Einordnung in das allgemeinpolitische Weltgeschehen erlaubt.
Ist Ihnen und an Ihrer Universität bekannt, das zeitgleich zur Erhebung der Göttinger Achtzehn 1957 gegen die von der Adenauer-Regierung angestrebten Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen der mit Bundeskanzler Adenauer militärpolitisch und waffentechnologisch eng verbundene israelische Ministerpräsident Ben-Gurion für die militärische Verteidigung Israels noch weiterging? Beide Regierungschefs wiesen ihre Verteidigungsminister Shimon Peres und Franz-Josef Strauß an, über die atomare Aufrüstung beider Staaten nicht nur zu sprechen, sondern ernsthaft den Plan der Regierung Israels zu verhandeln, im selben Jahr mit dem Bau eines Kernreaktors zu beginnen.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Reaktor 1962 in der Negev-Wüste, unweit der israelischen Stadt Dimona in Betrieb genommen wurde und, ungeachtet des 1968 international geschlossenen, von Israel nie unterzeichneten Atomwaffensperrvertrags, bis zum heutigen Tag zur Entwicklung und Herstellung von Atomwaffen genutzt wird. Es sei dahigestellt, ob dies seinerzeit an der Georg-August-Universität Göttingen bekannt war. Otto Hahn war in jedem Fall gut informiert.
In Deutschland konnte die atomare Bewaffnung der Bundeswehr verhindert werden. Nicht zuletzt, wenngleich auch nicht allein dank der Göttinger Achtzehn, der Ostermarschierenden, der Kriegsmüden, die sämtlich als Minderheiten gestartet sind und schließlich eine breite bundesweite Diskussion über die atomare Bewaffnung der Bundeswehr zustande brachten, die Gewerkschaften und Parteien erreichte. Ungeachtet des faktischen Erfolgs der ersten bundesdeutschen Friedensbewegung der 50er und 60er Jahre, der sich zweifellos auch dem Umstand verdankte, dass die US-amerikanische Besatzungsmacht den atomaren Bestrebungen Deutschlands eine Absage erteilte, entfaltete sich mit der seinerzeitigen Massenbewegung eine Friedenskultur, die nach meinem Dafürhalten innen- und außenpolitisch bis heute trägt.
Ganz anders in Israel. Ben-Gurion und die Regierungen unter allen Ministerpräsidenten nach ihm zogen es vor, ihre Pläne und später die atomaren Aufrüstung gegenüber dem Ausland und vor allem auch gegenüber der eigenen Bevölkerung geheim zu halten.
Israel verfügt über Atom- und andere Massenvernichtungswaffen. Es ist hier nicht der Ort, die damit verbundenen Implikationen auch nur ansatzweise zu erörtern. Es wäre aber gut und wichtig zu wissen, ob an Ihrer Universität in Tradierung des guten Beispiels der Göttinger Achtzehn zu den Problem- und Konfliktfeldern geforscht und publiziert wird, die die israelische Erforschung, Entwicklung und Herstellung von atomaren Sprengköpfen sowie der Handel mit solchen etwa in der Region und in Afrika nach sich ziehen. Zumal hiermit künftig Gefahren und Fragen verbunden sein werden, die im Nachgang zur einseitigen Aufkündigung des 2015 erreichten Atomabkommens mit der Islamischen Republik Iran durch die Trump-Administration sowie der kürzlich erfolgten Aufkündigung ihres mit Russland abgeschlossenen INF-Vertrags über atomare Mittelstrecken aus dem von Washington zu erwartenden massiven Druck erwachsen, der auf EU-Mitglieder, zumal auf die Bundesrepublik Deutschland ausgeübt werden dürfte, den Atomvertrag mit Iran ebenfalls aufzukündigen.
Im Jahre 2013 hörte ich als Delegierte der deutschen Sektion des IPPNW sowie der FIDH (Internationale Liga für Menschenrechte) auf einer Konferenz zur atom- und massenzerstörungswaffen-freien Zone im Nahen und Mittleren Osten („Haifa Conference for a Nuclear Weapons and Weapons of Mass Destruction Free Zone in the Middle East“) keinen geringeren als Avraham Burg Klage darüber führen, dass Israel Atom- und andere Massenvernichtungswaffen besitze, entwickle und exportiere, was die eigene Existenz in höchstem Maße gefährde. Burg war seines Zeichens viele Jahre Knesset-Abgeordneter und später auch Knesset-Präsident. Er wusste folglich aus erster Hand, worüber er sprach. Den Nahen und Mittleren Osten Atomwaffen-frei zu machen, wird übrigens durch die UN-Resolution Nr. 3236 seit 1974 gefordert und wurde auf den Review-Konferenzen der Unterzeichnungsstaaten des Vertrags zur Nichtverbreitung von Atomwaffen 1995 und 2010 nachdrücklich bestärkt.
Die Regierung Israels, so Avraham Burg, wäre gut beraten, die Ambiguität ihrer Atompolitik aufzugeben und aktiv regionale Zusammenkünfte, Beratungen und Verhandlungen unter Beteiligung aller Staaten einschließlich Irans voranzutreiben, die das Ziel haben sollten, für den Nahen und Mittleren Osten eine Zone frei von Atom- und anderen Massenzerstörungswaffen zu verwirklichen. Die Beiträge der meisten israelischen Abgeordneten und WissenschaftlerInnen gingen in dieselbe Richtung. Israel sei ein integraler Teil der Region Mittelost und es könne nicht von Iran gefordert werden, sich jeglicher Kernforschung zu enthalten, wenn nicht dasselbe von Israel gefordert werde.
Könnten Sie und das Universitätspräsidium sich vorstellen, unter einer solchen oder ähnlichen Überschrift eine internationale Konferenz der Begegnung von VertreterInnen der Naturwissenschaften und der Politik in den Räumen Ihrer Universität einzuberufen?
Angesicht der sich in den kommenden Jahren zuspitzenden Rüstungseskalation und des massiven Drucks auf die EU-Mitgliedsstaaten könnte die Georg-August-Universität hier in Sachen Atommacht Israel und Atom-Schwellen-Land Iran wichtige Zeichen setzen und einen genuinen Beitrag zur langfristigen Sicherung der Existenz Israels leisten. Schlechterdings entbehrt eine solche Vision jeder realistischen Aussicht auf Umsetzung: Der Zentralrat der Juden in Deutschland und wahrscheinlich auch der Botschafter des Staates Israel stünden davor und würde Sie des institutionellen Antisemitismus bezichtigen. Das Präsidium dürfte im Angesicht einer solchen Gefahr schon antizipativ beschließen, sich von solchem Konflikt tunlichst fernzuhalten. Ich werde mich jederzeit freuen, eines Besseren belehrt zu werden.
Damit bin ich am Ende. Es ist wie gesagt ein Brief, den ich, persönlich enttäuscht vom Präsidium der von Ihnen geleiteten Georg-August-Universität an Ihre Adresse als Präsidentin richte.
Die Stiftung Dr. Roland Röhl wird sich bemühen, in dieser Woche einen Raum für die Preisverleihung zu finden. Die JS wird – daran habe ich keinen Zweifel – eine Verleihung des Göttinger Friedenspreises auch auf der Straße als großes Fest feiern. Selbst, wenn die Dr. Roland Röhl Stiftung dem allseits auf sie ausgeübten Druck nicht couragiert standgehalten hätte, wären wir aus den Auseinandersetzungen in den Wochen seit Bekanntgabe unserer Auszeichnung, ob der breiten Unterstützung und des Zuspruchs, die uns täglich zuteil werden, ermutigt und politisch gestärkt hervorgegangen.
Um so mehr danken wir der Stiftung erstens für die Auszeichnung und zweitens für ihre Entschlossenheit an unserer Seite zu bleiben. Ein Zeichen demokratischer Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit, das wir uns von der Göttinger Universität gewünscht hätten. Aber davon handelt ja der ganze Brief.
Mit besten Grüßen und „trotz alledem“ erdenklich guten Wünschen,
verbleibe ich in guter Erinnerungen an gehabte gemeinsame Erfahrungen,
Ihre/Deine
Fanny-Michaela Reisin