Hell und einladend wirkt das Kulturhaus, das die Gruppe »Ingenieure und Architekten des Volkes« im Istanbuler Armenviertel Kücük Armutlu gebaut hat. Bilder davon wurden am Sonntag im Berliner »Bethanien« gezeigt, einem linksalternativen Zentrum, das eher subkulturell auf gepflegte Unordnung setzt. In dem ehemaligen Diakonissen-Krankenhaus am Mariannenplatz trafen sich am Wochenende mehrere hundert Menschen zur internationalen Konferenz »Selber machen«, um über linke »Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie« zu sprechen. Das Gemäuer mit reichlich Graffiti an Innen- und Außenwänden steht im Stadtteil Kreuzberg, wo in den letzten Jahren viel edelsaniert wurde und die Mieten explodiert sind. In Kücük Armutlu sind dagegen die meisten Bauten »über Nacht errichtet« – »Gecekondu« werden solche informellen Siedlungen in der Türkei genannt; im Westen auch gerne Slums. Im Kontrast dazu stellt sich die Mehrheit der dort Lebenden Orte der Begegnung wohl gemütlicher vor als die linksradikale Szene Deutschlands. Entworfen wurde das Kulturhaus in dem Istanbuler Armenvierteil unter Einbeziehung der Menschen, die es bewohnen, stellte eine junge Vertreterin der »Ingenieure und Architekten des Volkes« in einem Workshop im Bethanien klar. Als reines Sozialarbeiterkollektiv versteht sich ihre Gruppe aber nicht: »Wir sind Marxisten-Leninisten«, betonte sie – und erklärte wenig später, wie sich die Bewohner des Viertels einige Tage selbst versorgen können, sollte die Polizei es bald umstellen. Für die Stromversorgung werden Windräder gebaut; in einem »Volksgarten« wird auf einem Quadratkilometer Gemüse angebaut. »Wer ist dieses Volk?« war eine der Nachfragen aus dem Publikum im Bethanien. Andere Teilnehmer zeigten sich beeindruckt, dass es in einer westtürkischen Metropole bei aller staatlichen Repression immer noch eine Gegend gibt, in der – so war zu erfahren – ein Volkskomitee entscheidet, was wo gebaut wird. Die Distanz zwischen aktiven Linken und dem Rest der Bevölkerung scheint dort geringer zu sein.
Die Frage, warum hierzulande »normale« Menschen, die im kapitalistischen Alltag auf Widersprüche stoßen, von Linksradikalen immer als »die anderen« gedacht werden, kam an diesem Wochenende mehrfach auf. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der bisherigen »Freiraum- und Eventpolitik« sowie »Radikalität im äußeren Erscheinungsbild« war von den Veranstaltern gewollt. Um ein Beispiel für Letzteres zu nennen, zeigte der Moderator der Abschlussdiskussion vor dem Bethanien auf ein Transparent, auf dem eine vermummte Gestalt einen Stein in der Hand hielt.
Ein Vertreter des Malaboca-Kollektivs aus Frankfurt am Main, das im Sommer 2015 Aktivisten sozialer Bewegungen in Südeuropa für eine Broschüre interviewt hatte, rief dazu auf, sich von alten Gewohnheiten zu verabschieden. Radikale Linke müssten verstärkt auf Menschen zugehen, die zum Beispiel am Arbeitsplatz oder als Mieter unter dem System leiden. Inhaltliche Abstriche sollten dabei nicht gemacht werden, stellte er klar, als die besorgte Frage kam, ob auf »Gender- und Homothemen« verzichtet werden solle, weil »die Proleten das nicht verstehen«. Nein, es solle nur anders kommuniziert und die Scheu abgelegt werden, mit Menschen zu reden, die nicht den gleichen Bezug dazu hätten, so der Malaboca-Aktivist. Mietenpolitische Initiativen wie das Bündnis »Zwangsräumung verhindern!« zählten ebenso zu den Unterstützern der Konferenz wie Antifa- und Erwerbslosengruppen.
»Warum diskreditieren wir uns selbst mit Begriffen wie ›Eventhopping‹?« fragte eine ältere Teilnehmerin der Abschlussdiskussion. Ein junger Mann pflichtete bei, auch die gemeinsame Fahrt zu einer Großdemo wie der geplanten gegen den G-20-Gipfel im Juli in Hamburg sei Basisarbeit. Andere wendeten ein, wer da mitfahre, sei in der Regel schon vorher stark politisiert. Basisarbeit bedeute, auch Menschen zu erreichen, die das bisher nicht täten.
»Wir müssen mehr werden«, sagte eine Sprecherin des »Kollektivs Bremen«, das vor knapp einem Jahr elf Thesen zur Neuausrichtung linksradikaler Politik vorgestellt hatte – »auch aus Eigeninteresse.« Es gehe nicht darum, Subkultur zu verteufeln, sondern darum, sich zu fragen, ob sie geeignet sei, um die Gesellschaft zu verändern.
Fragwürdige Erwartungshaltungen deutscher Aktivisten hatten selbst die Geflüchteten zu spüren bekommen, die von 2012 bis 2014 den Berliner Oranienplatz besetzt gehalten hatten – das war am Sonntag Thema in einem Workshop über deren Bewegung und die Rolle der Unterstützer. Nach Schilderung des türkischen Kommunisten Turgay Ulu hatten »Antideutsche« und »Antiimperialisten«, die zunächst als Unterstützer gekommen waren, versucht, die protestierenden Flüchtlinge in die Grabenkämpfe deutscher Linker hineinzuziehen. »Wir mussten ihnen sagen: Wir können da keine Seite wählen«, berichtete Ulu. »Wir wollen uns für unsere Rechte als Refugees, gegen Faschismus und Kolonialismus einsetzen.«
Quelle: Junge Welt