Ein halbes Jahrhundert nach seiner Ermordung in La Higuera, Bolivien, ist Ernesto „Che“ Guevara nach wie vor eine universelle politische Figur. Es gibt praktisch keine soziale Mobilisierung, wo das Gesicht des argentinisch-kubanischen Guerilleros nicht auf einem Banner auftaucht. Am 9. Oktober 1967, als er im bolivianischen Dschungel fiel, war er gerade einmal 39 Jahre alt. Wenige politische Persönlichkeiten haben die Zeitgeschichte in einer so kurzen Lebensspanne derart geprägt. Ein Grund dafür könnte sein ganzheitlicher Humanismus sein, glaubt seine Tochter Aleida Guevara. Die Kinderärztin lebt in Kuba, wo sie am 17. November 1960 als Älteste von vier Geschwistern geboren wurde – kaum zwei Jahre nach der kubanischen Revolution und nur vier Jahre, bevor ihr Vater zuerst in den Kongo, dann nach Bolivien in den internationalistischen Kampf zog. Amerika21.de hat Dr. Aleida Guevara bei einem kürzlichen Besuch in der Schweiz getroffen.
Was ist das Wichtigste, das Sie von Ihrem Vater geerbt haben?
Das ist ohne Zweifel seine Fähigkeit zu lieben. Obwohl ich noch sehr jung war, als er physisch aus meinem Leben verschwand, sah ich meinen Vater immer als einen kompletten Menschen. Nicht als Ikone oder als leeres Bildnis, sondern als einen liebenden Menschen. Diese spürbare Anwesenheit meines Vaters verdanken wir meiner Mutter. Sie ist eine außergewöhnliche Frau, die diese Liebe auf uns Kinder übertragen hat. Mein Vater war immer gegenwärtig. Er war immer „der Gute“ des Films. Wir mussten guterzogene Kinder sein, gute Schüler, denn wir liebten unseren Vater und wollten, dass er stolz auf uns ist. Meine Mutter hat es jedoch geschafft, dass wir dieses Gefühl verinnerlichten, ohne uns etwas aufzuzwingen, auf natürliche Weise.
Welches sind Ihre bewussten, realen Erinnerungen an Ihren Vater?
Als ich 16 Jahre alt war, gab mir meine Mutter einige handgeschriebene Seiten zu lesen, ohne mir zu sagen, wer der Autor war. Ich vertiefte mich in diesen Text, bis ich merkte, dass er ihn geschrieben hatte. Es waren Aufzeichnungen über seine erste Reise durch Lateinamerika. Es war sehr schön, diesen jungen Mann kennenzulernen, der mein Vater war und mir auf eine Weise sehr nahe war. Er war damals ein Junge in meinem Alter gewesen. Es war nicht der Mann, den ich kannte, weil ich wie alle kubanischen Kinder über ihn gelesen hatte, also der heldenhafte Guerillero, der Kommunist, der Staatsmann, der Anführer. Ich entdeckte in dem Text, wie er als junger Mann gewesen war. Das war eine wunderschöne Erfahrung!
Diese Fähigkeit zu lieben, die Sie als eine Tugend von Che hervorhoben – ist das ein Vermächtnis für die ganze Gesellschaft oder ist sie auf das familiäre Umfeld beschränkt?
Wir veröffentlichen alle seine Reden im Studienzentrum „Che Guevara“ in Havanna. Er hebt immer zwei Maximen hervor: das Lernen und die menschliche Sensibilität. Junge Menschen sollten sich mit der Natur beschäftigen um von ihr zu lernen, ohne sie zu verletzen. Wir können die Natur zwar kontrollieren, aber wir müssen sie respektieren. Und die Menschen müssen für alles sensibel sein, was in irgendeiner Ecke des Planeten passiert. Ohne diese Empfindsamkeit können sie nicht vollständige Menschen werden. Wir brauchen Menschen mit dieser Fähigkeit, um eine andere Welt aufzubauen. Wie könnten wir sonst einen kubanischen Arzt bitten, nach Afrika zu gehen, um beispielsweise Ebola zu bekämpfen? Mein Vater sagte: „Ihr könnt mich romantisch oder lächerlich finden, aber ich sage euch, dass der wahre Revolutionär von großen Gefühle der Liebe geleitet wird. Sonst kann er kein echter Revolutionär sein.“
Die internationalistische Haltung wird oft als ein zentraler Wert von Che beschrieben. War er in gewisser Weise ein Vorläufer der Globalisierungskritik?
Er sagte bei vielen Gelegenheiten, unser wichtigster Traum sei, dass es einem kongolesischen Menschen eines Tages nichts ausmachen würde, für die Unabhängigkeit eines asiatischen Landes zu sterben, und dass ein lateinamerikanischer Mensch auf europäischem Boden zu sterben bereit wäre, wenn es um die Verteidigung einer Sache geht. Wichtig ist, dass die Menschen diese Grenzen sprengen und als menschliche Spezies denken. Wir müssen akzeptieren, dass wir gegenseitig aufeinander angewiesen sind. Wir müssen gemeinsam vorankommen, trotz aller – insbesondere kulturellen – Unterschiede. Wir müssen die Notwendigkeit fühlen, uns gegenseitig als Menschen und Bewohner ein- und desselben Planeten anzuerkennen.
Diese weitgehende, universelle Vision, die Sie soeben umschrieben haben, ist eng mit dem Ziel des Neuen Menschen verbunden, der im Denken Ihres Vaters einen wichtigen Platz einnimmt.
Er hat das immer gesagt, wenn er über den Menschen im Sozialismus in Kuba sprach. Er wollte, dass die Menschen fähig sind zu fühlen, sensibel und solidarisch zu sein und andere Menschen zu respektieren. Und dass sie gleichzeitig in der Lage sind, alle Neuheiten und Vorteile der modernen Technik zu nutzen, ohne der Natur Schaden zuzufügen. Der Mensch soll imstande sein, für andere etwas zu erschaffen.
Was bleibt heute von diesem Projekt des Neuen Menschen?
Ich habe zum Beispiel junge argentinische Ärzte an der Lateinamerikanischen Schule für Medizin in Kuba kennen gelernt. Es sind wunderbare Männer und Frauen, die sich gegenseitig aufrichtig respektieren. Einige von ihnen machten nach vier Jahren erstmals Ferien in ihrem Heimatland. Sie landeten dort, luden ihre Koffer ab und machten sich auf, in abgelegenen indigenen Gemeinden zu arbeiten.
Oder die brasilianischen Jugendlichen der Landlosenbewegung (MST), mit der ich direkt zusammenarbeite: Sie versuchen, eine Agrarreform zu verwirklichen, ohne die sich die Bauern heute nicht ernähren können. Sie engagieren sich mit viel Hingabe, damit das Land von den Menschen und nicht von den multinationalen Unternehmen bebaut werden kann. Ich habe viele junge Bolivianer gesehen, die den Prozess mit Evo Morales unterstützen und sich um die Verbesserung der Lebensbedingungen bemühen. Oder die kolumbianischen Studierenden, die sich mit Bauern und Indigenen zusammentun und eine außergewöhnliche Bewegung darstellen. Oder die mexikanischen Männer und Frauen, die nicht schweigen, die weiterhin ihre verschwundenen Kinder suchen, die sich von der Angst nicht unterkriegen lassen und weitermachen.
Kürzlich besuchte ich für die Vorbereitung des Kongresses der Komitees zur Verteidigung der Revolution mehrere kubanische Provinzen. Es war wunderbar, junge Menschen im Alter von durchschnittlich 24 oder 25 Jahren zu treffen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie sind bereit, jeden Tag noch etwas mehr für ihr Land zu tun. Ich will auch die Solidaritäts-Aktivisten in Europa nicht vergessen. Sie sind immer da, strengen sich an und sind sich bewusst, was sie tun.
Was glauben Sie, wie wäre der Che heute, wenn er noch am Leben wäre: ein revolutionärer Arzt, ein überzeugter Umweltschützer, ein Globalisierungskritiker?
Das ist eine sehr schwierige Frage, da mein Vater ja nicht mehr hier ist. Aber so wie wir ihn kennen – und ich denke ich kenne ihn – kann ich versichern, dass (Mauricio) Macri in Argentinien nicht an der Regierung wäre. Denn wenn mein Vater noch am Leben wäre, wäre Argentinien sicher ein anderes Land. Er wollte von Bolivien aus weiter nach Argentinien. Und wenn er heute am Leben wäre, so hieße das, dass er gesiegt hätte. Er sagte immer, in einer wahren Revolution siegt man oder stirbt man. Wenn er noch am Leben wäre, hätte es viele tiefgreifende Veränderungen im südlichen Teil Lateinamerikas gegeben. Wir würden alle in einer anderen Welt leben.
Wer weiß, ob ich mich ihm später angeschlossen hätte, um ihm zu helfen. Woran ich nicht zweifle ist, dass er an der Seite unserer Völker stehen würde. Immer. Wenn er noch leben würde und seine Revolution noch nicht gesiegt hätte, würde er es weiter versuchen. Ich kann ihn mir nicht anders vorstellen.
Der Che und die kubanische Revolution sind zwei Seiten derselben Medaille. Wie sehen Sie die derzeitige Situation in Kuba?
Wir befinden uns in einer schwierigen Lage. Nicht nur wir, sondern die ganze Welt. Denn an der Spitze der USA steht ein Präsident, der über eine enorme Zerstörungsmacht verfügt, der unberechenbar und nicht vertrauenswürdig ist. Heute sagt er etwas, morgen das Gegenteil davon. Deshalb müssen wir auf alles vorbereitet sein. Kuba ist bereit, sein Volk ist entschlossen. Im Laufe der Geschichte haben wir etwas Wesentliches erkannt: Kuba kann nur überleben, wenn seine Revolution überlebt. Indem wir sie verbessern und perfektionieren. Ohne unseren sozialen Prozess würden wir sofort vom Erdboden verschwinden. Wir pflegen unsere sozialistische Gesellschaft, um zu leben und unseren Lebensstandard verbessern zu können. Natürlich ist das keine einfache Aufgabe. Zumal wir immer mit anderen Völkern solidarisch waren. Es ist klar, dass man nicht von einem Tag auf den anderen Wachstumssprünge verzeichnen kann, wenn man nach außen solidarisch teilt, was man hat. Ein deutliches Beispiel für das, was ich hier sage, sind die tausende kubanischen Ärzten, die in vielen Ländern völlig freiwillig als Internationalisten arbeiten.
Abschließend möchte ich Ihnen versichern, dass wir gelernt haben, auf diese Weise zu leben. Niemand hat uns je unsere Lebensfreude genommen. Das ist die beste Eigenschaft des kubanischen Volkes. Wir können auch über uns selbst lachen. Ein Volk, das über sich selbst lachen kann, ist praktisch unbesiegbar. Es gibt keine Möglichkeit, es zu beugen oder ihm seine Kraft zu nehmen.
Quelle: https://amerika21.de/analyse/186669/ernesto-che-guevara-todestag