Die Anwendung des Paragrafen 155 durch die spanische Regierung vor ca. 2 Wochen hat die Situation vor Ort sichtlich verschärft. Im Prinzip hat ein verdeckter Staatsstreich gegen die katalanische autonome Regierung stattgefunden, die vollkommen abgesetzt wurde. Kataloniens Regierung wurde durch Vertreter des spanischen Staates ersetzt. Das bedeutet, dass der katalanische Haushalt durch die PP Regierung Madrids kontrolliert wird (gleichzeitig wurde die Situation genutzt, um weitere Kürzungen im Sozialbereich durchzuführen).
Der Chef der katalanischen Polizei (Mossos d`Escuadra) wurde ausgetauscht, katalanische Beamte werden in ihrer Tätigkeit überwacht und nach wie vor befinden sich Einheiten der Guardia Civil und der Nationalpolizei für den Fall im Hafen von Barcelona, dass sie doch noch gegen Militante eingesetzt werden müssen.
Jordi Cuixart und Jordi Sanchez befinden sich immer noch in Haft und vor einigen Tagen wurden weitere acht Abgeordnete der katalanischen Regierung, wie auch der Vorsitzende der ERC Oriol Junqueras inhaftiert.
Kurz vor Anwendung des Paragrafen 155 waren Puigdemont und mit ihm vier seiner Abgeordneten nach Brüssel gereist, wo sie sich bis heute aufhalten. Laut Puigdemont handelt es sich dabei nicht um eine Flucht aus Angst vor Repression oder sogar um politisches Asyl, sondern um eine politische Handlung, die die katalanische Sache in das Herz Europas tragen und somit Europa unter Druck setzen soll, sich gegenüber der spanischen Regierung für die Unabhängigkeitsbefürworter einzusetzen, denen in Spanien hohe Haftstrafen bevorstehen können,
Den Inhaftierten wird Veruntreuung von staatlichen Geldern bzgl des Referendums vorgeworfen und Verstoß gegen die Verfassung, die ein Referendum verbietet. Diese Straftaten können bis zu 30 Jahren Haft bedeuten.
Politisches Chaos.
Puigdemont und seine Regierung hatten nach dem Referendum eine Politik der Spannungsspirale mit Madrid vorangetrieben. Täglich wurde die Proklamation der einseitigen Unabhängigkeit (DUI) erwartet, im Gegenzug dazu drohte Madrid mit Einsatz des 155 Paragrafen und der damit eintretenden Entmachtung der katalanischen Regierung ( Generalitat), wenn es zu dieser DUI kommen sollte. Am 26.10.2017 kam es dann zum Showdown, als Puigdemont angeblich die DUI ausrief (was er dann wohl doch nicht tat, die Formulierung war so geschickt gewählt, dass niemand richtig verstand, was er meinte). Madrid forderte eine klare Distanzierung von der DUI als Voraussetzung des Nichteinsetzens des 155 und die Ausrufung von Wahlen in Katalonien. Diese Distanzierung kam nicht und damit wurde der Repressionsapparat in Gang gesetzt: 155 und die neuen Verhaftungen.
Aufgrund der neuen Verhaftungen vor einigen Tagen kam es dann am 08.11.2017 erneut zu einem “Generalstreik”, zu dem vor allem die kleine katalanische, der Unabhängigkeitsbewegung nahestehende, Gewerkschaft Intersindical CSC, die Lehrer_Innengewerkschaft USTEC und die Bauerngewerkschaft Uniò de pagesos aufgerufen bzw sich beteiligt hatte. Der grosse Unterschied zu dem Generalstreik vom 03.10., an dem sich nach der massiven Repression der spanischen Regierung durch den Einsatz der Guardia Civil und Nationalpolizei Tausende auch aus nicht Unabhängigkeitskreisen beteiligt hatten und die Stadt in gewisser Weise lahmlegte, wurde dieser Streik fast ausschliesslich vom Spektrum der Unabhängigkeitsbefürworter_Innen getragen. So wurden Barcelonas Ausfahrtstraßen in den frühen Morgenstunden von Mitgliedern der gegründeten Kommittees zur Verteidigung der Republik blockiert ( Staus von bis zu 36km). In Girona und auch in Barcelona wurden von meist jungen Leuten die wichtigsten Bahnhöfe besetzt, so dass der Hochgeschwindigkeitszug AVE nicht nach Frankreich reisen konnte.
Dass dieser Streik im Prinzip nur mit Menschen aus den eigenen Reihen stattfand, und, wie die Zahlen belegen, auch nicht von allen getragen wurde, zeigt den derzeitigen Stand der Bewegung. Viele, die unter prekären Arbeitsverhältnissen leben, können es sich nicht leisten zu streiken, wollen sie nicht ihren Job riskieren. ( Mercadonna/ Supermarkt: “wer streikt, braucht am Tag darauf nicht wiederzukommen”, 60% der Arbeitsverhältnisse sind prekär), Uniseminare und -examen bringen die Studenten_Innen zurück in die Hörsäale, denn das Studium kostet Geld. Katalonien hat eine der höchsten Studiengebühren in Spanien.……somit wird die Bewegung kleiner. Ausserdem verbreitet sich immer mehr die Frage, was soll das jetzt noch werden? Die Frage, warum wurde so viel riskiert (10 Verhaftete, denen neben hohen Geldstrafen auch hohe Haftstrafen drohen, Aussetzen der katalanischen Autonomie, Rechtsruck in ganz Spanien), wenn jetzt doch die von der Rajoyregierung anberaumten Wahlen akzeptiert werden? Warum wurde nicht vorher schon dieser Weg als Ausweg gewählt, um all das zu verhindern, was jetzt zu erwarten ist.
M.E. war es genau das, was gewollt wurde. Die Spirale der Spannung erhöhen, die Menschen täglich neu hinhalten, Entscheidungen rauszögern, Martyrer schaffen, damit die Bewegung wächst, sich solidarisiert. Konnten sie wirklich so naiv sein zu glauben, dass die spanische Regierung sie machen lässt? Konnten sie so naiv sein zu glauben, dass die dominanten Staaten Europas ihnen beistehen,? Wo bleibt die Erinnerung an Griechenland?
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung steckt in einer Krise, auch wenn sie es anders verkaufen. Viele der Mitläufer_Innen haben sich zurück gezogen, oder sind ins Nachdenken gekommen. Unsicherheit, aber auch Enttäuschung, über das nicht Einhalten der Versprechungen der katalanischen Regierungsvertreter_Innen, über die Lügen, dass sich ökonomisch nichts verschlechtern wird, obwohl Firmen damit drohen abzuwandern und ihren Steuersitz zu verlegen, (die spanische Regierung nutzt das natürlich aus und erlässt ein Gesetz, dass dies schnellst ermöglicht), dass alles friedlich bleiben wird, Feststimmung sollte verbreitet werden, der Morgen, danach kein Thema.
Ist das Ganze jetzt nur ein katalanisches Problem? Was ist mit dem Restspanien?
Wenn auch nur ein Teil der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung und Regierung wirklich geglaubt haben sollte, durch ihre Erklärung der DUI und ihrer Strategie des “Aufstandes gegen den spanischen Staat”, auch den Rest Spaniens gegen die spanische Regierung und ihre Repression zu mobilisieren, dann ist diese Strategie mehr als gescheitert und dies auch hinsichtlich der Tatsache, dass nicht einmal die Mehrheit der katalanischen Bevölkerung eine Unabhängigkeit will. Hinzu kommt eine naive Einschätzung dem spanischen Staates gegenüber, der das dann zulassen würde (friedlich, denn die Katalanisten_Innen wollen keine Gewalt. Das wurde während des Referendums und auch jetzt immer wieder den Massen gesagt: bleibt friedlich).
Die Rajoyregierung hat gerade in den letzten Wochen ihre enorme Stärke gezeigt und auch wozu sie bereit ist und auf welche Kräfte sie zurück greifen kann. Die Rechte Spaniens (einschliesslich rechtsradikaler Gruppen wie Hogar Social und neofaschistische Gruppierungen) wartete nur darauf. Sie steht in den Startlöchern und ist so stark mobilisiert und entschlossen wie seit Ende der Francodiktatur nicht mehr und das in ganz Spanien. Für die PP kann auch der Konflikt mit Katalonien zeitlich nicht besser laufen. Gerade werden die Urteile des größten Korruptionsskandals der Geschichte Spaniens “Gürtel” erwartet. Aber alles schaut auf Katalonien oder Puigdemont in Brüssel, der lächelnd in die Kamera blickt.
Nicht zu vernachlässigen ist auch der Hass, der sich zwischen den beiden Lagern sowohl innerhalb Kataloniens als auch ausserhalb der Region entwickelt hat. Hasstriaden gegen Katalanen per se, ob sie für oder gegen die Unabhängigkeit sind, sind an der Tagesordnung. Es wird schwer sein, diese Fronten wieder aufzubrechen….. Desto mehr wundern die entspannten und zum Teil lachenden Gesichter der Verhafteten aus den Gefängnissen, wie anderntags von Oriol Junqueras. Aber, wenn wir genau hinschauen, wissen wir warum. Er hat sein Ziel erreicht. Bei den Wahlen, so die Prognosen, wird die ERC als Sieger hervorgehen. Die ERC hat nur Katalonien im Blick, was stört sie da der Rechtsrutsch im übrigen Land so scheint es ( siehe auch das Misstrauensvotom gegen Rajoy im Parlament, das sie nicht mit unterstützt haben). Die Partei von Puigdemont, die PdeCat, dagegen ist auf dem absteigenden Ast. Nicht nur Flügelkämpfe schwächen sie, sondern auch ihre Wackelpolitik und Uneindeutigkeit. Laut Aussagen der Verhafteten vor dem Nationalgericht in Madrid, hätten sie nie wirklich die Unabhängigkeit verkündet, alles sei nur symbolisch gewesen. Das hatten die Massen vor dem Parlament aber anders verstanden, als sie nach der besagten Verkündung im Festrausch die Nacht durchfeierten. Die CUP hat sich bisher wenig geäußert. Aber ihr Standpunkt scheint unverändert. Unabhängigkeit, dazwischen gibt es nichts.
Vor 3 Tagen hat der Finanzminister Spaniens in den Haushalt der linken Stadtregieurng Madrids eingegriffen. Auch diese linke Stadtregierung unter Manuela Carmena ist der PP Regierung ein Dorn im Auge…..Sollte der 155 in Katalonien erst der Anfang sein?
A.I.
Barcelona, 11.11.2017
Verfasst für Freiesicht.org