Hier geht es aber keinesfalls um zukünftige Entwicklungen, sondern bereits jetzt schaffen die Unternehmen in den Betrieben Fakten. Denn bei aller Unklarheit über die konkreten Auswirkungen der digitalen Arbeit ist bereits jetzt klar, dass die neue Technik das Verhältnis von Arbeit und Freizeit radikal verändert. Cloudworking ermöglicht ein Arbeiten unabhängig von Zeit und Raum. Und hier gilt eine Logik moderner Technik, die bei fehlender gesellschaftlicher Grenzsetzung bedeutsam ist: was möglich ist, wird auch getan.
Die Klagen in den Betrieben über die ständige Erreichbarkeit werden größer – durch Smartphones oder Notebooks ist Arbeit nicht mehr zwangsläufig an feste Zeiten gebunden. „Mit dem Bearbeiten von beruflichen E-Mails von zu Hause, in der Bahn, im Bus, in Hotelzimmern, in Cafés, auf Dienstreise, nach Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub hat sich Arbeiten ‚immer‘ und ‚überall‘ als Normalzustand etabliert“, betont Tanja Carstensen, Soziologin von der TU Hamburg-Harburg (siehe Hans-Böckler-Stiftung: Arbeitsschutz hinkt beim Einsatz mobiler und digitaler Technologien hinterher). Es wird außerhalb der tariflichen Regelarbeitstage gearbeitet, an Sonntagen, über 10 Stunden hinaus oder die 11-stündige Ruhezeit nicht eingehalten. Diese Verstösse gegen das Arbeitszeitgesetz bleiben folgenlos, werden von den zuständigen Aufsichtsbehörden kaum dokumentiert oder sanktioniert.
In vielen Publikationen zu Industrie 4.0 ist von Flexibilität der Arbeitnehmer die Rede. Produktion „on Demand“ ist ein wichtiges Schlagwort der digitalen Arbeit – für die Belegschaft heißt dies, direkt nach Kundenauftrag zu produzieren. Es wird also erhöhten Zeitdruck geben.
„Mit der Gestaltung cyber-physischer Systeme eng verbunden ist das Ziel, die Flexibilität in Bezug auf Kundenerwartungen und -wünsche zu erhöhen. Das setzt neben flexibler Technik voraus, dass sowohl die Betriebs- als auch die Arbeitszeit flexibel bezüglich der Kapazitätsbedarfe ist“, formuliert Klaus-Detlev Becker, Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (zitiert nach Alfons Botthof/Ernst A. Hartmann, Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0, Seite 26).
Stärkere Schwankungen in der Produktion sollen durch Industrie 4.0 besser bewältigt werden. „Das heißt, es geht nicht mehr nur um die Flexibilität in den acht Stunden Arbeit, die wir so gewohnt sind, sondern darüber hinaus“, fordert Professor Dieter Spath, langjähriger Leiter des Fraunhofer IAO, der 2013 als Vorstandsvorsitzender zur Wittenstein AG wechselte (siehe Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO): Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0, Studie, Seite 71).
Es soll also erhöhten Zeitdruck für die Belegschaften geben.
Stefan Ferber von Bosch benennt klare Forderungen aus Unternehmenssicht: „Was bringt es mir, wenn ich eine Fabrik habe, die mir bei 98 Prozent Auslastung den besten Profit bringt, und ich überhaupt nicht vorhersagen kann, was im nächsten Monat verkauft werden wird.“ Man müsse Fabriken bauen, die die Schwankungen bewältigen und zwar „in Echtzeit“. „Industrie 4.0 sollte man hier als Chance sehen.“ (siehe Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO): Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0, Studie, Seite 69).
Die Forderungen nach flexiblen Einsatz der Arbeitskräfte klingen stark nach einem Modell, das aus dem Einzelhandel bekannt ist: „Arbeit auf Abruf“, wie es der Gesetzgeber nennt. Je nach Bedarf des Unternehmens legt der Arbeitgeber fest, wann und mit welcher Stundenzahl der Arbeitnehmer zu arbeiten hat. Nicht selten schwankt auch das Einkommen der Beschäftigten je nach Umfang der geleisteten Stunden.
Staatlich gefördert: Ständige Erreichbarkeit
Der Staat ist hier keinesfalls neutral: Ein Forschungsauftrag des Bundesforschungsministeriums fordert – im Sinne einer Industrie 4.0 – „Selbstorganisierte Kapazitätsflexibilität in Cyber-Physical Systems“. Unter dem Motto „Smartphone statt Stechuhr“ führt das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation das Projekt „KapaflexCy“ durch. Als Ziel benennen die Wissenschaftler: „Starre Anwesenheitszeiten von 7-16 Uhr sind Relikte der Vergangenheit.
Zukünftig stimmen Arbeitsgruppen ihre Einsatzzeiten per Smartphone ab. Eigenverantwortlich, kurzfristig, flexibel. Gearbeitet wird nach Bedarf – genau dann, wenn der Kunde ordert. Das Forschungsprojekt »KapaflexCy« löst die übliche »pauschale« Personalflexibilität ab. Als Beitrag zum Zukunftsprojekt «Industrie 4.0« der Bundesregierung entwickeln wir vorausschauende Strategien und smarte Assistenten für die flexible Produktionsarbeit der Zukunft“ (siehe http://www.kapaflexcy.de).
Ein betriebliches Beispiel verdeutlicht, wie schnell diese Entwicklung Nachteile für Arbeitnehmer haben kann. Statt wie bisher der Außendienst- und Verwaltungsbereich wurden im Betrieb Arbeiter mit Smartphones auf Firmenkosten ausgestattet. Die Begeisterung der Beschäftigten war groß, nachdem der Werksleiter verkündete, diese Geräte könnten auch privat genutzt werden. Als dann die Meister diese jedoch öfters am Wochenende oder im Urlaub für betriebliche Kommunikation mit Mitarbeitern ihres Teams nutzten und verkündet wurde, die Arbeiter könnten jetzt über „WhatsApp-Gruppen“ die Vertretung für Wochenendschichten untereinander „freiwillig“ nutzen, wurden die Probleme sichtbar. Der Betriebsrat griff in diesem Fall regelnd ein. Das Beispiel zeigt aber, dass Probleme der ständigen Erreichbarkeit zukünftig nicht auf den Dienstleistungsbereich begrenzt bleiben. Auch im Industriebereich wird es zum Handlungsfeld für Betriebsräte.
Aber das reicht den Unternehmen nicht aus
Ein Positionspapier von Unternehmemslobbyisten spricht eine deutliche Sprache: Digitalisierung zur Deregulierung nutzen – das scheint die Strategie der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) zu sein. Durch Technikeinsatz verändern sich Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen. Im Positionspapier „Chancen der Digitalisierung nutzen“ erhebt der BDA klare Forderungen. „Befristung und Zeitarbeit dürfen daher nicht durch neue Belastungen begrenzt werden. Zeitarbeit und insbesondere die sachgrundlose Befristung müssen auch künftig für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ohne neue Beschränkungen zur Verfügung stehen.“ Die Mitbestimmung müsse sich dem Tempo der Digitalisierung anpassen: Hier müssten „Verzögerungspotenziale abgebaut, bestehende Regelungen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden“ (siehe www.arbeitgeber.de/www%5Carbeitgeber.nsf/res/Rede-IK-Digitalisierung-von-Wirtschaft-und-Arbeitswelt.pdf/$file/Rede-IK-Digitalisierung-von-Wirtschaft-und-Arbeitswelt.pdf).
Auch die Abschaffung des Acht-Stunden-Tages und der täglichen Höchstarbeitszeit von zehn Stunden wird gefordert: „Um hier mehr Spielräume zu schaffen und betriebliche Notwendigkeiten abzubilden, sollte das Arbeitszeitgesetz deshalb von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit umgestellt werden“. Die gewerkschaftliche Forderung nach einer Anti-Stress-Verordnung wird im BDA-Papier deutlich zurückgewiesen. Denn eine Regulierung zur Stressvermeidung würde „keinen zusätzlichen Nutzen bringen, sondern nur mehr Bürokratie“.
Wer sich den Wahlkampf der FDP verfolgt hat, weiß: in den Koalitionsverhandlungen zu neuen Bundesregierung wird dies eine große Rolle spielen.
Diese Beispiele machen deutlich: Es fehlt eine Diskussion, wie soll neue Technik eingesetzt werden. Eine gesellschaftliche Debatte dazu wollen die Unternehmen vermeiden. Sie schieben gerne Sachzwang-Argumente vor – dabei geht es um die Gestaltungmöglichkeiten der digitalen Arbeitswelt. Und um die Arbeit der Zukunft.
Dazu gehören auch Fragen der Arbeitszeit. Die Arbeitszeit ist immer ein hart umkämpftes Thema im Betrieb, ob bei Tarifverhandlungen oder bei Regelungen in Betriebsvereinbarungen – so wird es auch bei der digitalen Arbeit sein.