Skandalöser ungarischer Asylbescheid
Der 19jährige Kurde Diyar M. ist aus der Türkei geflüchtet, weil seine Heimatstadt Nusaybin von der türkischen Armee völlig zerstört worden ist. Einige seiner Freunde und sein Onkel sind gefallen. Er selbst hat in der kurdischen Zivilverteidigungseinheit (YPS) gekämpft, bis es aussichtslos wurde. Dann versuchte er, zu seinem Onkel nach Deutschland zu kommen.
Von den Ungarn aufgegriffen, gab er einen falschen Namen und ein falsches Herkunftsland (Syrien) an; klar, denn er wollte ja nicht in Ungarn bleiben. Die Deutschen wiesen ihn nach Österreich zurück. Er lebte sodann in Innsbruck, wo er das Abendgymnasium besuchte und sich um eine Lehrstelle bewarb. Er war, wie es so schön heißt, gut integriert…
Wenige Tage vor Ablauf der Sechsmonatsfrist schob Österreich ihn nach Ungarn ab. Zwar hatte die Diakonie eine Dublin-Beschwerde eingebracht, aber das Bundesverwaltungsgericht (Mag. Benda) hatte die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt.
In Ungarn wurde er sofort verhaftet. Begründung: Er habe sich dem Verfahren entzogen und eine falsche Identität angegeben. Er sitzt seither im Gefängnis in Békéscsaba.
Erst nach seiner Abschiebung erfuhr ich von ihm; österreichische FreundInnen trugen den Fall an mich heran. Ich stellte den Kontakt zum Ungarischen Helsinki-Komitee her, das eine Rechtsanwältin mit seiner Vertretung beauftragte.
Diyar wurde von der ungarischen Asylbehörde zu seinen Fluchtgründen befragt und schilderte (auf meinen Rat hin) seine Fluchtgründe detailreich und wahrheitsgetreu.
Die ungarische Behörde wies seinen Antrag mit skandalösen Begründungen ab.
Zunächst warf sie Niyar vor, er habe behauptet, Syrer zu sein. Weiters habe er nach seiner Überstellung aus Österreich nur angegeben, er werde als Kurde verfolgt und seine Stadt Nusaybin sei zerstört worden. Seine Mitgliedschaft in der Verteidigungseinheit habe er erst beim zweiten ausführlichen Interview angegeben.
Dieses Verbot eines „gesteigerten Vorbringens“ ist ein skandalöses Asylhindernis, das auch österreichische Behörden permanent anwenden, sodaß es den Geflüchteten oft unmöglich gemacht wird, den wahren Sachverhalt vorzubringen. Aber es kommt noch „besser“:
Die Türkei, so steht es allen Ernstes im ungarischen Bescheid, gelte „als sicherer Herkunfts- und Drittstaat“. Die Kurden würden zwar diskriminiert, aber nicht im Ausmaß einer Verfolgung oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung! Die Lage der Kurden in der Türkei habe sich „in den letzten Jahren wesentlich verbessert. (…) Die türkische Regierung trifft fortlaufend Maßnahmen zur Verminderung der früher sehr starken Diskriminierung gegenüber den Kurden“.
Es könne „festgestellt werden, daß es in der Gemeinde Nusaybin, dem Wohnsitz des Antragstellers in der Türkei, keinen bewaffneten Konflikt eines solchen Grades gibt, aufgrund dessen er die Konsequenzen einer willkürlichen Gewalt fürchten müßte, oder das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der Zivilbevölkerung dem Risiko einer schweren Bedrohung ausgesetzt wäre.“
Es gehört einiges an Dreistigkeit und Zynismus dazu, um so etwas zu behaupten. In Nusaybin wurden (den Berichten weiter unten zufolge) über 8000 Gebäude systematisch zerstört, die Stadt wurde mit Kampfjets bombardiert, 496 angebliche „Terroristen“ wurden getötet, am 31. Mai 2016 wurden 20 Zivilisten massakriert.
Die kurdische Bürgermeisterin berichtete, die Versorgung der noch verbliebenen Bevölkerung sei sehr problematisch, da keine neuen Lebensmittel in die Stadt kämen und die Vorräte aufgebraucht seien. Menschen seien vor ihrer Haustür ermordet worden, Häuser über ihrem Kopf zerstört worden. Leichen lägen auf der Straße. Man befürchtet, die ganze Stadt könnte abgerissen werden, um nach der Vertreibung der kurdischen Bevölkerung Neubauten für wohlhabende Türken Platz zu machen.
Diyar droht also die Deportation in die Türkei. Er gegen diesen skandalösen Bescheid hat mit Hilfe seiner Anwältin vom Helsinki-Komitee Beschwerde erhoben. Seit Montag, 13. März 2017, befindet er sich mit 93 anderen in Békéscsaba inhaftierten Flüchtlingen im Hungerstreik.
Jetzt schon halten wir fest, daß die österreichischen und ungarischen Asylbehörden, traut vereint, im Fall Diyar die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention gebrochen und eine Kettenabschiebung ins Verfolgerland in Gang gesetzt haben. Wir werden weiter berichten.
Michael Genner
Obmann von Asyl in Not
14. März 2017
Quelle:
http://www.asyl-in-not.org/php/portal.php