Die Ergeinisse überschlagen sich, werden tagtäglich dramatischer und eine Lösung scheint immer weiter entfernt. Gestern (16.10.) wurden die beiden Vorsitzenden der wichtigsten Organisationen der Unabhängigkeitsbewegung verhaftet: Jordi Sànchez (ANC – Nationalversammlung Kataloniens, gegründet 2011) und Jordi Cuixart (Omnium – Kulturverein Kataloniens, gegründet 1961). Trotzdem scheint “El process”, der Prozess der Unabhängigkeit Kataloniens, nicht mehr gestoppt werden zu können.
Den Auftakt der Dramaturgie bildete zweifelsohne das Referendum am 01.10.2017. Als die Bilder der von der Rajoyregierung befohlenen brutalen Polizeieinsätze um die Welt gingen, wurde auch ausserhalb Kataloniens und Spaniens klar, dass dieser Konflikt mehr ist, als ein kurzfristiges Medienspektakel.
Unter dem Motto: “wir wollen wählen, um frei zu sein” und “mehr Demokratie”, gingen 2,3 Mio von den mehr als 5 Mio Wahlberechtigten in Katalonien in die Wahllokale, wo sie zum Teil brutalst von der Guardia Civil (Erinnerungen an die Franco Diktatur wurden wach) und der Nationalpolizei zusammen geschlagen wurden. Man spricht von 600 bis zu 900 Verletzten.
Die Rajoyregierung hatte im Vorfeld zwar die unkluge Variante verkündet, ein Referendum würde nicht stattfinden, aber die Realität zeigte dann, dass es Urnen und Wahllokale gab und vor allem entschlossene Menschen, die wählen wollten. Der Wahlzettel lautete: “Bist du für eine Republik Kataloniens, ja oder nein”. Inhalte, wie diese neue Republik gestaltet werden soll, wurden vielleicht intern, aber wenig öffentlich plausibel gemacht. Versprechungen angekündigt, aber nicht der Weg, wie man diese umsetzen würde. Das verunsicherte viele, ließ anfänglich das Referendum als absurd erscheinen und viele gingen von einer Niederlage aus. Umfragen im Vorfeld ergaben, dass mehr als 50% der Bevölkerung gegen eine Unabhängigkeit waren, und dass die Hauptträger der Unabhängigkeit nicht die katalanische Arbeiterklasse, sondern eher die katalanische Mittel- bzw Oberklasse ist. Da von einer Niederlage im Referendum die Rede war, erschien es absurd, dass die spanische Zentralregierung, das Referendum verbot, da dadurch der Widerstand von Seiten der Befürworter vorprogrammiert war.
Und so war es dann auch. Das Verbot, der Zentralstaat berief sich dabei auf die postfrancistische Verfassung von 1978, die ein Referendum verbietet, führte die Menschen zu den Urnen. Auch viele der Gegner_Innen der Unabhängigkeitsbewegung riefen nun zum Referendum auf, wie auch die Stadtregierung unter Ada Colau und Podemos, um so ihr Recht auf Entscheidung/ Selbstbestimmung ausdrücken zu können. Ada Colau wählte ungültig und erklärte das öffentlich.
Damit war das Terrain eröffnet. Nach dem Referendum und mit Zunahme der Repression gingen immer mehr Menschen in den darauf folgenden Tagen aus Wut über die Vorkommnisse auf die Straße. Dies wiederum ließ den Eindruck entstehen, als wären alle für die Unabhängigkeit. Schuld daran trägt auch die Presse, besonders das katalanische Fernsehen, bezahlt von der katalanischen Regierung, die sehr einseitig berichtete. Kritiker_Innen der Bewegung wurden automatisch mit dem Zentralstaat in eine Linie gestellt und viele mundtot gemacht oder wagten sich nicht mehr öffentlich zu äussern.
Was treibt die Menschen dazu, jetzt so vehement auf die Straße zu gehen?
Katalonien, wie auch Spanien selbst, befindet sich in einer politischen, sozialen und ökonomischen Krise, die wenig Hoffnung auf Verbesserung verspricht. Hohe Arbeitslosigkeit, besonders unter Jugendlichen (50% und mehr), prekäre Arbeitsverhältnisse, ansteigende Zahl von Zwangsräumungen aus ihren Mietwohnungen (43 pro Tag in Katalonien). Immer mehr Menschen, die von Depressionen geplagt werden (25% der Artzbesuche) und zu Psychofarmaka greifen ( 50% mehr als 2015).
Angesichts dieses Dramas fällt es nicht schwer, die Wut und Ablehnung gegenüber der Zentralregierung zu verstehen, die nicht nur die neoliberale Poltik der Verelendung vorantreibt, sondern auch noch durch ihre unendlichen Korruptionskandale hervorsticht und ein Sammelbecken postfrancistische Nationalisten darstellt. Viele glauben, die Massen hinter sich, der Moment sei gekommen für einen Neuanfang, um die Zentralregierung abzuschütteln und durch die Unabhängigkeit Kataloniens “frei” zu sein. Selbst einige antinationale Linke sehen den jetzigen Prozess mit Sympatie und Hoffnung, aus dem etwas Positives entstehen könnte, da es sich um eine Massenbewegung von unten, des Volkes handele, die für mehr Selbstbestimmung und mehr Demokratie und gegen den spanischen Zentralismus gerichtet sei. Was dabei übersehen wird, ist die Rolle, die die katalanistischen konservativen und neoliberalen Kräfte und Parteien (ERC, PdeCAT) darin spielen, die schon seit vielen Jahren einen „Katalanisierungsprozess“ mit dem bewusst angestrebtem Ziel der nationalen Unabhängikeit vorangetrieben haben, der allerdings nie über 20% hinaus kam. Teil dieses Prozesses war auch immer die Spaltung in „Katalanen“ und „Spaniern“ und die Propaganda, dass sich Spanien nicht verändern ließe. Hierzu passt, dass beim Misstrauensvotum gegen Rajoy im Juni 2017 mi Parlament, u.a. auch die katalanische Unabhängigkeitspartei ERC gegen den Antrag von Unidos Podemos stimmte.
Eine weitere Propaganda der Befürworter_Innen des Katalanismus ist, dass die alleinige Schuld an der zunehmenden Misere der Gesellschaft der Zentralstaat in Madrid hat, der die Krise den autonomen Regionen, wie auch Katalonien, durch Kürzungen aufbürdet. Diese Propaganda hat die katalanische Regierung immer als Opfer dargestellt und somit konnte von ihrer eigenen neoliberalen politischen Anschauung und Praxis abgelenkt werden.
Die CUP, ein antikapitalistisches Wahlbündnis, und an der Regierung als das Zünglein an der Waage beteiligt, hat zwar immer wieder auf ihre antirassistische, feministische und soziale Anschauung hingewiesen, aber wie sie diese mit ihrem Stimmenanteil von 8.5% in der neuen Gesellschaft durchsetzen wollen, auch nicht erklärt. Sie sind es jetzt, die den Druck auf die katalanische Regierung und Puigdemont verstärken und eine einseitige Unabhängigkeit fordern, der jedoch äussert sich ungenau, um Zeit zu gewinnen, denn eigentlich hat er die Hoffnung auf Dialog wohl doch noch nicht aufgegeben oder sagt das zumindest. Der erhoffte Dialog wird aber von der Zentralregierung abgelehnt, solange Puigdemont sich nicht eindeutig gegen die Unabhängigkeit ausspricht.
Was könnte ein unabhängiges Katalonien bedeuten?
Der Aussage der katalanischen Regierung, dass es auch nach einer Unabhängigkeit an Investoren nicht fehlen wird, steht gegenüber, dass bereits 691 Firmen (laut diario.es) ihren Steuer-Sitz nach ausserhalb Kataloniens verlegt haben. Prognosen internationaler Wirtschaftsinstitute sagen Katalonien eine weitere und tiefere Krise voraus. Wer in diesem Kontext die Sozialausgaben und Renten bezahlen soll, ist ebenfalls nicht geklärt. In Katalonien gibt es 1,7 Mio Rentner_Innen, die im Durchschnitt 957,00€/Monat beziehen. Dafür müsste der neue katalanische Staat allein 4,7 Mio€ aufbringen. Hinzu kommt, dass Spanien dafür sorgen wird, dass Katalonien aus der EU ausgeschlossen wird und damit auch den Euro verliert. Für die Mehrheit der Bevölkerung wird ein unabhängiges Katalonien die Misere verschärfen an der sie sowieso schon schwer tragen.
Augenblickliches Fazit
Die Schraube der Repression wird mit Sicherheit weiter angezogen, die Verhaftungen heute, die vorausgegangenen Hausdruchsuchungen, Beschlagnahmungen, Kriminalisierungen zeigen, wie die postfrancistische PPRegierung gestrickt ist und welche Absicht sie verfolgen: Repression und Kriminalisierung, um ihren Nationalismus durchzusetzen.
Die Spirale der Gewalt von Seiten der Regierung Rajoy wird wiederum mehr Anhänger in die Arme der katalanischen Unabhängigkeitsbewürworter_Innen treiben und damit die These unterstützen: der spanische Staat ist nicht veränderbar, wir müssen gehen!
Die Ankündigung der Unabhängigkeit im Schnellverfahren, hat eine Situation herbeigeführt, die völlig ausblendet, dass mehr als 50% der Bevölkerung gegen die Unabhängigkeit ist.
Der Paragraph 155 ( Absetzung der katalanischen Regierung durch den Zentralstaat) steht im Raum und kann jederzeit angewendet werden und dem Prozess mit Gewalt ein Ende setzen. Ob sich die vielen auf der Straße davon einschüchtern lassen, ist im Moment offen, ebenso, ob es zu einer Radikalisierung des Widerstandes kommen wird und Barrikaden gebaut werden und ob die Menschen die Ausdauer mitbringen, die für die Erkämpfung einer Unabhängigkeit notwendig ist.
Im Augenblick starrt alles auf den Prozess, alles andere ist nebensächlich. Heute waren allein in Barcelonas Altstadt 10 Zwangsräumungen anberaumt, die wenig Interesse fanden, verhindert zu werden. Der Prozess bindet alle Kräfte. Gut für die Herrschenden.
A.I.
Barcelona, 17.10.2017