Jedes Mal wenn ein Attentat mit LKW, Auto, Messer, Axt verübt wird, geht die Diskussion von vorn los: Verschärfung der Abschiebungen, Verstärkung von Sicherheitskräften und Erhöhung der Überwachung… Das immer gleiche Gerede. Die Sicherheitsbehörden beschreiben den Täter als „normaler Mensch“, „keine Auffälligkeiten“, „keine Verbindungen zu terroristischen/islamistischen Organisationen“, „keine sichtbaren Zeichen von Radikalisierung“,
Es ist alles viel komplizierter. Natürlich sind Selbstmordattentate ein furchtbares Unrecht! Wir sind aber nicht nur schockiert, traurig und wütend wegen der Attentate, wir haben auch die Schnauze voll von der simplen, unqualifizierten Berichterstattung der Medien hinterher.
Kann es sein, dass wir es sind, die durch unsere Haltung, unsere Gesetze, unsere Habgier, unseren Reichtum Geflüchtete radikalisieren? Was treibt einen Menschen dazu andere Menschen zu töten, sein eigenes Leben aufzugeben?
Als Geflüchteter ist man vom ersten Tag an rassistischen Äußerungen/Handlungen ausgesetzt, Gesetzen, die Geflüchtete pauschal als Verdächtige, als Schmarotzer, als „Wirtschaftsflüchtlinge“ diskriminieren. Geflüchtete werden mit anderen Geflüchteten, die sie nicht kennen, aus anderen Ländern (mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Religionen, soziale Schichten) in Unterkünften zusammen gesperrt. Es entsteht eine Art Ghetto im Ghetto.
Aber das Schlimmste ist für den Geflüchteten die Ungewissheit darüber ob er bleiben kann oder ob er irgendwann abgeschoben wird. Und wenn er abgeschoben wird, ist die Frage wohin? Wenn er seine Herkunft verschwiegen hat, um seine Chance auf Anerkennung zu verbessern, dann besteht das Risiko in ein fremdes Land abgeschoben zu werden.
Die Gründe, warum ein Mensch seine Heimat verlässt sind unterschiedlich. Und die Schuld des Westens an den Missständen in vielen Ländern ist nicht zu leugnen. Über die „Bekämpfung von Fluchtursachen“ wird seitens der Politik viel geredet, aber es geschieht nichts oder noch schlimmer, es werden verlogene Resolutionen wie erst kürzlich “G20 Africa Compact“ beschlossen – weitere Profitmöglichkeiten für den Westen – keine nachhaltige Entwicklungshilfe für die Menschen in den jeweiligen Ländern.
Zurück zu den Attentaten: Wie kann es sein, dass ein junger Mensch die Entscheidung trifft sich das Leben zu nehmen? Hätten wir es überhaupt mitbekommen, wenn er sich von einer Brücke oder vor einen Zug gestürzt hätte? Wohl kaum. Wir hätten weder seinen Namen, noch seine Herkunft oder Geschichte gehört, nicht von den wirtschaftlichen, politischen, soziologischen, psychologischen Gründen seiner Entscheidung sich das Leben zu nehmen erfahren.
Jedes Jahr setzen über 10.000 Menschen in Deutschland ihrem Leben ein Ende, es ist nicht mal eine Randnotiz in den Zeitungen zu sehen. Über den Wert einer Nachricht entscheiden die Herrschenden, während die Namen von Selbstmord-Attentätern für uns zum Alltag werden und die Politiker sich darauf stürzen, sind die Namen der Opfer schnell vergessen. Ist das der Grund, warum einige ihren Abgang mit einem Attentat verewigen wollen? Die Erklärung, sie kämen für ihre Tat ins Paradies ist genauso billig wie die Behauptung sie würden aus der Überzeugung ihres Glaubens diesen Weg wählen. Wir können nicht wissen, was in dem Kopf eines anderen Menschen bzw. eines Geflüchteten vor sich geht. Folgende Fakten mögen aber von Bedeutung sein:
- Eine Flucht ist nicht billig und kann möglicherweise nur mittels Schulden, die irgendwann zurück gezahlt werden müssen, finanziert werden.
- Eine Flucht ist gefährlich. Die Menschenhändler/Schleuser sind keine Heiligen und sie wissen, dass die Flüchtenden Bargeld/Wertgegenstände bei sich haben, um ihre Flucht zu bezahlen. Hinzu kommen die mit der „Reise“ verbundenen Strapazen, das Risiko krank zu werden, zu ertrinken oder getötet zu werden ist hoch.
- Geflüchtete können nicht einfach in ihre Heimatländer zurückkehren. Ihre Flucht ist die Hoffnung der ganzen Familie. Ein Geflüchteter will nicht enttäuschen, nicht vor Familie, Nachbarn etc. das „Gesicht verlieren“, nicht der „Loser“ sein, der es nicht geschafft hat in Europa erfolgreich zu sein. Hinzu kommt, dass seine Familie nach seiner Abreise womöglich unter Schikanen vonseiten Behörden zu leiden hat. Entsprechend hoch lastet deren Erwartung, irgendwann von ihm Unterstützung zu bekommen, auf ihm. In die Perspektivlosigkeit seines alten Lebens zurück zu kehren ist keine Option.
- Die Ohnmacht gegenüber den Asylgesetzen und die daraus resultierende Ungewissheit führen zu Angst und Verzweiflung. Ein Prüfer, der nicht mal einen deutschen Bundeswehrsoldaten von einem Geflüchteten unterscheiden kann, entscheidet über den Asylantrag.
Aus der Perspektive eines Geflüchteten sieht die europäische Welt nach seiner Ankunft viel düsterer aus. Der Beweggrund eines Attentäters ist nicht immer religiöser Fanatismus, wie es uns die Medien vorgaukeln wollen. Es steckt mehr dahinter. Die Zahl der Geflüchteten, die Selbstmord begehen ist uns nicht bekannt.
Die pauschale Verurteilung von Geflüchteten ist nur Populismus. Die Menschen wollen hier in Ruhe leben, ohne die Angst bei einer Hochzeit von Drohnen getötet zu werden.
Die in Europa geborenen/aufgewachsenen Attentäter entstammen der 2./3. Einwanderer-Generation, wurden also nicht in ihren Heimatländern „radikalisiert“. Sie haben hier in Europa friedlich gelebt und das gemacht, was alle anderen Jugendlichen auch machen. Religion bzw. der Islam hatte keine Bedeutung in ihrem Leben. Viele der Eltern der jugendlichen Attentäter sind keine „radikalen Gläubigen“, sie leben wie viele Migranten am Rand der Gesellschaft in ärmlichen Verhältnissen. Der Radikalisierungsprozess dieser Jugendlichen geschieht nicht durch ihre „Islamisierung“, sondern durch die sozialen, gesellschaftlichen Verhältnisse des jeweiligen europäischen Landes.
Auffällig ist, dass viele Attentate nicht zu den Emigrationsgeschichten passen: viele Attentäter haben einen marokkanischen bzw. tunesischen Hintergrund. In Marokko gibt es keine islamistische Radikalisierung, in Tunesien sehr wohl. Und obwohl die türkisch- und algerisch-stämmigen Bevölkerungsgruppen in Europa zahlenmäßig viel größer sind, finden sich keine Attentäter aus diesen Gruppen bei Anschlägen in Europa. Die gesellschaftliche Einbindung spielt eine große Rolle. Der Salafismus führt keinen Religionskrieg, sondern einen kulturellen Krieg. Hier gießt die Politik der „deutschen Leitkultur“ bzw. „der Westen sind die Guten“ noch Öl ins Feuer. Die Spaltung der Gesellschaft wird vorangetrieben, führt zu weiterer Ghettoisierung, Abgrenzung und sozialen Konflikten, was wiederum den Rattenfängern Tür und Tor öffnet.
Wenn der Attentäter in Europa geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen ist, die Sprache des jeweiligen Landes spricht, dann trägt dieses Land die Verantwortung.
Betrachtet man die Neo-Nazi-Szene, dann finden sich viele Parallelen, aber als „christlicher Terror“ werden ihre Anschläge nicht bezeichnet. Jugendliche Neo-Nazis sind genauso von Rattenfängern verführt worden, wie jugendliche „islamistische“ Attentäter. Die Radikalisierung verläuft nach dem gleichen Muster. Nur dass die Medien im Fall der „islamistischen“ Jugendlichen den Rattenfängern noch in die Hände spielen. Fotos/Videos der Dschihadisten in Syrien werden voll übernommen, gesendet bzw. gedruckt. Eine bessere Propaganda für den dschihadistischen Terror gibt es nicht.
Aber die Gesellschaft will keine komplizierten Erklärungen, alles muss schlicht und einfach sein. Umso besser, wenn die „Erkenntnisse“ dem vorgefertigten „Feindbild“ entsprechen. Nach jedem Attentat fühlen sie sich in ihren Vorurteilen bestätigt.
Besonders absurd ist in diesem Zusammenhang die Geschichte des Attentäters von Brüssel. Wäre er in Syrien geblieben, dann würde er uns als „Freiheitskämpfer“ für die Demokratie gelten. Damals und dort ein Held, im Kampf gegen das Assad-Regime, für Freiheit und Demokratie… Zumindest nach den Vorstellungen der belgischen Polizei, die der Mutter jegliche Hilfe zur Verhinderung der Ausreise ihrer Söhne nach Syrien verweigerte, mit eben der Begründung, dass sie für die Demokratie kämpfen wollen.
Warum stellen viele Medien die Gewalt, die Gräueltaten und das Morden in Syrien als legitimen „Freiheitskampf“ dar? Warum werden die gleichen Taten, begangen von demselben Menschen, nur verurteilt, wenn sie in Europa geschehen?
Das Bundesverfassungsgericht hat sein Urteil gefällt, Gefährder können aufgrund des Verdachts einer zukünftigen Straftat abgeschoben werden. Doch zu viel Vertrauen in die Sicherheitsbehörden ist nicht angebracht.
Nach diesem Urteil hätte man die Angehörigen der NSU-Opfer als Gefährder einstufen und abschieben können. Die Angehörigen, Freunde und Bekannten standen als Tatverdächtige fest und nur in diese Richtung wurde ermittelt, das bittere Ergebnis ist bekannt.
Aber es gibt viele „Gefährder“, was ist mit „Geisterfahrern“; Piloten; übermüdeten LKW-Fahrern und Sekundenschlaf; Polizisten, die Demonstranten schlagen; Neo-Nazis, die Wohnheime anzünden; Politikern, die Kriege anzetteln und Soldaten in den Tod schicken; Ärzte, die Behandlungsfehler machen; Pharmakonzerne; Atomkraftwerkbetreibern; Tabakindustrie …?
Es ist alles viel komplizierter. Natürlich sind Selbstmordattentate ein furchtbares Unrecht! Wir sind aber nicht nur schockiert, traurig und wütend wegen der Attentate, wir haben auch die Schnauze voll von der simplen, unqualifizierten Berichterstattung der Medien hinterher.
Die politischen Parteien erzählen uns, dass die Fluchtursachen bekämpft werden sollen, aber Ausbeutung, Krieg, Zerstörung und Korruption gehen weiter. Es wird nur geredet, das System braucht Kriege, die Herrschenden und ihre neo-liberale Politik werden die Bekämpfung der Fluchtursachen und eine echte, nachhaltige Entwicklungshilfe (an der sie nicht verdienen) niemals zulassen.
Verfasst für Freiesicht.org