Können Ausländer und Migranten (im Fachjargon „People of Color“) gegenüber der biodeutschen Mehrheitsgesellschaft (im Fachjargon weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft) rassistisch sein?
Diese Frage erreichte ihren Höhepunkt, als 2010 die damalige Familienministerin Kristine Schröder (CDU) nach einer Berichterstattung über eine Berliner Schule, auf der deutschstämmige Mitschüler(innen) von Ausländern mit gegen Deutschstämmige gerichtete stereotypisch vulgären Ausdrücken beschimpft und beleidigt worden sind, als ein rassistisches Verhalten gegenüber Deutschen konstatierte. Auch heute noch – in Zeiten von Flüchtlings- und Integrationsdebatten – kommt dieser Einwand immer wieder auf. Dabei stellt sich die Frage: Ist dies überhaupt möglich? Sind verbale Ausdrucksweisen wie „Kartoffelfresser“ oder „deutsche Schlampen“ oder grundsätzlich deutschenfeindliche Diskriminierungen als Rassismus zu bewerten? Pöbelei oder Rassismus? Abgesehen von der Tatsache, dass solche Beleidigungen und Diskriminierungen die Würde des Menschen verletzten, gelten sie in der Rassismusforschung überraschenderweise eben nicht als Rassismus. In Deutschland existieren – trotz der zahlreichen Menschen, die sich tagtäglich mit Rassismus in ihrer beruflichen sowie in ihrer politischen Arbeit auseinandersetzen, und der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur – über Rassismus sowohl in der öffentlichen als auch in der veröffentlichten Meinung recht unbestimmte, schattenhafte sowie widersprüchliche Vorstellungen davon. Einer der Gründe dafür ist, dass der Rassismusbegriff aufgrund der deutschen Geschichte von dem ethnischen Rassendiskurs der Nationalsozialisten nachhaltig geprägt wurde und als Reaktion ein Gegenentwurf in den Köpfen entstanden ist, auf dessen Grundlage jegliche ethnische Diskriminierungen als schlechthin rassistisch wahrgenommen wird. Nach der in der Forschung anerkanntesten Rassismusdefinition von Birgit Rommelspacher setzt Rassismus allerdings voraus, dass er sich auf drei Wirkungsebenen abspielt: auf der Mikroebene (Subjektebene), auf der Mesoebene (Organisationen, Institutionen etc.) und auf der Makroebene (Wirtschaft, Politik, Soziales etc.). Demnach ist das, was Rassismus ausmacht, vor allem die Systematik. Es geht nach dieser Mehrheitsmeinung in der Rassismusforschung um die Markierung und Bewertung von Unterschieden, um Ungleichheiten zu legitimieren und damit den Primat zu bevorteilen: Die Markierung hat die Funktion, sich von den Markierten abzugrenzen. In dieser Markierung sind unendliche Zuschreibungen vorhanden, die den Markierten zu dem Anderen konstruieren. Diese Zuschreibungen erfolgen über diverse Indikatoren, beispielsweise durch die Sprache, Kultur, Ethnizität, Migration – oder wie gegenwärtig zunehmend durch die Religion. Anhand der Indikatoren wird eine vermeintliche Gruppe konstruiert, die bestimmte Merkmale oder Eigenschaften zugeschrieben bekommt, welche als natürlich und somit unveränderlich gelten. Diese naturalisierten Eigenschaften werden als Gegensatz zu der eigenen Natur positioniert und hierdurch wird ein dichotomes Konstrukt des Wir und Ihr erstellt. Bis hierhin könnte man aber eine Deutschenfeindlichkeit ebenfalls als Rassismus einstufen. Jedoch kommt noch der Faktor Bewertung hinzu: Die Abwertung der als anders konstruierten Gruppen mit negativen Eigenschaften wie rückständig, frauenfeindlich, terroristisch usw. geht mit der eigenen Aufwertung mit gegensätzlich-positiven Eigenschaften als emanzipiert, aufgeklärt und fortschrittlich einher. Einer solchen Logik liegt das oben genannte deterministische Kulturverständnis zugrunde. Kulturen werden als innerlich homogene, abgeschlossene und nach außen abgegrenzte Blöcke konzeptualisiert. Die statische Konstruktion von Kulturkreisen mit unvereinbaren Differenzen führt dann zur Kategorisierung und Klassifizierung von Menschengruppen. Diese Differenzierungen werden naturalisiert, unveränderlich und vererbbar gemacht, sowie homogenisiert, verallgemeinert und vereinheitlicht – und es wird auch polarisiert, sie werden als unvereinbar und verschieden dargestellt und dabei hierarchisch in eine Rangordnung gesetzt. Nun, an dieser Stelle könnte ebenso manch ein kritischer Geist Widerspruch erheben und argumentieren, dass deutschenfeindliche Ausländer von derselben Logik unter anderen Vorzeichen ausgehen: Die Abwertung der als anders konstruierten Gruppe wird mit negativen Eigenschaften wie unrein, unmoralisch, ehrlos usw. zugeschrieben und geht mit der eigenen Aufwertung mit gegensätzlich-positiven Eigenschaften als rein, moralisch und ehrenhaft einher. Der dritte und entscheidende Punkt allerdings disqualifiziert das Phänomen der Deutschenfeindlichkeit – zumindest in Deutschland – als Rassismus: Der Faktor Markierung und Bewertung ergibt für den Rassisten bzw. den Primat nur dann Sinn, wenn sie seine Bevorteilung zur Folge haben bzw. diese zementiert. Mit den fest verankerten zugeschriebenen Pseudo-Merkmalen und -Bewertungen sollen Herrschaftsansprüche legitimiert werden. Es geht also um die Legitimation der Ungleichheit. Daher kann Rassismus als eine „Legitimationslegende“ verstanden werden, um Privilegien zu bewahren. Wogegen nicht einmal auf der Mikroebene der Schule, die eingangs beschrieben worden ist, führt eine Deutschenfeindlichkeit zur Bevorteilung oder Bewahrung von Privilegien von deutschenfeindlichen Ausländern oder Migranten, zumal ihnen gegenüber beispielsweise das Schulpersonal mit weitreichenden Sanktionsmaßnahmen steht. Die fehlenden Elemente der Bevorteilung und Bewahrung von Privilegien kategorisieren deutschenfeindliche Taten bestenfalls als einen Ausdruck der Gegenwehr eines systematisch Benachteiligten oder schlimmstenfalls den Täter als einen unverbesserlichen „Deutschenphoben“. Aber ein Rassist, was voraussetzt, dass er als Primat ein gesellschaftliches Machtverhältnis besitzt bzw. zur Mehrheitsgesellschaft gehört, ist er nicht: Es geht ihm nicht um die Legitimation und Zementierung der Ungleichheiten an Zugang zu Ressourcen der gesellschaftlichen Lebensbereiche wie zu Arbeit, Bildung oder Wohnung, sondern es ist der verzweifelte Versuch, gerade diese zu seinem scheinbaren Vorteil verächtlich zu machen. Quelle: http://www.multiperspektivisch.de/nachricht/detail/7.html |