Es scheint als könnten die Kurden sich weder auf die Hilfe Russlands und der syrischen Regierung noch auf die USA verlassen. Alle reden von der Schuld der anderen, sogar von Verrat. Die Kurden sind Opfer, aber man sollte auch ihre taktischen Fehler sehen. Das Ende des Kriegs wäre die beste Lösung für alle Völker der Region. Die Frage ist aber, wer will den Frieden und wer nicht? Sieht man sich die letzten Jahre an und zieht die Interessen der jeweiligen Akteure in Betracht, dann beantwortet es sich von selbst.
Die leeren Versprechungen der USA eines eigenen kurdischen Staats werden mal wieder unerfüllt bleiben. Das Verhalten der USA nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Kurden, zeigt welche Absichten diese verfolgen. Russland hat keine Versprechungen an die Kurden gemacht, weder bezüglich ihres Schutzes noch zur Gründung eines eigenen Staates. Die Souveränität des syrischen Staates sollte aufrecht erhalten bleiben und über die Zukunft dieses Staates sollten alle hier beheimateten Völker in Sotschi mitbestimmen. Bemühungen die syrische Regierung und die Kurden an einen Tisch zu bringen sind im Sande verlaufen.
Nun hat die Türkei unerwartet (obwohl Erdogan wochenlag davon geredet hat) Afrin angegriffen.
Erdogan weiß, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. Aber die nächsten Präsidentschaftswahlen muss er gewinnen – koste es, was es wolle. Krieg ist ein gutes Mittel das wirtschaftlich-politisch angeschlagene Image von Erdogan noch mal aufzupolieren und mit Hilfe der Nationalisten, Islamisten und der Liberalen die Bevölkerung hinter sich zu sammeln.
Kaum dass die Kampfflugzeuge gestartet sind, sammeln sich diese Kreise hinter ihm und klatschen Beifall. Die CHP-Sozialdemokraten bekunden ihre Solidarität und zeigen wieder einmal, dass sie nur die Ersatzreifen des Staates sind, bereit eingewechselt zu werden. Erdogan hat allerdings eine Sorge, die unbequemen demokratischen Kräfte, denen er vor Beginn der Afrin-Operation mit Strafmaßnahmen drohte. Wer sich gegen den Krieg äußert, auf der Straße, in den Medien oder sozialen Netzwerken soll seine Wut zu spüren bekommen. Bereits am ersten Tag gab es mehrere Festnahmen und Verhaftungen. Anscheinend soll die Afrin-Operation dazu dienen ganze Völker der Türkei zu fesseln oder zumindest einzuschüchtern. Jegliche Protestaktionen wurden verboten, wer trotzdem auf die Straße geht, wird von der Polizei angegriffen. Auf die demokratischen Kräfte der Türkei kommen noch härtere Zeiten zu: Kampf für die Freundschaft der Völker, gegen die Mauer des Schweigens und gegen die Repression des Staates. Die Solidarität mit den Kurden in Afrin, wie auch mit den Kurden in der Türkei, muss groß geschrieben werden.
Russland hält sich zurück und beschuldigt die USA, die Türkei mit Aussagen bzgl. des Vorhabens eine 30.000 Mann starke Grenzschutz-Armee mit der YPG aufbauen zu wollen, provoziert zu haben. Die Kurden werfen wiederum Russland vor, sie allein gelassen zu haben.
Die USA spielen ihr doppeltes Spiel, wie immer:
Ein Sprecher des Pentagons warnte die YPG davor ihre Kräfte nach Afrin zu senden. Damit würden sie den Anspruch auf US-Unterstützung verlieren. Auch dürfen die von den USA erhaltenen Waffen von der YPG nur gegen den IS eingesetzt werden. Während die Türkei einen Angriffskrieg gegen die Kurden führt, dabei westliche Waffen einsetzt und sogar Nachschub bekommen soll, wie Gabriel vor einer Woche seinem Amtskollegen Cavusoglu versicherte und nun vorerst widerrief.
Es ist absurd, dass die Türkei westliche Waffen in Afrin einsetzen darf, dies der YPG hingegen verboten wird.
Nun einige Aspekte des Geschehens im Vorfeld des türkischen Angriffs:
Der Plan der Russen sieht vor den Krieg zu beenden und Assad im Amt zu behalten. Dafür wollen sie noch einige Krisenherde wie z.B. Idlib löschen. Später mehr zu diesem Thema.
Russland führte Verhandlungen mit den Kurden und der syrischen Regierung. Im russischen Luftwaffenstützpunkt Khmeimim trafen sich beide Parteien, aber es kam zu keiner Einigung. Die syrische Regierung wollte das Kommando in Afrin übernehmen, damit die Grenzsicherheit gewährleistet werden kann. Die Kurden lehnten dies ab. Ein weiterer Vorschlag der syrischen Regierung sah vor, dass die Kurden die Kontrolle über die Stadt Afrin behalten würden, aber die syrische Armee den Rest übernimmt. Auch dies wurde von den Kurden abgelehnt. Diese schlugen der Assad-Regierung vor, die Grenzübergänge zu übernehmen und ihre Fahne in Afrin symbolisch an Verwaltungsgebäuden aufzuhängen, die Kontrolle über das Gebiet Afrin sollte jedoch bei den Kurden bleiben. Diesen Vorschlag lehnte die Regierung in Damaskus mit der Begründung, dass mit ein paar Soldaten an den Grenzposten die Sicherheit nicht gewährleistet werden kann, ab. Somit verliefen die Verhandlungen im Sande.
Nun zu Idlib:
Idlib und Umgebung ist eine Hochburg der Dschihadisten. Die Region wird von der al-Qaida-nahen El Nusra Front kontrolliert. Hierher wurden Dschihadisten aus allen Ecken Syriens von der Armee eskortiert, nachdem diese nach Kämpfen mit der syrischen Armee und durch Verhandlungen, ihre vormaligen Stellungen verließen. Es gibt keinen anderen Ort in Syrien, in dem so viele Dschihadisten leben wie in der Region Idlib. Man geht von 30 bis 35.000 schwer bewaffneten Dchihadisten aus.
2017 äußerte sich Assad deutlich „ihr geht dahin woher ihr gekommen seid oder ihr werdet getötet“. Woher sie gekommen sind, ist allen bekannt, nämlich aus der Türkei. Diese Aussage von Assad haben die Machthaber der Türkei auch mitbekommen. Wenn 30.000 Dschihadisten samt ihrer Familien abziehen wollten, käme für sie nur die Türkei in Frage. Nur was soll die Türkei mit ihnen anfangen? Sie zurück in ihre Heimatländer zu schicken geht nicht. (Eine neue Flüchtlingswelle gen Europa ist auch nicht auszuschließen.)
Aber, aus aktuellem Anlass, könnten sie vielleicht über die Türkei nach Afrin oder in die, von der Türkei besetzten Gebiete, in Nordsyrien gesendet werden. Die Russen müssen das geahnt haben, ließen deshalb die Kurden und die syrische Regierung verhandeln und warnten sogar davor. Diese Warnungen wurden nicht ernst genommen.
Mit einigen wenigen einfachen Beobachtungsposten in Afrin, sind die Russen nicht auf Kampf ausgerichtet. Diese wurden kurz vor dem Einmarsch der Türkei abgezogen.
Die „Freie Syrische Armee“, die die Türkei in Afrin vor sich herschiebt, ist keine einheitliche Truppe. Sie besteht aus vielen Gruppierungen, die von der Türkei und den USA militärisch ausgebildet und ausgerüstet worden sind. Nun sollen die Kurden ihre Heimat gegen, von den USA ausgebildete und finanzierte, Dschihadisten verteidigen.
Neu ist, dass sich IS-Dschihadisten, denen bei der Befreiung Raqqas freies Geleit in die Türkei, mitsamt ihrer schweren Waffen, gewährt wurde, nun stolz in den sozialen Netzwerken präsentieren und in eben den Truppen der „Freien Syrischen Armee“ auftauchen. Wenn man mit dem Teufel einen Pakt schließt, sollte einen das Ergebnis nicht überraschen. Im Krieg um Raqqa hat sich die YPG von den USA blenden lassen und die IS-Kämpfer, ohne dass diese Rechenschaft für die brutalen Morde an tausenden Syrern ablegen mussten, ziehen lassen. Nun müssen die Kurden in Afrin mit den Folgen dieser Entscheidung „leben“. Der Hilferuf der YPG an die Syrische Armee, sich für sie und gegen die türkische Armee einzusetzen, trägt die Unterschrift des verzweifelten Volks, ist jedoch bis jetzt unbeantwortet geblieben.
Hier muss man etwas zurück schauen; zu Beginn des Kriegs 2011 zog die Syrische Armee aus dem Gebiet Rojava ab, nachdem sie von den Dschihadisten zurückgedrängt worden war. Tausende Bewohner verließen ihre Dörfer oder starben durch die Angriffe der Dschihadisten. Damals gab es auch Auseinandersetzungen zwischen der syrischen Armee und der YPG. Die westlichen Medien zeigten Bilder der, gegen Assad kämpfenden, tapferen kurdischen Kämpfer.
Es ist eine absurde Situation: im Osten des Euphrat Zusammenarbeit mit den USA und somit möglicher Kriegsgegner der Syrische Armee; im Westen ihre Hilfe als Retter anrufen. Für die Syrische Regierung sind der einzige Unterschied zwischen der türkischen Besetzung syrischen Territoriums und der YPG-USA-Besetzung die Öl-Quellen im Gebiet um Deir Ezzor in Ostsyrien, nur werden dort keine Bomben fallen.
Aber die Aufforderung von Damaskus an die YPG, diese Gebiete wieder zu räumen und sich in die kurdischen Gebiete zurückzuziehen, bleibt bestehen. In dieser Region leben und lebten ausschließlich Araber, die Kurden haben weder einen historischen noch einen aktuellen Anspruch auf dieses Gebiet. Aber die USA strebt hier den Aufbau einer Armee von YPG Kämpfern und restlichen Dschihadisten an. Die YPG bestreitet dies zwar, kann aber nicht erklären, woher die zusätzlichen Kämpfer kommen sollen. Also ein neuer Krisenherd.
Man darf auch nicht vergessen, dass die USA, als die Türkei mit der Operation Euphratschild das Dreieck Al-Bab, Jarablus und Azaz sicherte, mit marschieren wollte, jedoch ihre Einheiten abziehen musste, da sich einige Dschihadisten-Gruppen weigerten mit US-Streitkräften zu marschieren. So marschierte die Türkei ohne US-Unterstützung ein und hält die Region bis heute besetzt. Gestoppt wurde die Aktion schließlich von der syrischen Armee mit Hilfe russischer Kampfflugzeuge. Später stellte die USA ihre Einheiten aufseiten der Kurden auf und nun verlangt die Türkei, dass die Amis diese Einheiten aus Manbij abziehen und die dortigen YPG-Kämpfer entwaffnen sollen.
Russland hat keine leeren Versprechungen, wie die USA, an die YPG gemacht. Es waren klare, nachhaltige Vorschläge, die eine für alle akzeptable Lösung und das Ende des Kriegs herbeiführen sollten.
Was die USA anbietet kennen wir aus der Geschichte.
Die YPG ist die einzige Organisation in Afrin, die großes Ansehen und das Vertrauen der anderen Völker genießt. Mit ihren demokratischen Strukturen und militärischen Möglichkeiten ist sie in der Lage die Angriffe der Türkei abzuwehren.
Der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist heute schwieriger geworden. Die widersprüchlichen Interessen und das entsprechende Agieren innerhalb der imperialistischen Zentren macht die Orientierung komplizierter. Auf der internationalen Bühne sollte die YPG ihre Entscheidungen sehr genau abwägen. Die taktische Nutzung der Differenzen innerhalb der imperialen Mächte, für das Selbstbestimmungsrecht der Kurden, muss sehr sorgfältig überlegt sein und darf keinesfalls auf Kosten anderer Völker gehen.
Dieses berücksichtigend, sollte sich die YPG den Dissens der imperialen Mächte soweit wie möglich zu Nutze machen, ohne jedoch die eigene anti-imperialistische Linie zu korrumpieren. Insbesondere im aktuellen, ungeordneten Chaos des Nahen Ostens sollte vorsichtiges Agieren höchste Priorität haben.
Die YPG hat keine andere Wahl als mit dem Assad-Regime zu verhandeln, wenn sie die Souveränität des Vielvölkerstaats Syrien aufrecht erhalten wollen und die Gefährdung von außen in einer gemeinsamen syrischer Armee abwehren wollen. Die Gestaltung der Staates kann nicht von außen herbei gezaubert werden. Das ist eine Lange Prozess die durch die Verhandlungen beste Ergebnis für alle Beteiligten bringen kann.
Verfasst für FreieSicht.org