Seit ca. 40 Jahren sind die im Iran lebenden Menschen täglich konfrontiert mit Grausamkeit und enormer Unterdrückung. Ihre Lebensrealität ist gefüllt mit menschenverachtenden Erlebnissen. Das westliche Bild und die Lesart der Situation und politischen Lage im Iran wird hierzulande – nicht zuletzt auch unter Aktivistinnen und Aktivisten – geprägt von den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen des Irans mit dem Westen, Propaganda, Lobbyismus, den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und der Rolle und dem Einfluss der Medien – auch auf die hiesige Berichterstattung. Denn in einer global zu verstehenden politischen Auseinandersetzung, die geprägt ist von Über- und Unterordnung, schaffen diese Verhältnisse Privilegien, von denen vor allem die Menschen hier im Westen profitieren. Und genau aus diesem Grund haben wir kein Recht auf eine passive Haltung. Trotz der Gefahr, Hoheitspositionen einzubüßen, ist es unsere Pflicht die politische Lage ernst zunehmen, zu kritisieren, zu politisieren und uns einzumischen. Die aktuelle Lage im Iran hat uns alle in den letzten Tagen mit Bildern und Parolen konfrontiert, die bei Ihnen viele Fragen aufwerfen. Wir Betroffene haben geeignete Antworten und Erklärungen auf diese, zum Teil verwirrenden Fragen.
Erstens zweifeln wir Betroffenen nicht daran, dass die Rolle des Irans nicht nur eine wichtige Stütze für den Imperialismus sowie postkoloniale und kapitalistische Interessen darstellt, sondern sie selbst ein Teil dieser imperialistischen Verhältnisse ist. Der Iran hat in diesem globalen Spiel die Rolle des Schurken zugeschrieben bekommen und diese gerne angenommen. Diese Rollenzuschreibung und die Maske des Bösen sorgen nicht zuletzt dafür, dass aktuell Milliardengeschäfte der Militärindustrie zwischen Amerika, Israel, Russland, China und Europa möglich werden. Gäbe es diese Rollenzuschreibungen und Annahmen nicht, wären diese Milliardengeschäfte nicht zu rechtfertigen. Was glauben Sie? Wie hätte Saudi Arabien das Rüstungsabkommen über mehrere Milliarden Dollar mit verschiedenen Ländern rechtfertigen können, wenn der Iran nicht als Gefahr in diesem Spiel dargestellt worden wäre und diese Rolle nicht aktiv übernommen hätte? Die Rolle des Bösen und die Argumentation mit Gefahr waren und sind wichtige Instrumente für diese wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse.
Aber auch die imperialistische Rolle des Irans ist nicht zu unterschätzen und sollte kritisch mit erwähnt werden. Zusammen mit Saudi Arabien, Katar und der Türkei ist der Iran mitverantwortlich für den Krieg in Syrien. Ein Krieg, der Millionen Menschen in Leid getrieben, getötet und Familien auseinandergerissen hat. Ein Krieg, der Menschen gezwungen hat aus ihrer Heimat fliehen zu müssen. Die Revolution, die zunächst vom Volk ausgelöst und erwünscht war, wurde durch diese Interventionen zunichte gemacht. Im Gegensatz zu vielen Menschen hier in Europa hat die betroffene Bevölkerung im Iran die imperialistische Rolle des Irans zu erkennen, verstehen und spüren gelernt. Aus diesem Grund gehen seit Tagen Menschen auf die Straße. Sie gehen auf die Straße und riskieren ihr Leben, indem sie Parolen wie „lass die Finger von Syrien“ rufen, denn es lebe der Antiimperialismus. Sie wünschen sich eine tatsächliche antiimperialistische Politik in Teheran, Kermanscha, Ahwaz, Khoramabad, Zanjan, Zahedan usw.
Zweitens: die Aufstände im Iran werden durch eine weitere Parole begleitet: „Nicht Gaza und nicht Libanon – mein Leben für den Iran“. Neben dem Wunsch nach einer tatsächlich antiimperialistischen Politik existiert diese zweite, reaktionäre und nationalistische Parole.Diese nationalistische Parole bekam in allen Medien in den letzten Tagen eine zentrale Rolle zugeschrieben. Die iranische Regierung bezeichnete diese Menschen als pro israelisch und versuchte durch diese Bezeichnung die gesamte Bewegung in den letzten Tagen auf diese Parole zu reduzieren, um die antiimperialistischen politischen Forderungen der Bevölkerung zu diskreditieren. Die erste revolutionäre Parole durch die zweite nationalistische Parole zu verschleiern und somit die aktuelle Bewegung auf den Straßen des Irans als nicht unterstützenswert zu bezeichnen und zu degradieren, ist eine Rhetorik, die auch hier im Westen von Teilen der Aktivistinnen und Aktivisten eingesetzt wird. Wir sind gegen jegliche Form von nationalistischen und reaktionären Parolen. Es wäre jedoch scheinheilig und gefährlich die erste Parole, die so lautstark gerufen wird, zu überhören und diese Menschen nicht zu unterstützen.
Drittens: Glauben Sie ernsthaft, dass die Menschen im Iran, die auf die Straße gehen und sich und ihrLeben für eine antiimperialistische und antikapitalistische Politik in Gefahr bringen, wirklich wollen, dass Amerika sich in diesen Aufstand militärisch einmischt? Oder gar, dass diese Bewegung unter der amerikanischen Führung stattfindet? Nein, denn alle Menschen die auf die Straße gehen – und das sind viele – und nach Brot, Arbeit und Freiheit rufen, möchten durch ihren antikapitalistischen Willen und ihre Entschlossenheit sowohl Khamenei als auch Trump zum zittern bringen.
Viertens: In den Medien zirkuliert vor allem in den letzten Tagen das Bild einer Frau, die als Symbol der Freiheit ihr Kopftuch zur Seite legt. Dieses Bild wird in Europa aufgegriffen und verstärkt einen paternalistischen Diskurs und die damit einhergehenden bestehenden Machtverhältnisse. Die Bewegung wird dadurch auf den Islam rassifiziert und der Hijab wird als Argument für hiesige antimuslimische Rassismen eingesetzt. Nein, diese Bewegung richtet sich nicht gegen den Islam, obwohl viele Frauen den u.a. politisch erzwungenen Hijab loswerden wollen. Außerdem kämpfen viele emanzipierte Frauen seit Tagen mit ihrem eigenen islamischen Glauben auf der Straße. Dieser Kampf gilt nicht dem Hijab, sondern dem freien Willen der Bevölkerung, selbst entscheiden zu können, ob sie mit oder ohne Hijab auf die Straße gehen möchte. Wir Iranerinnen und Iraner haben beide Zwänge erlebt. Sowohl der Zwang zum Hijab als auch ohne. Daher kämpfen wir dafür, dass Frauen in unserem Land über ihr Körper und Leib selbstständig und freiwillig entscheiden können.
Fünftens. Unsere Position wird in Europa häufig als undurchschaubar bezeichnet. Das ist falsch, denn wir haben ganz klare Positionen. Unsere Position ist entschlossen, laut und stark: es lebe der Aufstand und die Unterstützung von Marginalisierten und Unterdrückten. Für eine antiimperialistische und antikapitalistische Gesellschaft. Wir haben von der Geschichte gelernt und wissen, dass wir für eine menschenwürdige Politik auf keinen Fall mit Großmächten, mit Nationalist*innen, mit Monarch*innen oder reaktionären Kräften Verträge eingehen und/oder uns von ihnen vertreten lassen dürfen. Wir werden diese Bewegung unterstützen, solange als erste Parole „Brot, Arbeit und Freiheit“ zu hören ist. Wir werden uns jedoch für eine progressivere Revolutionsform einsetzen, wenn wir spüren, dass sich diese Bewegung gegen die Arbeiter*innenklasse, ethnische und religiöse Minderheiten, Frauen und LGBTQ oder afghanische Migrant*innen richtet.
Für eine transnationale Solidarität!
AK Internationalismus