Liebe Leser/innen, aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir einen Artikel unseres Freundes Toros Sarian, der 1992 in der Zeitung “Arbeiterkampf“ erschien. Der Text zeigt, dass sich die deutsche Politik bezüglich Waffenlieferungen an die Türkei nicht geändert hat. Damals führte die türkische Armee Operationen in Türkisch Kurdistan durch und machte mehr als 5000 Dörfer dem Erdboden gleich. Über 5000 Menschen verschwanden spurlos. Das Schicksal dieser Menschen ist bis heute nicht geklärt.
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Die Regierung in Ankara kann mit dem neuen deutschen Außenminister zufrieden sein: Kaum im Amt, schon verkündete Kinkel, der sich selbst allen Ernstes als einen „wahrhaftigen Pazifisten“(1) bezeichnet, daß der im März verhängte Lieferstopp für Waffen an die Türkei wieder aufgehoben werden soll.
Im Dezember 1991 waren umfangreiche deutsche Waffenlieferungen an den NATO-Partner bekannt geworden und hatten zu heftigen Protesten seitens der Oppositionsparteien im Bundestag und der Öffentlichkeit geführt. Während die Bundesregierung wegen der Angriffe der türkischen Luftwaffe auf kurdische Dörfer in Irak-Kurdistan 25 Millionen DM Militärhilfe an Ankara aus „Protest“ zurückgehalten hatte, wurden seit Mitte 1991 riesige Mengen an Waffen aus den Beständen der aufgelösten NVA an die Türkei geliefert. Das türkische Militär erhielt u.a. über 100.000 Panzerfäuste, 250.000 Kalaschnikows, 5000 schwere Maschinengewehre und rund 450 Millionen Stück Munition (2). Insgesamt hatte die „Ausrüstungshilfe“ einen Wert von 1,5 Milliarden DM. Auch wenn man bedenkt, daß die Türkei seit vielen Jahren Rüstungsmaterial aus Deutschland erhält, übertrifft der Umfang dieser Lieferungen die bisherigen Waffenlieferungen bei weitem.
Als nach Bekanntwerden dieser Entscheidung der Bundesregierung zunehmend die Befürchtung geäußert wurde, daß die türkischen Militärs die deutschen Waffen gegen die Kurden einsetzen könnten, reagierten die Vertreter der Regierungsfraktionen wie nicht anders zu erwarten war: Burkhard Hirsch mußte zwar in der Bundestagsdebatte am 23. Januar eingestehen, daß ihm die Kurdenpolitik der Türkei „unklar“ sei, aber immerhin habe die Demirel-Inönü Regierung „entschlossene Schritte einer wirksamen Menschenrechtspolitik eingeleitet“ (3). Hirsch mahnte zur Geduld und Verständnis für die türkische Regierung, denn schließlich sei „es für die Türkei nicht leicht, sich als der einzige demokratische Staat mit moslemischer Bevölkerung in dieser Region innen- und außenpolitisch zu behaupten“. Einen Monat später verkündete Staatssekretär Willy Wimmer noch voller Zuversicht, es bestehe „keine Veranlassung, daran zu zweifeln, daß die Türkei entsprechend der getroffenen Vereinbarungen mit diesem Gerät auch so umgeht, wie es beschlossen und vereinbart worden ist“(4).
Obwohl die Bundesregierung also der türkischen Regierung signalisierte, daß sie keinen Ärger durch einen eventuellen Einsatz deutscher Waffen gegen Kurden wünsche, wurden diese Mahnungen von den türkischen Militärs offensichtlich nicht ernst genommen: im März wurde das traditonelle Neujahrsfest – Newroz – blutig unterdrückt. Das „vertragswidrige“ Verhalten des türkischen Verbündeten rief in Bonn zwar etwasVerärgerung hervor, aber nicht weil die Hüter der einzigen moslemischen Demokratie im Nahen Osten friedliche Kurden massakrierten, sondern weil sie dabei deutsche Waffen eingesetzt hatten. Die Bundesregierung versuchte, sich durch eine scheinheilige Anprangerung der türkischen Kurden-Politik und dem vorläufigen Stopp der Waffenlieferungen aus der Affäre ziehen.
Der „Sturm im Wasserglas“, wie es der türkische Regierungchef Demirel nannte, währte nicht lange, denn die Deutschland hatte kein Interesse an einer Schwächung seines bedeutenden wirtschaftlichen und politischen Einflusses in der Türkei. So beeilte sich die Bundesregierung, die verärgerten Partner in Ankara zu beschwichtigen. Im Bundestag hob Helmut Kohl die wachsende Bedeutung der Türkei bei der Region hervor: „Die Türkei war in der Vergangenheit auf Grund ihrer exponierten Lage an der Südostflanke der NATO ein Eckfeiler auch unserer Sicherheit. Heute und für die Zukunft nimmt ihre Bedeutung angesichts der Entwicklung im Süden der früheren Sowjetunion sowie in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens weiter zu.“
In Ankara ist man sich dessen längst bewußt. Deshalb hat man dort wohl auch zu keinem Zeitpunkt daran geglaubt, daß Deutschland ausgerechnet jetzt die Beziehungen durch eine Kritik an den dortigen Menschenrechtsverletzungen belasten würde. Aber wahrscheinlich hat die türkische Regierung trotzdem nicht damit gerechnet, bereits nach so kurzer Zeit wieder Waffen aus Deutschland zu erhalten. Der inzwischen drittgrößte Waffenexporteur der Welt kann es sich offensichtlich nicht leisten, einen so bedeutenden Kunden wie die Türkei zu verlieren.
Für die Wiederaufnahme der Rüstungslieferungen genügt der deutschen Regierung eine schlichte Zusicherung Ankaras, die Waffen nur in Übereinstimmung mit dem NATO-Vertrag einzusetzen. Was darunter zu verstehen ist, bleibt wohl der Interpretation überlassen, denn der türkischen Außenministers Cetin hat bereits angedeutet, daß die türkischen Streitkräfte auch weiterhin deutsche Waffen gegen die Kurden einsetzten würden. Nach dem neuen strategischen Konzept der NATO von 1991, so Cetins Ansicht, könne die Sicherheit des Bündnisses „auch durch Akte des Terrorismus beeinträchtigt werden“(5). Es ist zu erwarten, daß sich Bonn einer solchen Interpretation nicht widersetzen wird. Ekkehard Eickenhoff, der demnächst aus dem Amt scheidende deutsche Botschafter in Ankara, versicherte der türkischen Regierung bereits die Unterstützung Deutschlands im Kampf gegen die PKK. (6)
Seit dem Zerfall des Warschauer Pakts und der instabilen Lage im Nahen Osten ist die Bedeutung der Türkei in der imperialistischen Weltordnung größer geworden. NATO-Generalsekretär Manfred Wörner hat sie im Februar 1992 auf einer „Wehrkundetagung“ der NATO in München als eine „Verbündeten, der in Zukunft sehr bedeutende Rollen spielen wird“ bezeichnet (7). Der deutsche Delegationsleiter bei den Wiener Verhandlungen zur Begrenzung der Personalstärke der konventionellen Streitkräfte in Europa begründete die Entscheidung, der Türkei eine 530.000 Mann Armee zuzubilligen, damit, daß künftig die Spannungsfelder u.a. im Nahen Osten liegen würden (8).
Aus der Sicht der NATO-Strategen besteht die Notwendigkeit einer verstärkten militärischen Aufrüstung des verlässlichen Partners Türkei als Ordnungsmacht im Nahen Osten. Für die Herrschenden in der Türkei bot sich mit dem Golfkrieg und der Ausschaltung des ohnehin durch den jahrelangen iranisch-irakischen Krieg geschwächten Irak eine günstige Gelegenheit seine alten Ansprüche auf die Erdölreiche Region um Mosul und Kirkuk anzumelden. Zwar erscheint dieser Wunsch derzeit als unrealistisch, aber immerhin stellt sie eine mögliche Option bei einer erneuten Zuspitzung der Lage im Irak dar. Bis dahin können die türkischen Streitkräfte in ihrem Kampf gegen die PKK beliebig oft die irakische Grenze überschreiten.
Der Nahe Osten ist nicht die einzige Region, wo die Türkei NATO-Interessen – und natürlich zugleich auch eigene – durchseten will. Ankara macht sich seit langem auch stark für ein militärisches Eingreifen der UNO zugunsten der „islamischen Glaubensbrüder“ in Bosnien. Auf der in Istanbul tagenden Sitzung der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) legte sie in diesem Sinne eine Resolution vor, die von den anderen Teilnehmern auch angenommen wurde.
Während die Türkei sich dem Westen gegenüber als vorbildliches laizistisches Land präsentiert, beansprucht sie für sich die Rolle des Beschützer der Muslim auf dem Balkan auf. Seit Monaten ist die Lage in Bosnien-Herzegowina auch eines der Haupthemen in den türkischen Medien. Die Leser erfahren, wie sehnsüchtig die Muslime in Bosnien auf eine militärische Intervention mit Beteiligung der Türkei warten würden. In einem Interview mit der türkischen Tageszeitung „Milliyet“ betont der Präsident der Stadtverwaltung von Sarajewo immer wieder, daß er ein Türke sei und die Bosnier der Türkei so vieles zu verdanken hätten. Sein größter Wunsch, so Selim Hacibayric, sei die Vereinigung aller Moslems und Türken unter einer gemeinsamen Fahne (9).
Das Balkan-Szenario der türkischen Regierung beinhaltet auch eine militärische Unterstützung der Kosovo-Albaner, wenn sich dort der Konflikt zuspitzen sollte. Albanien wurde für den Fall eines Krieges mit Serbien ebenfalls Unterstützung zugesagt. Arbeitslosigkeit, Inflation, Auslandverschuldung werden zu Nebensächlichkeiten: Die altbewährte Taktik der Herrschenden, bei inneren Krisen und Problemen den Nationalismus anzuheizen und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung nach außen zu lenken, scheint bislang aufzugehen.
Kamo
Anmerkungen:
1) FR 25.06.92
2) SZ 23.12.91
3) Deutscher Bundestag, 73. Sitzung, 23.01.92
4) DBT, 79. Sitzung, 20.02.92
5) FR 03.06.92
6) FR 17.06.92
7) Hürriyet 10.02.92
8) FR 02.07.92
9) Milliyet, 14.2.92