Die AfD macht offen gemeinsame Sache mit Neonazis und hat die SPD als zweitstärkste Partei bundesweit bereits abgelöst. Nachdem sie in den vergangenen Jahren in fast alle Landtage eingezogen ist, letzten Herbst als führende Oppositionspartei in den Bundestag, nimmt sie nun Kurs auf Regierungsbeteiligung. Nachdem eine repräsentative Umfrage bestätigte, dass die Mehrheit der deutschen Staatsbürger die Beobachtung der AfD durch den VS will, entgegnete Innenminister Horst Seehofer (CDU), er sehe dafür keinen Grund. Kurze Zeit später leugneten Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und VS-Präsident Hans-Georg Maaßen die Existenz eines faschistischen Mobs in Chemnitz, Seehofer kam Maaßen zu Hilfe. Die Zeichen sind nur so zu deuten, dass die CDU/CSU sich bereits auf eine Koalition mit der AfD vorbereitet, auf Landes- wie auf Bundesebene. Wenn alles weitergeht wie bisher ist die Frage deshalb höchstens, ob bei den Bundestagswahlen in drei und sieben Jahren die CDU-CSU oder die AfD die neue Regierungskoalition anführen wird.
Faschisten im Staat, in der Polizei und Militär, das ist nichts Neues, die sind nach 1945 nie wirklich verschwunden. Offene Faschisten in der Regierung aber werden die Gewalt auf den Straßen beflügeln, und ihr die noch fehlende, offene institutionelle Legitimierung für den Rassenkampf geben. Wir wissen um die seit Jahren steigende Bewaffnung in rechten Kreisen. Die Doppeldeutigkeit des Spruches „Wir sind bunt bis das Blut spritzt“ von Nazi-Bannern in Chemnitz lässt dunkle Zeiten erwarten. Das kapitalistische System hat keine Zukunft, und greift nach dem letzten Joker, dem Faschismus, um sein Ende heraus zu zögern.
Und jetzt?
Aufgeben ist keine Option. Eines sollte aber klar sein: Es darf nicht so weiter gehen wie bisher. Wir alle, die die Geschehnisse um Chemnitz mit Sorge bis Grauen beobachten, sollten uns zuallererst in radikaler Selbstkritik üben. Auch wenn die Gründe für den Aufstieg der Rechten vielfältig sind, liegt ein zentraler Grund bei uns: wir haben sie nicht aufgehalten. Wir haben diese Entwicklung über Jahre beobachtet. Wir haben es aber nicht geschafft, einen größeren Teil der Gesellschaft auf unsere Seite zu ziehen. Anstatt sie von einer revolutionären Lösung der gesellschaftlichen Probleme zu überzeugen, haben wir zugelassen dass sie scharenweise den Reaktionären in die Arme laufen oder sich indifferent einer scheinbaren „Mitte“ zuordnen.
Wenn ich hier von „Selbstkritik“ rede, dann deshalb weil die kommenden Thesen die Selbstkritik meiner eigenen bisherigen antirassistischen und antifaschistischen Praxis sind, die weit über eine individuelle Selbstkritik gehen. Ich glaube, dass sie für die breite Leserschaft des LCM genauso zutreffen kann. Auch wenn sie hart formuliert sein mag, stellt sie eine solidarische Reflexion dar.
Selbstkritik zu formulieren ist nicht einfach, sie umzusetzen noch weniger. Deshalb: diskutiert mit euren Freund*innen und Gruppen. Selbstkritik ist ein Prozess, der Rechenschaft braucht, das heißt Genoss*innen in eurem Umfeld, die sicher stellen dass auf die Selbstkritik auch wirkliche Taten folgen. Sie soll zu besserem Verhalten und letztendlich erfolgreicher politischer Praxis und Organisierung führen.
Punkt 1: Bin ich organisiert? Wenn nein, worauf warte ich? Natürlich bedeutet das Arbeit. Nicht nur Arbeit, auch Verzicht auf Teile der eigenen Freizeit zum Beispiel. Die Gefahr dennoch zu Scheitern begleitet uns konstant. Die Revolution ist keine Party. Schließ dich einer kämpferischen Organisation an, schau ob es vielleicht schon organisierte Betriebsgruppen in deiner Ausbildungsstätte oder auf deinem Arbeitsplatz gibt, die sich gegen die Angriffe der Bosse und gegen die rassistische Spaltung am Arbeitsplatz wehren. Schau ob in deiner Nachbarschaft schon Widerstand gegen zu hohe Mieten oder rassistische Polizeiübergriffe besteht. Sollte dich nichts von dem überzeugen, was du kennen gelernt hast, dann gründe mit deinen Freund*innen und Genoss*innen selber eine Gruppe, mit dem Anspruch kollektive Lösungen für unsere Probleme zu finden.
Punkt 2: Hat unsere Organisation eine revolutionäre Ideologie? Wenn ich in den letzten Jahren mit kurdischen GenossInnen gesprochen habe, war das der Kern ihrer Kritik an der deutschen Linken. Die Herrschaft des Liberalismus, also der Idee, dass wir alle einfach „individuell“ (individualistisch) und „frei“ (orientierungslos) denken und handeln, hat dazu geführt, dass viele Ideologie und Dogmatismus gleichsetzen, und somit jede Ideologie ablehnen. Denn niemand will dogmatisch sein. Aber Ideologie ist nur das Denksystem, welches unseren Taten zugrunde liegt. Alles ist ideologisch, das Märchen vom „Zeitalter ohne Ideologie“ nach dem Zusammenbruch des Sozialismus dagegen kapitalistische Ideologie in Reinform. Ideologie kann zum Beispiel bürgerlich-kapitalistisch, faschistisch-reaktionär oder proletarisch-revolutionär sein. Dogmatisch wird aber nur derjenige, der die Ideologie nicht oder nur oberflächlich verstanden hat. Ohne revolutionäre Ideologie fischt eine Organisation ihre Ideen nur aus dem giftigen Tümpel des bestehenden Systems.
Dieser Punkt mag vielen merkwürdig vorkommen. Am Ende entscheidet er aber darüber, ob wir der Gesellschaft einen positiven Gegenvorschlag zum System und ihrer faschistischen „Alternative“ machen können, oder ob wir unsere Kräfte in bloßen Abwehrkämpfen aufbrauchen. Eine antifaschistische (oder revolutionäre) Bewegung verdient ihre Namen nur dann, wenn sie von den Massen der Gesellschaft getragen wird. Die Verankerung dieses Bewusstseins in der Bevölkerung ist die Aufgabe von Revolutionär*innen. Die Folge der Praxis einer „ideologiefeindlichen“ Linken sehen wir heute in Sachsen. Die einfachen Leute haben Probleme, werden aber nur von den Rechten angesprochen. Das ist unser Versagen. Wir dürfen nicht einfach nur kritisieren, wir müssen greifbare, positive Alternativen schaffen.
Punkt 3: Haben wir eine klare Linie gegen Liberalismus? Die Ideologie des Liberalismus ist das Konfetti des Kapitalismus. In ihm vereinen sich die bürgerlichen Ideen des Individualismus, oberflächlicher „Freiheit“ und „Gleichheit“, „Rechtsstaatlichkeit“ und vieler weiterer Märchen des Systems. Wenn dieses liberale System aber selbst den Faschismus hervorbringt, darf der Liberalismus keiner Strategie gegen den Faschismus zugrunde liegen. Damit ist auch der liberale Antirassismus gemeint, der auf Multikulti setzt, Rassismus in seinen Wurzeln aber nicht erklären und besiegen kann. Er selbst ist Teil des Problems. Umso mehr wenn er sich in antifaschistische und revolutionäre Organisationen einschleicht.
Die Realität ist die, dass der Liberalismus in der (radikalen) Linken heute so stark ist wie nie zuvor, und die (radikale) Linke so schwach wie nie zuvor. Das zeigt sich, wenn sich breiter antifaschistischer „Widerstand“ zunehmend nur noch durch Drogenmetaphern und Techno („AfD wegbassen – Hauptsache es knallt“) oder staatlich geförderte Gratis-Konzerte („wir sind mehr“) mobilisieren lässt. Wenn „Freiheit“ für die meisten Linken heute individualistische Freiheit bedeutet, anstatt kollektivem, organisierten und disziplinierten Kampf für die Freiheit aller. Wenn liberaler Antirassismus sich jahrelang an Begrifflichkeiten aufhält, während die Faschisten offen den Rassenkrieg vorbereiten.
Punkt 4: Machen wir eine solide Massenarbeit? Wir sollten nicht gegen, sondern um die Gesellschaft kämpfen. Ein Großteil der Linksradikalen lebt und arbeitet aber in kompletter Entfremdung von den Massen. Viele versuchen noch nicht einmal ihre eigenen Familien, Nachbarn oder Arbeitskollegen politisch auf unsere Seite zu ziehen. Der Faschismus wird aber nicht von ein paar erleuchteten Linksradikalen aufgehalten, sondern von den organisierten, politisierten und kämpfenden Massen. Sie werden diejenigen sein, die bei sich auf der Arbeit ihre rechten Arbeitskollegen davon überzeugen werden, dass „Merkel muss weg“ zwar stimmt, aber dass der Staat und seine jetzigen Parteien gleich mit entsorgt werden müssen, weil sie letzten Endes alle nur auf dem Rücken der einfachen Leute die Interessen des Kapitals durchsetzen.
Statt nur zu kritisieren und weiter das gesellschaftlich vorherrschende Bild der arroganten und überheblichen Antifa befeuern, schenken wir den Massen mehr Gehör, seien wir ihnen eine Hilfe und Unterstützung in ihren realen Problemen. Die maoistische „Massenlinie“ meint genau das, eine grundsätzliche Orientierung an den Problemen der Gesellschaft. Wir müssen die Herzen der Massen gewinnen. Denn wenn sie nicht für den antifaschistischen Widerstand schlagen, schlagen sie bald für den Faschismus. Oder gar nicht mehr.
Punkt 5: Sind wir Internationalist*innen? Wenn nein, werden wir es. Auch wenn die deutsche Linke mit Recht dem Nationalismus gegenüber besonders kritisch ist, darf das nicht dazu führen die Realität der unterdrückten Völker im globalen Süden zu ignorieren. Wir Migrant*innen haben Familie in anderen Teilen der Welt. Wir wissen um die Lebensrealität unter Kolonialismus, imperialistischem Krieg und von Europa unterstützen Militärdiktaturen. Einer deutschen Linke die das nicht anerkennt, wird kein Gehör unter Migantinnen und Migranten finden.
Bilden wir uns nicht nur über Kurdistan, sondern auch über andere Kämpfe und Regionen weiter. Und lernen wir von ihnen. Vor allem dort wo deutsche Waffen hin geliefert werden, wo im Namen von deutschem Kapital gemordet wird. Und dort wo multinationale Konzerne riesige und immer weitere Landstriche und Gemeinschaften zerstören, um die imperiale Lebensweise zu ermöglichen, die unseren Frühstückstisch deckt. Macht „Refugees“ nicht zu eurem privilegierten Fetisch, sondern solidarisiert euch mit allen Migrant*innen in ihren alltäglichen Kämpfen, ob in unseren Heimatländern (Türkei, Palästina, Syrien, …) oder auf den Hauptschulen und Ausländervierteln in unseren Städten in Deutschland.
Ein Aufruf an unsere weißen deutschen Genoss*innen:
Geht aufs Land, in die weißen Vororte, dort wo die Nazis ihre Massenbasis haben. Es bringt nichts sich in den linken Wohlfühl-Oasen der Großstädte zu verschanzen. Im Gegenteil. Geht dorthin, wo die Menschen am ehesten dazu tendieren, von der AfD vereinnahmt zu werden. Geht nicht dorthin, um gegen die Einwohner*innen zu hetzen und euch dabei hinter Transpis zu verstecken. Im Gegenteil, seid offen, hört zu, lernt von ihnen, und begegnet ihnen mit der Überzeugung dass unsere gemeinsamen Gegner im Bundestag und den Chefetagen von Bayer, Daimler, Siemens, BASF, ThyssenKrupp und der Deutschen Bank sitzen. Das ist die Arbeit die ihr machen müsst.
Und zu guter Letzt an die Migrant*innen und alle, die von der faschistischen Gefahr physisch bedroht sind:
Bei aller Empörung über die Geschehnisse im Chemnitz oder vor ein paar Tagen am Kotti (LINK), machen wir uns doch nichts vor. Nicht nur sind Migrant*innen und Kanaks in diesem Land ohnehin doppelt so oft arm und arbeitslos – wir sind auch das erste Ziel der faschistischen Hetze. Wir dürfen nicht die einfachen Opfer sein, die die kommende Welle des Faschismus einfach so auf uns zukommen lassen. Noch weniger dürfen wir Opfer sein, die in dieser Situation auch noch an die Moral ihrer Unterdrücker appellieren, weil wir weiter auf antirassistische Maßnahmen vom Staat und Polizei hoffen. Das wird nicht passieren.
Für alle, die in den kommenden Jahren nicht einfach auswandern können, und alle die es mit dem Antirassismus und Antifaschismus ernst meinen bleibt also nur eine Wahl: eigenständige Organisierung in den Migrantenvierteln und migrantischen Communities für innermigrantische Solidarität und Selbstverteidigung. Das ist die Arbeit die wir machen müssen.
# Titelbild Po Ming Cheung
Quelle: http://lowerclassmag.com/2018/10/deutschland-den-deutschen-was-tun-nach-chemnitz/#more-5852