Erdogans Plan die Opposition durch den vorgezogenen Wahltermin kalt zu stellen ist fehlgeschlagen. Die Opposition CHP stellt einen ebenbürtigen Kandidaten, Iyi-Partei und HDP ebenso.
Die Operation gegen die kurdischen Stellungen im Norden des Irak hatten nicht den erwarteten Effekt.
Die Themen der Kandidaten der Opposition bestimmen den Wahlkampf. Erdogan muss sich immer wieder rechtfertigen.
Zu den Kundgebungen der AKP finden sich viel weniger Menschen als in der Vergangenheit ein. Wohingegen Veranstaltungen der CHP auf großes Interesse stoßen und immer mehr Menschen anziehen.
Erdogan macht jeden Tag neue Versprechungen zu allen möglichen Themen, die er früher abgelehnt bzw. durch die AKP im Parlament verhindert hat.
Letztes Mittel: Gewalt
Vor einer Woche wurde ein heimlich aufgenommenes Video veröffentlicht. Bei einer parteiinternen Versammlung, zu der Journalisten nicht zugelassen waren, sagte Erdogan: „Diese Aussage werde ich draußen nicht machen. Die HDP darf die 10%-Hürde nicht schaffen. Um dieses zu verhindern, sind all Mittel recht. Alles muss getan werden. Man müsste es vor dem Wahltag erledigen.“ Prompt kam es zu Aktionen gegen die HDP, mehrere ihrer Infostände wurden attackiert. In Suruc wurde der blutigste, vorher geplante Angriff durchgeführt. Zwei HDP-Sympathisanten wurden in ihrem Laden von AKP’lern mit Schusswaffen angegriffen – beide wie auch ein Angreifer wurden angeschossen und schwer verletzt. Der Vater der beiden tödlich verletzten HDP-Sympathisanten wurde im Krankenhaus, in das seine Söhne eingeliefert worden waren, von 20 Angreifern geschlagen und später mit einem Kopfschuss hingerichtet. Die ebenfalls anwesende Mutter musste alles mit ansehen.
Durch die ständigen verbalen Angriffe Erdogans auf die Oppositionsführer wird das Interesse der Massen auf eben diese gelenkt und, wie Wahlprognosen bestätigen, eher zum Schaden der AKP.
Die Gewalt gegen Oppositionelle zielt in erster Linie darauf ab die ultra-rechten MHP-Wähler zu gewinnen, von denen über die Hälfte erklärt haben im ersten Wahlgang die MHP (Erststimme) jedoch nicht Erdogan (Zweitstimme) zu wählen. Bislang führten Erdogans Aktionen nicht zu einer Änderung dieser Haltung.
Die Kurden rücken zusammen, auch viele, die bislang die AKP gewählt haben, wenden sich von dieser ab. Im Westen macht der Kandidat der CHP, M. Ince eine gute Figur. Seine Wahlkampfthemen sind gut ausgewählt und er nutzt die Aussetzer Erdogans geschickt für sich und macht diesen zu der lügenden Witzfigur (die er ist).
Der HDP-Kandidat S. Demirtas beteiligt sich aus dem Knast am Wahlkampf, durch Interviews mit Journalisten, per Twitter und beantwortet über seine Anwälte an ihn gestellte Fragen. Besondere Betonung legt Demirtas auf den Aufbau eines demokratischen Landes. Bei seinem „Auftritt“ (wurde im Knast gefilm) beim staatlichen türkischen Fernsehsender TRT erklärte er ausführlich und gut verständlich die Unrechtmäßigkeit seiner Verhaftung und die Willkür der Justiz und wie er sich ein demokratisches und soziales Land mit einem gerechten, parlamentarischen System, im Gegensatz zu Erdogans Plan des Aufbaus einer Diktatur, vorstellt.
Dermitas sagt in seiner Rede immer „wir“ und spricht damit alle an; alle Völker der Türkei, alle religiösen Gruppen, Frauen, Kinder, Jungendliche, Arbeiter, Lohnabhängige. Es ist die gleiche Wortwahl, dieselben Formulierungen, die ihm die Anklage als Unterstützer einer Terrororganisation einbrachten und mit denen seine Inhaftierung begründet wurde.
Erdogan hat Angst, für ihn heißt es bei dieser Wahl „Alles oder Nichts“, denn ihn erwarten im Fall, dass er verliert vier Anklagen wegen Bestechlichkeit (sind z.Zt. eingefroren), eine Anklage wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung sowie unzählige neue Anklagen. Die größte Gefahr stellt für ihn die HDP dar, er muss verhindern, dass diese die 10% Hürde schafft. Dies würde bedeuten, dass die dann nicht an die HDP gehenden Parlamentssitze zum großen Teil an die AKP gingen und diesen somit die Hälfte, wenn nicht sogar die Mehrheit im Parlament verschafft. Wenn die HDP die 10% Hürde nimmt, fällt die Mehrheit der Parlamentssitze an die Opposition. Dann könnte Erdogan sich nur noch retten, wenn er den 2. Wahlgang gewinnt und mit den neuen Befugnissen als Präsident die Regierungsmitglieder ernennt, das Parlament auflöst (was dieses bestätigen muss) und das Land weiterhin per Dekret regiert. Auf diese Weise könnte er seine Diktatur weiter ausbauen und vor allem noch weitere 5 Jahre regieren. Aber die Medaille hat zwei Seiten, denn auch das Parlament wird nach den Wahlen befugt sein die Dekrete des Präsidenten zu blockieren (hierfür werden 360 Parlamentsstimmen von insgesamt 600 benötigt) bzw. sogar ein Untersuchungsverfahren gegen den Präsidenten einzuleiten. Noch ist vieles bezüglich der Auslegung der jeweiligen Befugnisse von Präsident und Parlament im neuen Präsidialsystem unklar.
Nun sind die letzten Tage vor den Wahlen. Nach dem Massaker von Suruc hat es bis heute (19.06.2018) keine weiteren Angriffe auf Oppositionelle gegeben.
In dem verdeckt gefilmten Video sagt Erdogan, man müsse die Wahllokale besetzen bevor die Wahlbeobachter der anderen Parteien kommen und „bevor die Wahlen anfangen, können wir sie bereits gewinnen“. Niemand zweifelt daran, dass die AKP die altbewährten Manipulationen vornehmen wird und diese womöglich noch erweitert hat. Im Ausland fanden die Wahlen bereits statt und tatsächlich erhielten viele Wähler in ihren Wahlumschlägen Stimmzettel, die bereits für die AKP gestempelt waren. Diesbezügliche Beschwerden wurden zwar protokolliert, neue Stimmzettel wurden jedoch nicht ausgegeben. Konsequenzen müssen die hierfür Verantwortlichen nicht fürchten.
Wird die Opposition den massiven Wahlbetrug durch Erdogan verhindern können?
Auf die Wahlbehörden ist kein Verlass, diese stehen schon lange im Dienst von Erdogan. Die Bewachung der Wahlurnen und die Postierung von Wahlbeobachtern in jedem einzelnen Wahllokal wird schwierig sein. In Kurdistan werden sich den Beobachtern schwer bewaffnete AKP’ler entgegenstellen und versuchen sie einzuschüchtern. Im Westen übernehmen es die Polizei und andere Behörden zu verhindern, dass die Wahlbeobachter ihre Aufgabe ausführen können.
Alle Sozialisten und Demokraten sind gefordert die Wahlbeobachter zu unterstützen und die faschistischen Machenschaften zu verhindern, für den demokratischen Wiederaufbau des Landes.
Verfasst für freiesicht.org