Die Kernthese des US-Soziologen Jason W. Moore wirkt auf den ersten Blick wie eine weitere Adaption von Rosa Luxemburgs ökonomietheoretischem Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals“. Doch der erste Anschein trügt. Denn Moore argumentiert nicht nur in Anlehnung an die antiimperialistische Vordenkerin der II. Internationalen, dass im kapitalistischen Weltsystem durch „Revolutionen in der Organisation der Arbeit“ (S. 160) ihre Produktivität gesteigert und durch ursprüngliche Akkumulation stetig mehr Natur inwertgesetzt und Arbeitskräfte kommodizifiert worden sind.
Akkumulation durch Aneignung
Die kapitalistische Zivilisation sei vielmehr seit Mitte des 15. Jahrhunderts auf die zyklische, räumlich und qualitativ expandierende „Aneignung“ (S. 300) von „menschlichen und außermenschlichen Naturen“ (S. 53) angewiesen. Darunter fallen für Moore alle Formen von Energieflüssen und speziesübergreifender Arbeit, die nicht die Form von Lohnarbeit besitzen. Dazu zählen vor allem Sklavenarbeit, zumeist von Frauen verrichtete Haus- und Pflegearbeit oder Arbeit von Tieren und der Natur. Ihre Aneignung zeichne sich dadurch aus, dass sie mithilfe kultureller Prozesse von Wissen und Macht als scheinbar „externe Natur“ (S. 80/190) beziehungsweise „Andere“ (S. 87) konstruiert und so aus dem Kapitalkreislauf herausgehalten würden. Das Kapital greife zur Kapitalakkumulation dennoch auf „Frauen, Natur und Kolonien“ (S. 216) zu, muss für sie aber zum Beispiel keine Löhne bezahlen.
Die bedeutendsten Formen unbezahlter Arbeit und Energieflüsse fasst Moore unter dem Begriff der „Four Cheaps“ (S. 53) zusammen. Gemeint sind: Nahrungsmittel, Arbeitskraft, Energie und Rohmaterialien. Durch ihre Aneignung habe der Kapitalismus als „Projekt“ (S. 206) überhaupt erst historisch entstehen können. Als Projekt fuße er auf der Illusion, von „menschlichen und außermenschlichen Naturen“ unabhängig zu sein. Zum Beispiel wird immer noch Öl produziert und konsumiert, als ob es unerschöpflich wäre. Als „historischer Prozess“ (S. 206) hingegen sei die kapitalistische Produktionsweise Moore zufolge darauf angewiesen, dass Arbeitskraft und Natur einerseits kapitalisiert, das heißt proletarisiert beziehungsweise inwertgesetzt und beide kommodifiziert werden. Andererseits müssten sie gleichzeitig in noch größerem Maße angeeignet werden können. Denn nur diese Verbindung von „Kapitalisierung“ (S. 300) und „Aneignung“ könnte eine „Entwicklungskrise“ (S. 125) am Ende eines „weltökologischen Regimes“ (S. 150) beheben und ein neues ermöglichen. Als weltökologische Regime bezeichnet Moore das einheitliche Zusammenspiel von ökonomischer Akkumulation, politischer Hegemonie und Naturaneignung.
Die aus dieser These entwickelte Zeitdiagnose besteht darin, dass sich am Ende der gegenwärtigen langen Welle, dem Zyklus des langen US-amerikanischen 20. Jahrhunderts, keine Erneuerung der Dialektik von Kapitalisierung und Aneignung abzeichne. Im Gegenteil. Die Krise des neoliberalen Kapitalismus, so führt Moore im letzten der vier Teile des Buchs aus, erhalte ihren besonderen Charakter dadurch, dass beide Prozesse trotz aller Anstrengungen seitens der herrschenden Klasse erschöpft seien. Erstmals in der Geschichte seien die natürlichen Quellen ausgelaugt und die natürlichen Senken liefen vor Müll und Schadstoffen über, wie sich etwa am Klimawandel zeige. Aus der Entwicklungskrise des aktuellen weltökologischen Regimes wird deshalb derzeit eine „Epochenkrise“ (S. 125) analog zu jener, die dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus vorausging.
Weltsystemanalyse + Postmoderne = weltökologische Perspektive
Moores Buch sticht aber nicht in erster Linie wegen seiner gewagten Krisen-Prophezeiung aus der Flut sozial-ökologischer Publikationen heraus, sondern weil sich der US-amerikanische Soziologieprofessor an einer Synthese von Weltsystemanalyse und postmoderner Kulturtheorie versucht. Mit ihrer Hilfe entwickelt er ein theoretisches Gerüst – „eine Perspektive, keine Theorie“ (S. 28, Herv. i. O.) – für eine neue „holistische Erzählung kapitalistischer Entwicklung“ (S. 296). Diese ist eine Kreuzung aus Kapitalismus-Historiographie und der Geschichte der durch Wissen und Macht produzierten Natur. Die Geschichte der kapitalistischen Zivilisation könne, so der Autor, „am besten als Weltökologie von Kapital, Macht und Re/Produktion im Netz des Lebens“ (S. 14, Herv. i. O.) interpretiert werden.
Die wissenschaftliche Originalität und politische Anziehungskraft von „Capitalism in the Web of Life“ besteht gerade in dieser Fusion aus Großer Erzählung à la Fernand Braudel, Giovanni Arrighi und Immanuel Wallerstein und der in Mode gekommenen politischen Ökologie in der Tradition Donna Haraways, Bruno Latours und Neil Smiths. Genau genommen handelt es sich allerdings eher um eine feindliche Übernahme der Weltsystemanalyse durch die poststrukturalistische Philosophie, in deren Zuge die historisch-materialistische Kraft der historiographischen Narration der ersteren auf der Strecke bleibt.
Wider die Dialektik: der oikeios im Netz des Lebens
Das theoretische Herzstück der weltökologischen Perspektive bildet der sogenannte „oikeios“ (S. 33). Der Terminus bezeichnet die „kreative, historische und dialektische Beziehung zwischen menschlichen und außermenschlichen Naturen und auch innerhalb dieser“ (S. 35). Mit anderen Worten: Der oikeios beschreibt die Einheit von und die immerwährende Relation zwischen Mensch und Natur als „einem einzigen Stoffwechsel“ (S. 79). Moore hält diesen Begriff des oikeios für nötig, weil in der Methode der Umweltgeschichte und -soziologie trotz seiner Überwindung in der postmodernen Philosophie mutmaßlich ein „kartesianischer Dualismus“ (S. 33) vorherrsche, demzufolge Gesellschaft und Natur stets als getrennte, wenn auch interagierende Substanzen betrachtet würden.
Der Vorwurf ist aber schlicht pauschal nicht haltbar. Er wird absurd, wenn er gegen ökosozialistische Theorien, wie etwa John Bellamy Fosters, erhoben wird. Moore arbeitet sich maßgeblich an dessen Thesen ab, um die Notwendigkeit seiner „Perspektive“ zu begründen. Fosters Theorie des ökologischen Bruchs ist aber dialektisch und nicht dualistisch. Erstaunlicherweise übergeht Moore in diesem Zusammenhang auch Marx‘ Position. In den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ schreibt dieser, dass „nicht die Einheit der lebenden und tätigen Menschen mit den natürlichen, unorganischen Bedingungen ihres Stoffwechsels mit der Natur (…) der Erklärung“ bedürfe, sondern „die Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein, eine Trennung, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital“ (Grundrisse 1953: S. 389, Herv. i. O.).
Moore hingegen meint, dass Natur und Gesellschaft nicht miteinander interagierten, sondern beide entwickelten sich durch einander. Kapitalistische Gesellschaften zerstörten dementsprechend nicht die Natur, sondern bildeten lediglich neue Relationen mit ihr aus.
Der oikeios müsse als „Bündel menschlicher und außermenschlicher Naturen“ (S. 7) verstanden werden. Kapitalismus könne besser begriffen werden als „Kapitalismus-in-Natur“, Natur als „Natur-im-Kapitalismus“ (S. 24). Der Kapitalismus internalisiere also immer die Natur und andersherum, sie produzierten einander. Dies nennt Moore die „doppelte Internalität historischer Veränderung“ (S. 78).
Gemeinsam formten die stets miteinander vermittelten Seiten der „doppelten Internalität“ das „Netz des Lebens“ (S. 12). In diesem bilde der oikeios „konkrete historische Einheiten“ (S. 41) heraus. Sie zeichneten sich durch zeitliche und räumliche Konfigurationen beziehungsweise Artikulationen von Kapital, Macht und Natur – die weltökologischen Regime – aus. Der „weltökologische Ansatz“ (S. 42) dient dazu, diese Regime der kapitalistischen Zivilisation zu analysieren und darzustellen.
Die grundsätzlichen theoretischen Probleme, die diese Positionen mit sich bringen, sind vielfältig. Natur wird bei Moore nicht nur de facto ideologisch „vergesellschaftet“, d.h. als Produkt sozialer Beziehungen aufgefasst, damit ihrer relativen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit beraubt und mit verdinglichten gesellschaftlichen Relationen – der sogenannten zweiten Natur – vermengt. Der US-Soziologe reduziert zudem die Dialektik von Natur und Gesellschaft entgegen eigener Absichtserklärungen auf deren Einheit. Die ökologische Krise als Zerstörung der Natur und Überschreitung ihrer Grenzen fällt folglich aus dem weltökologischen Theorie-Rahmen. Es geht Moore lediglich darum, ob und wie die von der kapitalistischen Zivilisation stetig neu geschaffenen eigenen Grenzen gesetzt und überwunden werden.
Die Revision des marxschen und Moores neues Gesetz der billigen Natur
Die Nabelschnur, die in der Geschichte des oikeios das kapitalistische Weltsystem und die jeweils produzierte „historische Natur“ (S. 196) miteinander zu weltökologischen Regimes verbindet, ist Moore zufolge das marxsche Wertgesetz. Allerdings unterzieht er es zum Zweck der Artikulation von Akkumulation und Macht einerseits und Natur andererseits ausdrücklich einer „Revision“, auch wenn Moore behauptet, dass es keine Revision „im engeren Sinne“ (S. 204) sei.
Obgleich der Wert nur durch menschliche Arbeit geschaffen würde, könnten die „Wertbeziehungen“ (S. 193) nicht auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit reduziert werden. Vielmehr schlössen sie die Beziehungen zwischen Kapital und „unbezahlten ,ArbeiterInnen‘“ (S. 200) ein, wobei neben Frauen und Sklaven auch Tiere und die Natur als solche zu berücksichtigen seien. Allerdings gehe die von ihnen geleistete Arbeit nicht unmittelbar in die Wertproduktion ein. Sie ermögliche nichtsdestotrotz die Entstehung neuer Akkumulations- und Hegemoniezyklen, weil KapitalistInnen von den niedrigen Preisen insbesondere von Nahrungsmitteln, Arbeitskräften, Energieflüssen und Rohmaterialien (den oben genannten „Four Cheaps“) profitierten. Das Geheimnis dieses „neuen Wertgesetzes“ (S. 70) sei die „epochale Synthese von Ausbeutung der Arbeitskraft und Aneignung unbezahlter Arbeit/Energie“ (S. 302). Dabei komme es allerdings auf das quantitative Verhältnis an. Es müssten stetig mehr Natur und Energie angeeignet als Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Das neue Wertgesetz im Kapitalismus sei folglich „ein Gesetz billiger Natur“ (S. 53).
Es ist ein überaus drängendes Vorhaben kritischer Gesellschaftstheorie, der historiographischen Hypothese eines Zusammenhangs zwischen der Aneignung der Arbeit von Natur und Tieren, von Sklaven und nicht-lohnarbeitenden Frauen einerseits und der Ausbeutung der Lohnarbeit andererseits nachzugehen. Allerdings ist der theoretische Unterbau der weltökologischen Perspektive dafür nicht nur philosophisch, sondern auch werttheoretisch ungeeignet. Bei dem Versuch, die marxsche Wertformanalyse und die historische Entwicklung der kapitalistischen Zivilisation miteinander in Einklang zu bringen, verändert Moore das Wertgesetz bis zur Unkenntlichkeit. Der Motor der kapitalistischen Geschichte wäre dem Gesetz der billigen Natur zufolge nicht mehr der politisch-ökonomische Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Vielmehr bestimmte der dem Klassenkampf vorgelagerte wissenspolitische „Wettbewerb zwischen den miteinander wettstreitenden Visionen von Leben und Arbeit“ (S. 205) die Historie seit 1450.
Quelle: https://kritisch-lesen.de/rezension/kapitalismus-als-weltokologie