Diskussion: Revolutionäre Stadtteilarbeit ist ein Teil der Klassenpolitik
Die Bedingungen für eine kontinuierliche Selbstorganisierung im Betrieb sind in den vergangenen Jahrzehnten schwieriger geworden. Infolge der neoliberalen Umstrukturierung der Arbeitsorganisation gibt es kaum noch feste Belegschaften, die über einen längeren Zeitraum miteinander und unter denselben Bedingungen arbeiten und so gemeinsame Interessen und Kämpfe entwickeln können. Zudem gehören häufige Betriebswechsel heute ebenso zur normalen Arbeitsbiographie wie Phasen von Arbeitslosigkeit oder geringfügiger Beschäftigung. Die wenigen Arbeitskämpfe, die trotzdem noch entstehen, werden weitgehend von den Funktionär_innen reformistischer Gewerkschaften und Betriebsräte dominiert und begrenzt (Anm. 1).
Gleichzeitig werden im Prozess der kontinuierlichen Kapitalakkumulation immer mehr Bereiche des Lebens der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen. Mit der Folge, dass öffentliche Räume zunehmend kommerzialisiert werden, Mieten steigen, staatliche Kontrolle und Überwachung wachsen, sich Lebensformen und Konsummuster verändern und Privatisierungen im Bereich der sozialen Reproduktion ausweiten (z.B. Gesundheit, Bildung, Betreuung). In den vergangenen Jahren haben Auseinandersetzungen in diesen Bereichen zugenommen, wie die Proteste um steigende Mieten und Zwangsräumungen in Berlin zeigen. In einer klassenkämpferischen Praxis kann es deshalb nicht nur um die Bedingungen gehen, unter denen Wert produziert wird, sondern auch um die Bedingungen und genannten Bereiche, in denen Wert realisiert wird (Anm. 2).
Organisierung
Die genannten Veränderungen sind ein Faktor, warum ärmere Stadtteile als Orte für die Entwicklung einer revolutionären und klassenbezogenen Praxis in unseren Fokus gerückt sind. Wir stellen Stadtteilarbeit dabei nicht einer Klassenpolitik in den Betrieben entgegen. Vielmehr ist Stadtteilarbeit für uns Teil einer Klassenpolitik und in sich auch darauf ausgerichtet, die Dynamiken und Entstehungsbedingungen für Kämpfe in den Betrieben zu verbessern (Anm. 3). Kämpfen in der Produktion kommen durch den direkten Einfluss auf das Getriebe der kapitalistischen Maschinerie nach wie vor eine strategisch besondere Rolle zu. Außerdem versuchen reaktionäre Kräfte immer stärker in Betrieben und Arbeitskämpfen aktiv zu werden (ak635). Daher halten wir es für notwendig, über die Stadtteile hinaus neue Formen linker Betriebsarbeit zu entwickeln und zu stärken.
Die strategische Bedeutung revolutionärer Stadtteilarbeit ergibt sich auch aus den Bedingungen für die Entwicklung eines, von einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung getragenen Kampfes gegen das System als Ganzes. Durch eine kontinuierliche Praxis und Organisierung im Stadtteil ist es effektiver möglich, unterschiedliche (Alltags-) Kämpfe aufeinander zu beziehen, miteinander zu verbinden, dadurch die gemeinsamen, zugrunde liegenden Interessen erkennen und in eine politische Perspektive transformieren zu können. Denn wir verstehen unter Stadtteilpraxis nicht „bloß“ den Kampf gegen steigende Mieten und Gentrifizierung. Der Stadtteil ist für uns vielmehr ein sozialer Ort, an dem Menschen leben, die sich in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden (wie z.B. unterschiedliche Arbeits- und Nichtarbeitsverhältnisse) und (teilweise gleichzeitig) von verschiedenen Unterdrückungsverhältnissen betroffen sind. Im Stadtteil ist es möglich, vielfältige Perspektiven zu vereinen. Dazu gehört insbesondere auch die Sphäre der sozialen Reproduktion, wo sich u.a. viele patriarchale Unterdrückungsmechanismen manifestieren.
Frauen spielen dementsprechend bei der Organisierung rund um Alltagskonflikte im Stadtteil als potenzielle politische Subjekte eine wichtige Rolle, was sich etwa in der hohen Beteiligung von Frauen an unseren Aktivitäten widerspiegelt. Das berichten auch Genoss_innen aus anderen Ländern, wie etwa die PAH in Spanien (ak 612). Die konsequente Stärkung einer feministischen Perspektive und Organisierung ist ein wesentlicher Bestandteil revolutionärer Stadtteilarbeit. Zudem ist in ärmeren Stadtteilen der Anteil an Migrant_innen vielerorts sehr hoch. Sie leiden meist nicht nur unter prekären Arbeits- und Lebensbedingungen sondern etwa auch unter rassistischen Sondergesetzen und Polizeikontrollen sowie Diskriminierung auf Ämtern. Insofern lassen sich hier Alltagskämpfe um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen nicht von antirassistischen oder antifaschistischen Kämpfen trennen.
Für die Entwicklung einer internationalistischen Perspektive ist die Beteiligung von Migrant_innen an Kämpfen zudem unabdingbar – auch wenn uns bewusst ist, dass auch innerhalb migrantischer Gruppen sehr starke nationalistische und rassistische Spaltungen vorherrschen. Eines der Ziele revolutionärer Stadtteilarbeit ist es deshalb, Möglichkeiten zu schaffen, in denen Menschen über nationale und religiöse Grenzen hinweg anhand gemeinsamer Interessen zusammen kommen. In unserer eigenen kurzen Praxis konnten wir dies erleben, als Bewohner_innen einer Hochhaussiedlung, die über Jahre fast keinen Kontakt miteinander hatten, zusammen gekommen sind, um sich gemeinsam gegen den Vermieter zur Wehr zu setzen. Vorausgegangen waren regelmäßige offene Café-Treffen, die wir beharrlich persönlich beworben hatten und auf denen wir kontinuierlich die Mietsituation thematisiert haben. Auf den Treffen wurden nicht nur gemeinsame Forderungen gegenüber dem Vermieter artikuliert, einige Bewohner_innen betonten die Bedeutung der Bewohnerversammlungen, um Probleme des Zusammenlebens (wie Müll, Konflikte) lösen.
Ein weiterer zentraler Vorteil von Stadtteilarbeit liegt in der Möglichkeit, Selbstverwaltungsstrukturen (Stadtteilkomitees) aufzubauen, über die zunehmend Entscheidungen und damit die Kontrolle über den eigenen Alltag kollektiv und selbstbestimmt getroffen werden können. Solche Erfahrungen des gemeinsamen Handelns von unten und eine widerständige Infrastruktur sind zentrale Faktoren, die sich in Zeiten von grundlegenderen Auseinandersetzungen entscheidend auf Verlauf und Ausgang von Kämpfen auswirken können (Anm. 4).
Emanzipatorisches Handeln statt bürgerliche Mehrheiten
Eines der Hauptziele einer revolutionären Basisarbeit ist es, Möglichkeiten zu schaffen und auszuweiten, in denen sich Menschen an einem kollektiven Prozess der Subjektwerdung und Aneignung eines emanzipatorischen Politikverständnisses beteiligen können. Das beinhaltet: Möglichkeiten, sich ein kritisches Bewusstsein aneignen zu können; die Erfahrung zu machen, dass kollektive und emanzipatorische Kämpfe möglich und realistisch sind; die Selbstermächtigung zu erleben, die in der eigenständigen Organisierung der Kämpfe von unten liegt und gemeinsam eine emanzipatorische Kultur der Selbstorganisation zu entwickeln, statt abhängig von hierarchischen, repräsentativen und interventionistischen Modellen zu sein.
Gerade in den ärmeren Stadtteilen haben in den vergangenen Jahrzehnten reaktionäre, nationalistische und religiöse Kräfte erfolgreich Basisarbeit geleistet und so zur Spaltung beigetragen. Gleichzeitig haben staatliche Institutionen mit vielfältigen Instrumenten des Sozialmanagements (Runde Tische, Bürgerbeteiligung, Präventionsräte, etc.) soziale Widersprüche entpolitisiert und Interessengegensätze verschleiert. Linke Kräfte waren weitgehend abwesend. Revolutionäre Stadtteilarbeit möchte über Jugendarbeit, Frauenorganisierung, den Aufbau einer Stadtteilgewerkschaft, Bildungsarbeit, soziale und kulturelle Aktivitäten etc. revolutionäre Ideen, Kritik und Kampfformen wieder zurück in das Leben und den Alltag derjenigen bringen, die von diesem System am meisten unterdrückt werden.
In der Diskussion um neue Klassenpolitik und Stadtteilarbeit ist uns wichtig, den Unterschied zu Ansätzen deutlich zu machen, die vorwiegend über Bündnisse mit sozialen und politischen Institutionen und über Interventionen in Kämpfe und Kampagnen versuchen, eine Veränderung von Machtverhältnissen, Hegemonie und Diskursen von oben zu erreichen. Eine Politik, die darauf abzielt, innerhalb bürgerlicher Verhältnisse Mehrheiten zu gewinnen und politische Forderungen durchzusetzen, taugt jedoch nicht im gleichen Maße für den Aufbau jener emanzipatorischen Verhältnisse und Veränderungen, die wir anstreben. Denn Emanzipation bedeutet nicht allein die wirtschaftliche und staatlich-institutionelle Reorganisation der Gesellschaft, Machtverschiebungen innerhalb ihrer Mehrheitsstrukturen oder das bloße Zurückdrängen von Unterdrückungsideologien im Rahmen eines (vor allem diskursiv verstandenen) Kampfes um Hegemonie und dessen formaljuristisch-institutionelle Absicherung. Unter Emanzipation verstehen wir die umfassende Perspektive einer vollkommen anderen Gesellschaft, politische und soziale Gleichheit, die Überwindung von Klassenverhältnissen jeglicher Art, echte Freiheit und Selbstbestimmung, wechselseitige Anerkennung, unmittelbare Solidarität und gegenseitige Hilfe, die größtmögliche Befähigung aller Menschen zur vollständigen Entfaltung ihrer Fähigkeiten und zur Verwirklichung ihrer Bedürfnisse sowie eine radikale Transformation aller menschlichen Beziehungen.
Ein derart grundllegender Wandel der Verhältnisse ist nicht über eine Politik zu erreichen, die innerhalb der Logik und Begriffssysteme des Bestehenden agiert, sondern nur über die Entwicklung und Erfahrung einer echten emanzipatorischen Kultur von unten, die von den Beteiligten unmittelbar selbst bestimmt und gestaltet wird und deren Andersartigkeit in sämtlichen Lebensbereichen erfahrbar wird. In einer Zeit, in der die letzten Spuren emazipatorischer Bewegungen in diesem Sinne aus dem gesellschaftlichen Alltag, auch aus dem der radikalen Linken, verschwunden sind, ist es das vorrangige Ziel revolutionärer Arbeit, hier die Fundamente zukünftiger Entwicklungen zu legen. Deshalb steht für uns bei allen Ansätzen, die wir im Stadtteil verfolgen, immer an zentraler Stelle, dass wir repräsentative, bürgerlich-institutionelle, beratende und vermittelnde Methoden und Bündnisse vermeiden und stattdessen das unmittelbare kollektive Handeln, die direkte Aktion, den Aufbau von kämpferischen Strukturen, Solidarität und umfassende Selbstorganisation konsequent in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen.
Ein Schritt in die Praxis
Zusammen mit einigen Genoss_innen sind wir in den vergangenen Monaten in einem der ärmsten Stadtteile Bremens erste Schritte einer revolutionären Stadtteilarbeit gegangen. Diese basiert momentan auf vier Ebenen: Erstens bauen wir eine Stadtteilgewerkschaft auf, in der Menschen sich in unterschiedlichen Konfliktfeldern und Kämpfen des alltäglichen Lebens gegenseitig unterstützen, gemeinsam organisieren und wehren. Es geht hier sowohl um Mietkämpfe, Arbeitskämpfe und Auseinandersetzungen mit Ämtern als auch Kämpfe gegen Patriarchat und Rassismus. Die Stadtteilgewerkschaft besteht aus einem offenen Anlaufpunkt. Außerdem mobilisieren wir mit dem Fokus Leiharbeit speziell zu betrieblichen Themen.
Die zweite Ebene umfasst soziale Aktivitäten, aktuell in Form von offenen Cafés, zu denen wir Menschen aus dem Stadtteil einladen und in denen wir in lockerer Atmosphäre über unterschiedliche Themen wie Miet- oder Arbeitsrecht etc. ins Gespräch kommen. Als dritte Ebene begreifen wir kulturelle Veranstaltungen. Als eine Möglichkeit haben wir begonnen, regelmäßig Filme zu zeigen, die ihrerseits Erfahrungen transportieren und über die wir gemeinsam diskutieren können. Die bisher letzte Ebene ist die Präsenz auf der Straße. Wir verteilen Flyer, machen Infotische, gehen von Tür zu Tür, knüpfen Kontakte und bauen Beziehungen auf. Obwohl wir seit kurzem einen eigenen kleinen Stadtteilladen haben, bleibt die Straße als Ort von zentraler Bedeutung.
Auch wenn wir in der kurzen Zeit schon positive Erfahrungen gemacht haben, ist es für eine ausführliche Bewertung unserer Praxis noch zu früh, ebenso für ausgiebige Erfolgsgeschichten. Wir begreifen revolutionäre Stadtteilarbeit als einen langfristigen Prozess, in dem immer wieder neue Fragen auftauchen und neue Antworten gefunden werden müssen. Die Herausforderung bleibt, wie überall, Menschen über einzelne Kämpfe hinweg für die Beteiligung an kollektiven Strukturen von unten zu gewinnen und Methoden zu finden, mit denen über Organisierungsprozesse hinaus auch politische Subjektivität ausgebildet werden kann. Dabei müssen wir das Rad nicht neu erfinden, sondern können auf vielfältige Erfahrungen von revolutionärer gesellschaftlicher Basisorganisierung in anderen Ländern zurück greifen.
Anmerkungen:
(1) Zwei Betriebskämpfe, die dies belegen und an denen einzelne von uns selbst beteiligt waren, sind die bei GHB Bremerhaven 2009/10 und bei Atlas Maschinenbau in Delmenhorst 2010. Eine sehr lesenswerte Dokumentation typischer Vorgehensweisen von Gewerkschaftsfunktionär_innen zur Entmachtung sich radikalisierender und selbst organisierender Arbeiter_innen hat die Zeitschrift Wildcat anlässlich des 2006er Streiks bei Bosch Siemens Haushaltsgeräte in Berlin vorgenommen: Wildcat Nr. 78 und Nr. 79, Winter 2006/2007. Ein Teil davon findet sich online unter https://www.wildcat- www.de/wildcat/78/w78_bsh.htm
(2) Siehe Interview mit David Harvey https://malaboca.noblogs.org/files/2015/12/Harvey_Interview_ROAR_issue_0.pdf
(3) Diese Dynamik wurde von der Gruppe Angry Workers of the World sehr gut beschrieben. https://freiesicht.org/2017/von-solidarity-networks-zur-organisierung-der-klasse-in-zeiten-von-labourhalluzinationen/
(4) Siehe dazu unser Diskussionpapier „11 Thesen zur Neuausrichtung linksradikaler Politik“ https://linkezeitung.de/2016/05/24/11-thesen-ueber-kritik-linksradikaler-politik-organisierung-und-revolutionaere-praxis/
Quelle: Hier der Text von kollektiv aus Bremen, erschienen in der Analyse & Kritik (Nr. 636 vom 20.03.2018):