Mit Sahra Wagenknechts Äußerungen nach den rassistischen Hetzjagden in Chemnitz, dass man doch zwischen organisierten Nazis und besorgten Bürgern unterscheiden müsse, erreicht linke Solidarität mit Migrant_innen, Geflüchteten und People of Color (PoC) einen neuen Tiefpunkt. Die Parteilinke trennt sich nun an der Migrationsfrage endgültig, zwar vorerst noch nicht formal, in jedem Fall aber strategisch, in eine migrationsfeindliche (#aufstehen) und eine migrationsfreundliche (#unteilbar) Volksfrontstrategie auf.
In der sozialistischen, postautonomen bis radikalen Linken gibt es eine ähnliche theoretische Konfliktlinie. Sie verläuft zwischen den Vertreter_innen der »Neuen Klassenpolitik« einerseits und ihrer immanenten antirassistischen sowie externen »subjektivitätspolitischen« Kritik andererseits: Die »subjektivitätspolitische« Seite wirft den Vertreter_innen der »Neuen Klassenpolitik« ökonomistischen Marxismus vor, diese der ersteren wiederum politizistischen Postmarxismus.
So, wie sie derzeit geführt wird, führt diese Debatte meines Erachtens zu einer Lernprozesse hemmenden Diskurslage, die den notwendigen Streit um die strategische Ausrichtung »revolutionärer« Politik erschwert. Denn Konsens besteht in der sozialistischen bis radikalen Linken eigentlich darin, dass es verschiedene Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse gibt, gegen die es verschiedene Kämpfe braucht. Produktiven Konflikt braucht es aber über Fokussierung, Priorisierung und Politikmodus. Diese Konflikte werden meiner Meinung nach systematisch ausgeblendet. Viele Diskussionen in der Linken haben einen Charakter des »sowohl als auch« oder »man darf das eine nicht gegen das andere« ausspielen. So richtig die triviale Einsicht ist, dass es sowohl feministische, antirassistische und ökologische Kämpfe als auch mieten-, friedens- und arbeitspolitische (Klassen-)Kämpfe zu führen gilt, so wenig ist damit aber unter begrenzten Zeitressourcen strategisch ausgesagt.
1.Neue Klassenpolitik und neuer Klassenreduktionismus
Mario Neumann und Sandro Mezzadra haben im Zuge der Debatte um Neue Klassenpolitik auf das Wiederaufleben des Hauptwiderspruchsdenkens in der Linken hingewiesen. (1) Sie unterscheiden dabei zwischen einer vulgären und einer komplexen Variante. Die #aufstehen-Version ist nicht nur vulgär, sondern auch reformistisch in der unbedingten Adressierung des Nationalstaats. Von linksradikal marxistischer Seite wird zwar eher selten der Nationalstaat angerufen, dennoch gibt es in der faktischen Debattenführung, etwa was migrantische/Schwarze Themen anbelangt, eine klare Unterrepräsentation; z.B. kaum Klassenanalyse zu Kämpfen von Geflüchteten in Unterkünften oder gegen Abschiebungen.
Die von Autor_innen der Debatte geforderte Überwindung der falschen Gegenüberstellung »Antirassimus oder Klassenfrage« (so zum Beispiel Sebastian Friedrich in seinem Beitrag »Für eine Neue Klassenpolitik« in ak 627 (2)) wird damit faktisch leider oft geschleift. Das hängt auch damit zusammen, dass die (mehrheitlich weißen) Autor_innen der »Neuen Klassenpolitik« das Migrationsklassenwissen der letzten 20 Jahre, wie es in der immanenten, solidarischen Kritik von Ceren Türkmen (3) deutlich wurde, meist nicht verarbeiten. Damit läuft die Debatte vielfach auf ein formales Bekenntnis à la die »Arbeiterklasse ist buntscheckig« und »alle (Klassen-)Kämpfe sind wichtig« hinaus, das sich in der entworfenen Politik jedoch nicht zeigt. Diese bleibt faktisch eher am Hauptwiderspruch orientiert.
2.Die identitätspolitische Pappkameradin
Schwerwiegender als die Selbstverschleierung dieses Reduktionismus wirkt allerdings, dass zusätzlich eine identitätspolitische Pappkameradin aufgebaut wird. Obwohl keine linke Gruppe mit revolutionärem Anspruch sich jemals positiv auf Identitätspolitik bezogen hat, wird behauptet, Identitätspolitik würde linksradikale Politik prägen oder sogar dominieren.
Meines Erachtens passiert hier ein Kategorienfehler, der linksliberale und linksradikale Politik in eins setzt – und damit auch humanitär migrationsfreundliche und revolutionäre antirassistische Positionen zu ein und derselben Sache erklärt. Dass es heute Diversity-Management von Kapitalseite und staatliche Identitätspolitik gibt, ist ja richtig. Das Problem lautet hier aber nicht Identitätspolitik, sondern Reformismus. Natürlich ist es richtig, dass Staat und Kapital Angebote an neue soziale Bewegungen gemacht haben. Aber gab es mit dem sogenannten Wohlfahrtsstaat nicht ähnliche Angebote auch, zuerst und vor allem an weiße Arbeiter? Aus revolutionärer Perspektive müsste reformistische Sozialpolitik ebenso kritisiert werden wie reformistische Identitätspolitik, nationalstaatlicher Wohlfahrtschauvinismus ebenso wie liberaler Kosmopolitismus. Das sollte nicht die entscheidende Konfliktlinie in der revolutionären Linken sein. Die Frage sollte nicht lauten: »Antirassismus oder Klassenpolitik?«, sondern was ist revolutionärer Antirassismus als Klassenpolitik? Und wie kann er mit anderen Kämpfen bestmöglich verbunden werden?
3.Klassenspaltung als Krisenbearbeitung
Konsens besteht meines Erachtens weiterhin darin, dass es eine Spaltung der Arbeiterklasse entlang von race und gender gibt. Der historisch-materialistische Feminismus etwa von Silvia Federici hat herausgearbeitet, dass sich Kapitalismus gewaltvoll durch die besondere Zurichtung, Ausbeutung und sogar Vernichtung (»Hexenverbrennung«) von (widerständigen) Frauen und PoC konstituierte. Historisch gibt es keinen Kapitalismus ohne männlich-weiße Lohnarbeit und keine männliche Lohnarbeit ohne weibliche Reproduktionsarbeit und Schwarze Sklavenarbeit.
Dissens besteht darin, wie wichtig und grundlegend diese Klassenspaltung ist. Teilweise wirkt es in der Diskussion um Neue Klassenpolitik so, als ob die alte Klassenpolitik jetzt einfach von einem größeren, buntscheckigeren Subjekt, nämlich auch von Frauen und People of Color getragen werden könnte. Unterreflektiert ist darin aber zum einen, dass wenn etwa PoC Teil der Klasse sind, auch genuine Kämpfe von People of Color Klassenkämpfe sind. Auch der Kampf gegen Abschiebungen ist somit, wie Katharina Schönes und Hannah Schultes in ak 639 festgehalten haben (4), kein identitätspolitischer Kampf, sondern ein Kampf der Klasse darum, in der Peripherie nicht zusätzlich ausgebeutet zu werden.
Unterreflektiert ist zweitens, dass »Weiße« und »Männer« von der zusätzlichen Unterdrückung von Frauen und People of Color profitierten und profitieren, und zwar sowohl materiell als auch ideologisch. Das heißt, dass weiße Männer ein eigenes Interesse haben, dass Frauen Reproduktionsarbeit machen und PoC mehr ausgebeutet werden. Sie bilden strukturell in ihrer Identität als Weiße und Männer ein privilegiertes Klassensegment. Gender Pay Gap und Migration Pay Gap sind ein polit-ökonomisches Verhältnis.
Unter diesen Vorzeichen ist die Wahl von rechten Parteien besonders durch »abgehängte« weiße Männer nicht irrational. Denn die rechten Parteien versprechen ihnen zumindest ideologische Aufwertung, die mittelfristig zumindest mit einem weniger schnellen materiellen Abstieg einhergeht, da die Ausbeutung insbesondere der rassifizierten »Anderen« erhöht wird. Das ist das zentrale Versprechen der rechten Krisenbearbeitung. Dass linke Kritik an den neoliberalen Sozialprogrammen der Rechten weitestgehend wirkungslos bleibt, untermauert diese Hypothese.
4.Reproduktion und Revolution
Aus dem ersten Punkt kann meines Erachtens gefolgert werden, dass Frauen und PoC einerseits immer schon mehr Klassenpolitik machen (müssen), um in gleicher Weise an sozialen Kämpfen teilzuhaben. Mehrdimensionale Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung heißt einfach notwendig auch politische Mehrfacharbeit. Andererseits, dass sie unter dem Druck der Krisenbearbeitung von oben und von rechts Teile der Klasse sind, die in den nächsten Jahren besonders viel kämpfen müssen und insbesondere ein Klassenbewusstsein ausbilden werden. Einfach weil sie zum Beispiel in Chemnitz nicht vom rechten Mob totgeschlagen werden wollen, müssen sie sich organisieren. Das müssen Weiße weniger.
Aus dem zweiten Befund kann gefolgert werden, dass die rechte Krisenbearbeitung eine neue toxische Männlichkeit und eine neue Whiteness als Intergrationskraft ihres Projekts benutzen, produzieren, verbreiten wird. Etwa mit der Idee, »weiße Frauen« vor Schwarzen »Fremden« beschützen zu müssen.
Anstatt nun in der vulgären oder elaborierten Form eines Klassenreduktionismus Zugeständnisse an die rechte Krisenbearbeitung oder die reformistische Volksfrontstrategie zu machen, müssen vermeintlich identitätspolitische Kämpfe erstens endlich als Klassenkämpfe politisiert werden. Und zwar gerade nicht als (kosmopolitische) Migrations- oder Gastfreundlichkeit, sondern als genuine Klassensolidarität. In der schwachen Formulierung müssen »Weiße« und »Männer« gegen Vergewaltigungen und Abschiebungen kämpfen, weil das Klassensolidarität ist. Zweitens ist die politische Arbeit für Menschen, die mehrfachdiskriminiert sind und intensiver ausgebeutet werden, wesentlich anstrengender und erfordert viel mehr Ressourcen. Der teilweise existenzielle Kampf darum, nicht durch patriarchale Gewalt ermordet oder durch rassistische Gewalt abgeschoben zu werden, muss besondere Solidarität erfahren. In der starken Formulierung sollten »Weiße« und »Männer« also besonders gegen Rassismus und Sexismus kämpfen, weil sie damit vorhandene Privilegien ausgleichen. Sie sollten sich dafür engagieren, die politische Kampfkraft von Frauen und PoC zu stärken, etwa indem sie sie von Reproduktionsaufgaben entlasten, jedenfalls ihre Kämpfe nicht als »identitätspolitische« Anliegen abwehren. Meine These lautet, dass Identitätspolitik dann überflüssig wird, wenn es ausreichend reproduktionsorientierte Klassensolidarität gibt.
Außerdem möchte ich vorschlagen, Identitätspolitik wieder mehr dekonstruktiv zu verstehen in dem Sinn, dass revolutionäre Identitätspolitik eigentlich Identitätskritik bedeutet. Das heißt, dass es um die Aufhebung von »Weiß-Sein« und »Mann-Sein« als auch ökonomische Strukturkategorien geht. Männer und Weiße müssen aufhören, sich so zu identifizieren, und dabei auch Kämpfe gegen ökonomische Ungleichheiten innerhalb der subalternen Klassen anerkennen. Dabei geht es natürlich nicht um einen individuellen Schuldkomplex, sondern darum, strukturell bedingte Ungleichheiten in der notwendigen Reproduktionsarbeit (die immer noch als vorpolitisch abgewertet ist) kollektiv zu politisieren und auszugleichen. Es geht also darum, die Frage und den Konflikt aufzuwerfen, wer wie viele Ressourcen aufbringen muss, um überhaupt als politischer Akteur auftreten zu können. Es geht um reproduktionsorientierte Klassensolidarität und darum, dass Männer und Weiße eine Freude daran entwickeln, race und gender traitors zu werden.
Anmerkungen:
1) In ihrem Beitrag »Jenseits von Interesse und Identität« auf dem Debattenblog der Interventionistischen Linken: blog.interventionistische-linke.org.
2) www.akweb.de/ak_s/ak627/18.htm
3) www.akweb.de/ak_s/ak637/02.htm
4) www.akweb.de/ak_s/ak639/34.htm
Quelle: https://www.akweb.de/ak_s/ak641/29.htm