Elf Tage sind seit dem Beginn der dritten Runde des LKW-Streiks im Iran vergangen[1]. Der ersten Runde des Streiks (ab dem 22. Mai 2018) war eine Eskalation der Wirtschaftskrise des Landes[2] (einschließlich des drastischen Rückgangs des Wertes der Landeswährung) und infolge eine Verschlechterung der Lebensbedingungen voraus gegangen. In der ersten Streikrunde protestierten die LKW-Fahrer gegen fehlende Zahlungen der staatlichen Beiträge zu den Versicherungskosten der LKW-Fahrer, hohe Straßengebühren für den Gütertransport, steigende Preise für Reifen und Ersatzteile, sowie missbräuchliches Verhalten und Bestechung seitens der Verkehrsbeamten.
Diese Streiks führten zu einer Unterbrechung der Treibstoffverteilung im Iran, so dass die Revolutionsgarden intervenieren und ihre Transportflotte zum Einsatz bringen mussten. Trotzdem wurden die Forderungen der Streikenden nach einer Verbesserung ihrer prekären wirtschaftlichen Lage nicht erfüllt und die Versprechungen der Beamten und Parlamentarier verliefen im Sand. Gleichzeitig wurden 17 Fahrer verhaftet und 9 von ihnen vor Gericht gestellt. Dies führte dazu, dass die unzufriedenen Fahrer am 23. Juli zu einer zweiten Streikrunde aufriefen und ihre Kollegen im ganzen Land baten, „die Lastwagen auszuschalten!“.
In Reaktion auf diesen zweiten Aufruf versuchte die „Vereinigung der Verbände von LKW-Fahrern“, eine dem Staat nahestehende, „gelbe“ Handelsvereinigung, die Fahrer von einem weiteren Streik abzuhalten. Die Handelsvereinigung behauptete, dass es einen parlamentarischen Ausschuss[3] gegeben habe, durch den ein Teil der Forderungen der Fahrer bereits erfüllt worden sei und die Umsetzung der restlichen Forderungen mehr Zeit bräuchte. Verärgerte Fahrer mobilisierten dennoch weiterhin ihre Kollegen durch soziale Netzwerke und Medien mit dem Argument, dass keine ihrer Forderungen erfüllt worden sei und die Versprechungen der Behörden „null und nichtig“ seien. So kam es – neben den alltäglichen Protesten und Streiks von Arbeiter*innen und Lohnabhängigen anderer Bereiche – zur zweiten Streikrunde der LKW-Fahrer im Iran. Obwohl die zweite Streikrunde deutlich kleiner ausfiel als die erste, haben in den nächsten zwei Monaten LKW-Fahrer in mehreren Städten (Mashhad, Isfahan, Ahvaz, Yazd, Gorgan, Mehran, etc.) gestreikt. Als Reaktion auf die zweiten Streiks wiederholte der Staat die leeren Versprechen (und fügte noch weiter hinzu) und antwortete parallel dazu mit weiteren direkten und indirekten Drohungen gegenüber den Streikenden seitens der Sicherheitspolizei.
Nach diesen erfolglosen Versuchen begann ab dem 23. September die dritte Runde des Lkw-Streiks. Der Protest richtete sich gegen die leeren Versprechungen der Regierungsbeamten und die Nichterfüllung der Forderungen des ersten Streiks. Das Koordinationskomittee der streikenden LKW-Fahrer erklärte in der Ankündigung des Streiks ihre wichtigsten Forderungen wie folgt: „Erhöhung der Rente und Anerkennung der Arbeit als harte Arbeit“, „Senkung der Preise für Reifen und Ersatzteile“, „Erhöhung der Fahrpreiskosten um 70%“, „Reduktion der von den Fahrern zu zahlenden Versicherungsbeiträgen“, „Entfernung der Händler und Zwischenhändler von den Terminals und der Fracht“ und „Überwachung des Verhaltens der Verkehrsbeamten sowie Strafen für Bestechungsoffiziere.“
Am dritten Tag nach dem Beginn der neuen Streikrunde zitierte die iranische Nachrichtenagentur ILNA die „Vereinigung der Verbände von LKW-Fahrern“ mit der Aussage, die Fahrer würden nicht streiken. Einige von ihnen hätten zwar keine Reifen und Ersatzteile mehr um zu fahren, aber „der Transport erfolge trotzdem dem normalen Gang“.
Durch den anhaltenden Streik der Lkw-Fahrer kam es jedoch an einigen Gasverteilerstationen zu Treibstoffknappheit. Dies hatte zur Folge, dass der Hochbeamte der Justiz den Streikenden mit schwerwiegenden gerichtlichen Anklagen drohte (z.B. bedrohte der Staatsanwalt der Stadt Shiraz die Streikfahrer mit der Anklage „Moharebeh“[4]). Auch die Sicherheitspolizei bedrohte die Streikenden mit persönlichen Benachrichtigungen. Am nächsten Tag begannen mit der Fortsetzung der Streiks Verhaftungen. Am sechsten Streiktag wurden mindestens 53 Fahrer (u.a. in den Provinzen Fars, Isfahan, Teheran, Qazvin) festgenommen und unter dem vorgeschobenen Vorwurf, sie gefährdeten die „Sicherheit und Ordnung des Verkehrs“ in Sicherheitsgefängnisse gebracht.
Jedoch wurde der Streik trotz der Drohungen und Verhaftungen an diesem Tag fortgesetzt. Die Bilder und Videos des Streiks der LKW-Fahrer (in Mashhad, Isfahan, Arak, Tabriz, Sanandaj, Urua, Qazvin, Bandar-Abbas und mehreren anderen Städten) wurden in den sozialen Medien und Netzwerken veröffentlicht und verbreitet. In der Zwischenzeit haben die Drohungen seitens der Justizgewalt gegenüber den Streikenden dramatisch zugenommen: Der Chef der Justizgewalt (Ayatollah Sadegh Larijani) hat den Streikenden härteste Rechtsstrafen angedroht. Darüber hinaus hat die Generalstaatsanwaltschaft deutlich gemacht, dass LKW-Fahrer, die „auf die Fortsetzung des Streiks bestehen sowie die anderen LKW-Fahrer zum Streiken „zwingen„“ mit Anklagen wegen „Verdorbenheit auf Gotteserden“ und „Raubüberfall der Karavanen“ zu rechnen haben“[5], wobei erstere als eine der schlimmsten Anklagen der islamischen Sharia bezeichnet wird.
Parallel zu den massiven Verhaftungen und Bedrohungen durch Justiz und Geheimdienste fanden einige Regierungsgespräche (Regierungsberatungen) im Parlament und in einigen Ministerien statt, mit dem Ziel, Maßnahmen vorzubereiten, um die LKW-Fahrer zufrieden zu stellen und die Streiks einzudämmen. Die Streiks wurden ihrerseits auch am siebten Tag weiter geführt. Bis zu diesem Tag war die offizielle Anzahl an Verhafteten auf 66 angestiegen.
Am nächsten Tag, dem achten Tag des Streiks, betonten mehr als 150 Abgeordnete des Parlamentes in einem Brief an den Präsidenten, dass der Streik der LKW-Fahrer zu einer „Störung der Versorgung mit Treibstoff und Gütern“ führe und forderten sofortige Maßnahmen zur Bereitstellung der benötigten Ersatzteile für die LKW-Fahrer sowie eine Unterstützung bei den Versicherungsbeiträgen. Gleichzeitig wurden jedoch noch weitere Streikende (darunter 7 in der Provinz Hamedan) verhaftet, so dass sich die Zahl der Inhaftierten auf 80 erhöhte. Laut der Staatsanwaltschaft der Stadt Hamdan werden inhaftierte Fahrer wegen „Störung des Gütertransports und Landesverkehrs“ und „Hetzens/Antreiben der anderen Fahrer zum Streik“ sowie wegen „Handelns gegen die nationale Sicherheit“ vor Gericht gestellt. Die Anklage ist die höchste Sicherheitsanklage und wird oft gegen politische Gegner und Gegnerinnen des Regimes angeordnet.
Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Die Streiks wurden auch am neunten und zehnten Tag weiter geführt. Am zehnten Tag kündigten die offiziellen Medien an, die Anzahl der verhafteten LKW-Fahrer sei auf etwa 130 angestiegen. Das bedeutet erfahrungsgemäß, dass die Anzahl der Inhaftierten weitaus höher liegt.
Heute – am 4. Oktober – haben die streikenden LKW-Fahrer den 11. Streiktag hinter sich. Die Anzahl an Verhaftungen, das Ausmaß an Bedrohungen und der Druck durch die Sicherheitsbehörden soll weiter zugenommen haben[6]. Und auch die schönen Wörter und Versprechungen der Regierungsbeamten.
Angesichts der politischen Repression des Regimes ist die Entschlossenheit und Solidarität der LKW-Fahrer bewundernswert. Zumindest in Bezug auf die bestehende politische Dimension sind die aktuellen Proteste der LKW Fahrer ein goldenes Blatt im Widerstandsprozess der Bevölkerung der letzten Jahre. Im Iran gab es in den letzten Jahren keinen Tag, an dem es keinen Streik in irgendeinem Betrieb gab oder keine Protestversammlung der Unterdrückten auf der Straße gab (trotz der Gefahr, als illegal bezeichnet zu werden und der anschließenden Repressionen). Die Streiks der LKW-Fahrer weisen jedoch deutliche Unterschiede zu den vielen anderen Streiks und Straßenprotesten in verschiedenen Städten und Regionen auf. Diese Unterschiede kann man wie folgt zusammenfassen: a) Die relativ gute Organisierung des Streiks verlieh ihm eine besondere Kraft und Einheit, so dass die Streiks trotz aller Repression bis zu diesem Moment weiter geführt werden konnten. (b) Die besondere Form des landesweiten, gemeinsamen Streiks hat dazu geführt, dass der Streik nicht regional begrenzt blieb, sondern in verschiedenen Städten und Provinzen streikende Fahrer Widerstand geleistet haben und so einflussreiche Impulse im ganzen Land setzen konnten. (c) Da die Streikenden über ein starkes materielles Mittel (Verkehr der Güter) verfügten bzw. ihr Arbeitsbereich eine der wichtigsten Wirtschaftsadern (den Straßenverkehr) betrifft, ist es ihnen gelungen, die Regierung unter Druck zu setzen. Für die Regierung war es nicht möglich, den Streik solange zu ignorieren, bis er von selbst abebbt oder beendet wird. Die chaotischen sowie einschüchternden Reaktionen der Herrschenden sind eng mit diesen besonderen Eigenschaften des Streiks verbunden und sollten insofern als verängstigte Reaktionen bewertet werden. Die Streiks ihrerseits machten aufgrund der besonderen Eigenschaften einmal mehr die Stärke einer organisierten Solidarität zwischen Unterdrückten deutlich. Und zeigten zudem die Achillesferse des herrschenden Systems und den Vorteil von landesweiten Streiks gegenüber lokal begrenzten. Auch die Geschichte lehrt uns, dass ein landesweiter Streik zu unmittelbaren politischen Auseinandersetzungen mit der herrschenden Ordnung führen kann, solange er nicht vom Vertretungssystem der offiziellen Gewerkschaften vereinnahmt und kanalisiert wird. Die wachsende Selbstbestimmung und Selbstorganisierung von Unterdrückten in solchen direkten Kämpfen kann zudem das allgemeine Niveau des politischen Kampfes gegen die bestehende Ordnung erhöhen.
Trotzdem garantieren diese Faktoren nicht unbedingt den Erfolg des kollektiven Willen der Streikenden, zumal das iranische Regime eine schreckliche Geschichte der Unterdrückung von Widerständen aufweist[7]. Ein solcher Erfolg erfordert mindestens die praktische Solidarität und Proteste seitens der Unzufriedenen aus anderen sozialen Schichten und insbesondere die aktive Begleitung des Kampfes der LKW-Fahrer von Arbeiter*innen aus anderen Bereichen[8]. Diesen Bedarf bzw. Wunsch nach Solidarität haben auch die streikenden Fahrer geäußert, wie die Parolen auf vielen ihrer Transpis zeigen: Auf ihnen werden die Arbeiter*innen und Lehrer*innen sowie andere unterdrückte Schichten zur Solidarität aufgerufen. Als Grund benennen die Streikenden auf den Transpis und in ihren Parolen, dass alle diese Kämpfe ein und derselbe Kampf sind.
Mit anderen Worten, angesichts der polizeilich-sicherheitspolitischen und ideologischen Fähigkeit der Regierung zum Repressions-Management sowie zur Bekämpfung, Eindämmung und Kanalisierung der gespalteten und lokalisierten Proteste und Streiks (unabhängig von ihrer Häufigkeit) besteht die größte Herausforderung für die Unterdrückten in der gemeinsamen Artikulation dieser verstreuten Kämpfe. Damit sich daraus ein organisierter, solidarischer und vielfältiger Kampf auf Landesebene herausbilden kann.
Und natürlich wissen wir, dass die Notwendigkeit, mit so einer Herausforderung umzugehen (ob auf theoretischer oder praktischer Ebene), nicht nur auf die gescheiterten und unvollendeten Kämpfe im Iran beschränkt bleibt, sondern weltweit als eine historische Notwendigkeit vor allen emanzipatorischen Bewegungen und Kräfte steht.
Eine wesentliche Frage ist darüber hinaus, wie sich die bewussten Arbeiter*innen, linksradikalen und emanzipatorischen Kräfte und im Allgemeinen die humanistisch eingestellten Menschen in westlichen Gesellschaften (und insbesondere die Leser*innen dieses deutschen Berichts) mit diesem Kampfprozess im Iran auseinandersetzen. Obwohl es eines der Hauptziele dieses Textes war, bei den Leser*innen diese Frage zu provozieren, gibt es in diesem kurzen Statement nicht den Platz, ausführlicher darauf einzugehen.
Wir rufen alle Leser*innen dazu auf, sich mit den LKW-Fahrern zu solidarisieren, sei es über öffentliche Stellungnahmen, öffentliche Aktionen oder andere Formen der praktischen Solidarität.
Nachtrag:
Bei Veröffentlichung des Textes ist der 13. Tag des Streiks vergangen und die Zahl an verhafteten Fahrern auf 238 gestiegen.
4.10.2018
[1]. Bis zum Ende des Verfassens dieses Berichts, 4. Oktober 2018.
[2]. Aufgrund der Wirtschaftskrise und des Verfalls der Landeswährung sowie der unangemessenen Wirtschaftspolitik der Regierung ist laut unabhängigen Ökonomen die Kauffähigkeit der iranischen Arbeiterklasse im letzten Jahr um 90% gesunken. Jetzt (Oktober 2018) ist der Mindestlohn für Arbeitnehmer viermal niedriger als das offizielle Niveau der Armutsgrenze.
[3]. Nach diesen Streiks hat die „Islamische beratende Versammlung“ ein spezielles Komitee gebildet, um „die Forderungen der Fahrer aufzuspüren“.
[4]) محاربه (Krieg gegen die/den göttliche/n Ordnung/Staat )
[5] «افساد فیالارض» و «قطاعالطریق»
[6]. Während dieser Text verfasst wurde, hat die Zahl der streikenden LKW-Fahrer laut iranischen sozialen Medien 150 Personen erreicht.
[7] Im 21. Jahrhundert ist der Iran vielleicht eines der wenigen Länder, in denen protestierende Arbeiter*innen erschossen (wie z.B. die Kupferbergarbeiter von Khatun-Abad in der Provinz Kerman), öffentlich ausgepeitscht (wie z.B. die gefeuerten Arbeiter der Goldmine Aq-Darre in der Provinz Azerbayjan), aktive Lehrer*innen für ihre Forderungen nach Einhaltung ihrer Arbeitsrechte zu langen Haftstrafen mit Sicherheitsanklagen verurteilt und im Allgemeinen Arbeitsaktivist*innen wegen ihrer Bestrebungen für den Aufbau unabhängiger Gewerkschaftsorganisationen mit langjährigen Gefängnis- und Sicherheitsstrafen bestraft werden. Und ähnlich werden auch studentische Aktivist*innen sowie Aktivist*innen aus anderen Bereichen der sozialen Kämpfe behandelt.
[8]. Leider war die Aufmerksamkeit und Solidarität mit diesen Streiks bisher nicht proportional zu dessen Bedeutung und Dimensionen. Hier ist leider nicht der Platz, um über die Gründe hierfür zu schreiben.
Quelle: www.freiesicht.org