Diskussion Eine Neue Klassenpolitik braucht eine marxistisch-feministische Analyse der sich verändernden Lohnarbeit
In der Debatte um eine Neue Klassenpolitik geht es erstaunlich wenig darum, was marxistische Theorie zur Klasse zu sagen hat. Vermutlich klingt es verstaubt. Dabei hätte uns Marx für die heutige Diskussion einiges zu sagen.
Betrachtet man Marx‘ Schriften im Ganzen, ergeben sich für die Klassendiskussion zwei zusammenhängende Dimensionen, die in der Geschichte des Marxismus immer wieder aufgespalten wurden und jeweils zu Einseitigkeiten führten. Zum einen gibt es das Theorem, also die »objektive« Seite, die die Stellung einer Klasse innerhalb einer historischen Produktionsweise und spezifischer Herrschaftsverhältnisse beschreibt. Danach wissen wir, dass die Klasse der Arbeitenden in kapitalistischen Produktionsverhältnissen einer Klasse der Besitzenden gegenüber steht. Eine soziale Revolution tritt dann auf, wenn, wie im Vorwort des Kapital beschrieben, auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung die Produktivkräfte der Gesellschaft (der menschlichen wie der technischen) in Widerspruch mit den Produktionsverhältnissen bzw. den Eigentumsverhältnissen geraten. Wenn die Verhältnisse zu »Fesseln« für die weitere Entwicklung werden.
Klasse wird gemacht
Der theoretischen Analyse gesellschaftlicher Widersprüche und antagonistischer Klassen gehen allerdings historische Studien voraus, die die spezifische Zuspitzung der Klassengegensätze im England der 1840er Jahre beschreiben. Zur »objektiven« kommt eine »subjektive« Seite, also die Praxis im Feld gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Es mag paradox klingen, und dennoch: Die Klasse besteht objektiv bereits, aber sie wird auch erst gemacht. Wie die Klasse zum Subjekt der Geschichte wird, muss an den wirklichen historischen Bewegungen studiert werden und ändert sich im historischen Prozess fortlaufend.
Was diesen subjektiven Faktor angeht, haben eine Reihe von Theoretikern die Klassentheorie nach Marx entschieden weiterentwickelt. E.P. Thompson, Antonio Gramsci, Pierre Bourdieu oder Stuart Hall und weitere stehen für einen Strang, den man praxeologische Klassentheorie nennen könnte. Sie untersuchten Klassengesellschaften in ihrem Entstehen und in ihrer je historisch-spezifischen Ausformung. Danach lassen sich ein bestimmter Habitus, eine Kultur der Herrschenden und Gegenkulturen, verschiedene Milieus, rassistische Spaltungen und Anrufungen, die Rolle von Bildung und Erziehung usw. genauer herausarbeiten.
All diese Dimensionen von Klassentheorie sind fundamental, um zu verstehen, welche Blockierungen es dabei geben kann, ein kollektives, handlungsfähiges Klassensubjekt herauszubilden – und auch, wo sich Gegenkulturen auftun. Die verschiedenen Herrschaftstechniken und Gegenstrategien gehören zu jeder Zeit genau studiert. Als Linke wissen wir immer bereits, dass der Kapitalismus an allem Schuld ist, nur können sich Gegenstrategien immer nur dann entwickeln, wenn wir genau verstehen, wie die Menschen in seiner aktuellen Form neoliberal reguliert, vereinzelt, angetrieben, ausgebeutet werden.
Diese »subjektive« Seite sollte nun keineswegs die »objektive« ersetzen, sonst droht man sich im Gewirr der einzelnen kleinen Kämpfe zu verlieren. Genauso wie es anders herum keinen Erkenntniswert hat, das marxsche Theorem wie eine mathematische Formel zu zitieren und zu behaupten, die Arbeiterklasse bestehe ja formal, und es damit bewenden lässt. Vielmehr muss die Theorie fortlaufend erneuert werden. So gilt es, den Widerspruch zwischen der Dynamik der ökonomischen Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse immer wieder aufs Neue zu durchdenken. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte wird nämlich auch immer wieder die historische Notwendigkeit der jeweils herrschenden Klasse und ihrer Institutionen in Frage gestellt.
Bekanntlich war es Gramsci, der den Begriff des Fordismus prägte. Er benannte diese spezifische kapitalistische Produktionsweise nach der maßgebenden Fließbandarbeit in den Ford-Betrieben. Nun geht eine prominente linke Erzählung so, dass der in die Krise gekommene Fordismus seit den 1970er Jahren von einem »Postfordismus« abgelöst wurde. Weitere Schlagworte sind dann wahlweise Neoliberalismus, Globalisierung, in letzter Zeit dann auch häufiger Digitalisierung oder Industrie 4.0. Das Problem an dieser Art von Schlagworten ist, dass sie die darunterliegenden Prozesse oft nicht beschreiben und ein genaueres Verständnis daher erschweren.
Was in der linken Erzählung zumeist aus dem Blick gerät, ist die Produktivkraftentwicklung selbst und wie sich ihre Revolutionierung in einer Änderung der historisch-spezifischen Produktionsweise niederschlägt. So hat sich durch die technische Entwicklung, nicht zuletzt durch die »Leitproduktivkraft« Computer, die Produktionsweise hin zu einer hochtechnologischen oder digitalen grundlegend verändert. Und mit ihr die Formen des Arbeitens: Die Automatisierung in den Bereichen der Produktion, der Dienstleistung, der Kommunikation ersetzte einige und machte wiederum neue Tätigkeiten und Wissensformen nötig. Auch für die globale Arbeitsteilung hat dies enorme Auswirkungen: Bereiche der Produktion werden ausgelagert, Gewerkschaften führen in den alten Industrienationen erbitterte Verteidigungskämpfe. Mit dem Internet werden Kommunikations- und Finanzströme global, transnationale Konzerne bilden sich heraus. Wir erleben infolge der massiven Änderungen in der Produktionsweise eine mehrfache Entgrenzung: eine räumliche-zeitliche, die sich z.B. in entgrenzten Arbeitszeiten oder im Home Office zeigen, aber auch eine entgrenzte geschlechtlichte Zuteilung von Tätigkeiten, zunehmend ungesicherte, flexible Beschäftigungsverhältnisse. Die Produktivkräfte bewegen sich unter den gegeben Verhältnissen schneller weg, als sie reguliert werden können.
Für eine Neue Klassenpolitik stellen sich gleich mehrere zusammenhängende Fragen: Wie überhaupt und auf welcher Ebene wären transnationale Konzerne noch zu regulieren? Wie lässt sich die fortschreitende Automation für eine progressive, linke Politik nutzen? Wie viel Arbeitszeit braucht es überhaupt noch? Wie lassen sich die flexibilisierten Beschäftigungsverhältnisse einhegen, zunehmend vereinzelte Beschäftige organisieren? Erst langsam setzt sich auch in den Institutionen der Arbeiterbewegung durch, dass sich fordistische Beschäftigungsverhältnisse und Lebensweisen nicht aufrechterhalten lassen.
Die Geschlechterverhältnisse hinein holen
Bis hierin werden feministische Kämpfe und die Fragen von geschlechtlicher Arbeitsteilung – wie üblich – als einer von vielen Nebenschauplätzen behandelt. Dabei ist eine grundlegende Kritik schon in früheren Eingriffen wie der Hausarbeitsdebatte formuliert worden. (ak 629) Nämlich, dass der Arbeitsbegriff sich nicht auf die Lohnarbeit allein beschränken darf. Für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft und der Gesellschaft schlechthin sind die fürsorgenden, Leben produzierenden und erhaltenden Tätigkeiten das Fundament. Frigga Haug spricht in diesem Zusammenhang von einem »marginalisierten Zentrum«, weil die Produktion des Lebens, obwohl so fundamental, »privat« organisiert und unsichtbar gemacht wird. (1) Es ist auch gerade diese Arbeit, die vornehmlich von Frauen gemacht wird und die nicht ohne weiteres durch technische Geräte ersetzt oder beschleunigt werden kann. Ihr folgt eine andere Zeitlogik, denn wenn wir uns um andere Menschen sorgen, ist der Zeitaufwand nur unter schwerwiegenden Folgen verkürzbar.
Marxistisch-feministische Theorie geht allerdings noch einen Schritt weiter, als die Haus- und Sorgearbeit zu politisieren. Nicht nur die Sphäre der Reproduktion (oder eben besser: der Produktion des Lebens) ist von Geschlechterverhältnissen bestimmt, sondern alle Praxen der Gesellschaft. So ist auch die Sphäre der Produktion im Fordismus auf eine bestimmte Art und Weise vergeschlechtlicht (Industriearbeit war nie nur männlich, denkt man allein an die Textilarbeiterinnen). Im hochtechnologischen Kapitalismus ist sie das immer noch – nur eben ganz anders. Mit den Formen des Arbeitens ändern sich die Zugehörigkeiten zu Geschlechtern, bestimmte Fähigkeiten, etwa Soft Skills, haben heute einen anderen Stellenwert. Unsere gesamte Lebensweise, unsere Moralvorstellungen, die Anrufungen als neoliberale Subjekte sind geschlechtlich unterschiedlich codiert. Und all diese Bereiche sind damit auch auf eine bestimmte Weise herrschaftlich geordnet: Was als produktive Arbeit gilt und was nicht, welche Fähigkeiten abgewertet werden, wird beharrlich zuungunsten der typisch weiblichen Tätigkeiten entschieden.
Dass Frauen also zugleich einen Großteil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit verrichten, die als weiblich geltende Arbeit abgewertet und auch noch steigendem Zeit- und Kostendruck unterworfen ist, macht die Belastung für Frauen enorm groß. Zugleich noch als Top Girls (Angela McRobbie) perfomen zu müssen, ist eine weitere Anstrengung. (ak 553)
Was sagt uns das für eine »feministische Klassenpolitik«?
Probeweise könnte man von einer »feministischen Klassenpolitik« sprechen, obwohl auch dieser Begriff nicht ideal ist. Wieder wirkt es so, als sei der Feminismus an eine Klassenpolitik zusätzlich angehängt worden. Dabei müsste der feministische Einsatz eben der sein, Klassenpolitik – was auch immer das dann konkret sein mag – grundsätzlich zu durchziehen. Immerhin waren es auch historisch schon immer auch vergessene Frauenstreiks, die der historischen Arbeiterbewegung ihren Schwung gaben, wie Gisela Notz in ak 624 beschreibt. Nennen wir es lediglich Neue Klassenpolitik, sind die Frauen und ihre Tätigkeiten wieder verschwunden.
Wie auch immer es begrifflich zu fassen sein müsste, klar ist, dass das »neue« an heutiger Klassenpolitik jedenfalls sich daran orientieren muss, wie die Lohnarbeit sich verändert hat und weiter grundlegend verändern wird. Linke Politik und alle, die sie betreiben, müssten aus dem Verteidigungsmodus heraus kommen und die möglichen Einsparungen von Arbeitszeit durch technische Entwicklungen nutzen. Der Kampf um Arbeitszeit und um Mitbestimmung, also die institutionelle Regulierung der Klassenkonstellation, war auch schon für Marx und Engels das Scharnier zwischen »objektiven« und »subjektiven« Klassenkämpfen. (2)
Doch es kann nicht darum gehen, eine gelungene Work-Life-Balance zu propagieren und in die neoliberale Falle zu tappen, es handle sich um die individuelle Ausgestaltung des Lebens, wenn für weniger Arbeitszeit gestritten wird. Für eine Neue Klassenpolitik müsste deutlicher hervortreten, dass es darum geht, wie wir gesellschaftlich notwendige Arbeiten und Fähigkeiten anders verteilen und wertschätzen, wie wir miteinander leben wollen. Ansätze dazu gibt es bereits in der sozialen Wirklichkeit, weil unterschiedlichste Lebensformen sich nicht mehr auf die fordistische Kleinfamilie und ihre Wohnformen reduzieren lassen. Im Sinne einer praxeologischen Klassentheorie könnte man sagen: Die Praxis der Menschen ist zuweilen schon weiter als die herrschende Regulierung.
Gerade in den Sozialberufen drängen die wirklichen Probleme nahezu von selbst zu einer Neuen Klassenpolitik: Der massive Personal- und Ressourcenmangel in Krankenhäusern, in der Altenpflege, in Kitas, Schulen usw. machen deutlich, dass die soziale Reproduktion unter kapitalistischen Bedingungen nicht funktionieren kann. Die Versorgung menschlicher Bedürfnisse ist mit dem Prinzip des Kosten- und Zeiteinsparens nicht vereinbar. Hier sind es vor allem Frauen, die in der Lohnarbeit wie der häuslichen Arbeit den Mangel bis zur Erschöpfung auffangen müssen. Proteste wie gegen Trump oder die der spanischen Frauen am 8. März zeigen außerdem, dass Frauen Trägerinnen progressiver Politik sein können, auch weil sie mit am meisten unter rechter und Austeritätspolitik leiden und entgegen aller Spaltungen entlang rassistischer Kategorien, entlang von Alter usw. zu mobilisieren sind, wenn sie bewusst ihre Kämpfe als gemeinsame um eine andere Gesellschaft im Ganzen ansehen. Von ihren unterschiedlichen leidenschaftlichen Protestformen wäre überdies einiges für eine Neue Klassenpolitik zu lernen.
Ines Schwerdtner lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Gesamtkoordinatorin bei der Zeitschrift Das Argument.
Anmerkungen:
1) Frigga Haug: Marginalisiertes Zentrum. Geschlechterverhältnisse sind Produktionsverhältnisse. In: Zeitschrift Luxemburg 2/3, 2017.
2) Die meisten dieser Gedanken sind zusammengefasst im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus im Stichwort von Michael Vester zu »Klasse an sich/ Klasse für sich«.
Quelle: https://www.akweb.de/ak_s/ak636/23.htm