Zehntausende Venezolaner marschierten unter der glühenden Sonne der Karibik die Avenida Urdaneta von Caracas in Richtung Präsidentenpalast hinauf. Nein, das war kein Protest gegen die Regierung, von der uns immer wieder gesagt wird, dass sie eine Diktatur ist, die ihrem Volk massenhaft Hunger bringt. Es war im Gegenteil eine öffentliche Kundgebung, die die Wiederwahlkampagne von Präsident Nicolas Maduro unterstützt. Der Anlass war der 26. Jahrestag des revolutionären Aufstandes von Hugo Chávez gegen Venezuelas oligarchisches Zweiparteiensystem, bekannt auch als Vierte Republik, am 4. Februar 1992. Doch vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen, die das Schicksal der bolivarischen Revolution von Chávez bestimmen könnten, war dieser 4F – wie er allgemein bekannt ist – viel mehr ein ausdrückliches Zeichen der Unterstützung für den derzeitigen linken Präsidenten.
Mitgeschleppt von meinen Freunden kam ich in der Überzeugung zum Marsch, dass es nur ein weiterer ritualisierter öffentlicher Stempel auf einen Kandidaten sein würde, den viele venezolanische Linke angesichts fehlender interner Vorwahlen als „aufgezwungen“ ansehen.
Zugegeben, ich war nicht vorbereitet auf das was ich dann sah. Tausende und Abertausende lächelnde, rot gekleidete, tanzende, skandierende, hüpfende, springende, kilometerweit laufende Venezolaner in Unterstützung der Kontinuität der Bolivarischen Revolution mit Nicolás Maduro an der Spitze. Staatsangestellte marschierten mit ihren Kollegen, tanzten neben LKW, von denen alte und neue chavistische Kampagnenlieder im Salsa-, Pop-, Merengue- und Reggaetón-Rhythmus dröhnten. Andere Blöcke wurden von diversen sozialen Bewegungen angeführt, von Arbeitern aus verstaatlichten Unternehmen, Jugendorganisationen sowie Aktivisten aus den Kommunalen Räten – oft mit handgefertigten Bannern und ihren eigenen, einzigartigen Slogans –, die alle ihre Unterstützung für „Nico“, wie der Präsident liebevoll genannt wird, zum Ausdruck brachten.
Meine erste Reaktion war, den ständigen Punkt der Mainstream-Medien aufzugreifen und mich zu fragen, ob all diese Leute freiwillig hier sind oder ob dies nur ein weiterer manipulativer Trick der Parteimaschine ist, der angeblich Leute dazu zwingt, unter Androhung von Entlassungen oder Kürzungen der staatlichen Sozialleistungen teilzunehmen?
Sebastian, ein Mitarbeiter des Kultusministeriums, hat meine Zweifel offen angesprochen. „Es ist eine Lüge, dass sie dich feuern, wenn du nicht auftauchst. Die überwiegende Mehrheit der Menschen ist freiwillig hier. Selbst wenn sie gezwungen wurden, teilzunehmen, wer sagt, dass sie dabei so enthusiastisch sein müssen?“ sagte er zu mir.
Es war in der Tat unbestreitbar, dass ein großer Teil der Menschen, die ihren Sonntag opferten, um unter dieser heißen Mittagssonne zu marschieren, tatsächlich glücklich aussah, oder sich zumindest in diesem Moment offenbar vergnügten.
Wie können wir diesen Enthusiasmus mit der Tatsache in Einklang bringen, dass Venezuela derzeit den schlimmsten wirtschaftlichen Abschwung seit Jahrzehnten erlebt, der die popularen Sektoren, die die traditionelle Basis des Chavismus ausmachen, am härtesten getroffen hat?
Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Frage besteht darin, die fast allgegenwärtige internationale Medienbehauptung, dass Chavisten unzivilisierte Tiere sind, deren politische Beweggründe entweder auf einen Karton mit staatlich vertriebenen Lebensmitteln oder auf einen fanatischen Personenkult reduziert werden können, über Bord zu werfen.
Die Bedeutung Maduros
Es besteht kein Zweifel daran, dass die fast sechs Millionen Menschen, die bei den jüngsten Regional- und Kommunalwahlen für die Regierung gestimmt haben, dies aus tiefgreifenden, materiellen Gründen getan haben.
Angesichts einer rechts-gerichteten, von den USA unterstützten Opposition, die wenig mehr getan hat als unermüdlich zu versuchen, den Chavismus von der Macht zu verdrängen und ihr neoliberales Programm durchzuführen, sehen viele Venezolaner die bolivarische Regierung als die einzige in ihrer Lebenserinnerung an, die ihre Existenz anerkannt und ihr Wohlergehen priorisiert hat. Daher stellen Maduro und die Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) für weite Teile der Volksschichten Venezuelas nach wie vor die Hoffnung dar, dass bestehende sozialdemokratischen Errungenschaften – wenn auch durch die Krise und den konterrevolutionären Rollback geschmälert – erhalten und vertieft werden können. Ein Beispiel hierfür ist das Clap-Programm der Regierung zur Verteilung von subventionierten Nahrungsmitteln von Haus zu Haus gemeinsam mit den lokalen Gemeinderäten, das auf Millionen von Familien ausgeweitet wurde. Trotz der zahlreichen Probleme, die dieses Programm und andere Sozialprogramme, einschließlich des neuen Systems für die Zuteilung von Sozialleistungen über den Heimatausweis (Carnet de la Patria) beeinträchtigen, ist es wahrscheinlich, dass die Regierung ohne solche Initiativen nicht auf solche Massenmobilisierungen zählen könnte, die sie im vergangenen Jahr erfolgreich gegen die aufständischen rechtsgerichteten Proteste verteidigt haben.
Aber diese wirkliche Sorge um Brot und Butter allein kann die Energie, die ich am 4. Februar gesehen habe, nicht erklären.
Jenseits jeder einzelnen programmatischen Forderung oder emotionalen Bindung aufgrund seiner Nominierung durch Chávez, bedeutet die Wiederwahl von Maduro für viele Chavisten die Möglichkeit, die revolutionäre Phase fortzusetzen, die mit der Massenrevolte von 1989 gegen den Neoliberalismus (Caracazo) begann und mit der Wahl von Chávez, dem Verfassungsprozess von 1999, den Siegen des Volkes über den Staatsstreich und den Ölstreik von 2002 bis hin zur Wahl von Maduro und dem Sieg über die Guarimbas1 weiterging.
Das heißt, die Tatsache, dass ein Busfahrer oder ein armer afro-indigener Oberstleutnant aus der Provinz die Spitze des Staates besetzen kann, symbolisiert, was die venezolanischen Massen in der Praxis leisten können, nämlich die soziale Ordnung von unten nach oben radikal in Richtung einer „protagonistischen und partizipativen“ sozialistischen Demokratie umzugestalten.
Trotz all seiner Mittelmäßigkeit als individueller und politischer Führer verkörpert Maduros Präsidentschaft die schwache, aber weiter bestehende entkoloniale Hoffnung, die Frantz Fanon mit der Aussage verkündete, dass „die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein werden“, dass nämlich die schwarzen und braunen Massen Venezuelas nie wieder von der weißen, von den USA unterstützten Oligarchie regiert werden, die sie so lange erstickt hat.
In diesem Sinn hat die Parole „Sie werden nicht mehr zurück kommen!“(¡No volverán!”) noch immer eine starke Resonanz, vor allem für die älteren Generationen, die noch die oligarchische Vierte Republik erlebt haben, die Chávez vorausging.
Die Unterstützung für Maduro ist daher komplex: Sie entspringt einer emotional durchdrungenen utopischen Vision der Fortführung des revolutionären Kampfes, der in der Figur Chávez verkörpert ist, ebenso wie einer pragmatischen Lesart des aktuellen Kräfteverhältnisses und der katastrophalen Bedrohung durch die Rechte.
„Die bedingungslose Unterstützung für Maduro soll das Erbe von Chávez erhalten, denn die Leute wissen, dass es leichter ist, eine Revolution zu vertiefen, wenn man an der Regierung ist, statt eine Rechte zu unterstützen, die keinen Respekt vor dem Leben hat und nur darauf aus ist, ihren Gegener zu eliminieren“, erklärt Javier (36), Sprecher für ökonomische Basisinitiativen in seinem Kommunalen Rat im Arbeiterviertel Catia im Westen von Caracas.
Javier, selbst PSUV-Mitglied, ist zu einem scharfen Kritiker der Partei-Elite geworden und hat sogar die Kandidaturen von unabhängigen Linken wie Eduardo Saman und Ángel Prado unterstützt. „Das bedeutet nicht, dass die Leute Maduro blind begleiten, sondern im Gegenteil, auf kritische Weise.”
Dennoch teilen nicht alle Chavistas, geschweige denn alle Venezolaner, diese Perspektive der kritischen Unterstützung des Amtsinhabers.
Entpolitisierung und das Fehlen linker Alternativen
Obwohl Maduro noch immer die Rückendeckung von Millionen von Chavisten wie Javier hat, ist es auch mehr als deutlich geworden, dass bedeutende Teile von Venezuelas popularen Klassen das Vertrauen in den Präsidenten und seine Partei verloren haben, seit sie sich massenhaft mobilisiert hatten, um Chávez im Jahr 2012 mit mehr als acht Millionen wiederzuwählen. Die jahrelange schwere Wirtschaftskrise zusammen mit Konzessionen auf Konzessionen einer bürokratisierten und reformistischen Elite der Regierungspartei haben ihren entpolitisierenden Tribut gefordert und die einst große Basis der Regierung in der Arbeiterklasse ausgehöhlt. Statt mit dringenden Reformen des byzantinischen venezolanischen Devisensystems, das transnationalen Konzerne und ihren korrupten bürokratischen Verbündeten seit langem den Diebstahl von staatliche Erdöldollars ermöglicht, ökonomisch in die Offensive zu gehen, gab es von Regierungseite meistens nichts, nur unzureichende Mindestlohnanhebungen, den Wegfall von Preisregelungen und die Bevorzugung des Schuldendienstes gegenüber lebenswichtigen Importen. Kurz gesagt, wie die Kommunistische Partei Venezuelas schlussfolgert: „Die Regierung von Präsident Nicolás Maduro hat keine Politiken oder Pläne entwickelt, geschweige denn ausgeführt, die eine revolutionäre Lösung für die venezolanische kapitalistische Krise darstellen und hat sich darauf beschränkt, die Krise zu managen, ohne die Macht des Kapitals zu anzutasten“.
Die Auswirkungen dieser Politiken sind an der Wahlurne messbar. Wie Ociel Lopez bezüglich der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung (ANC) am 30. Juli bemerkt, stagniert die Unterstützung für die PSUV seit Dezember 2015 bei rund sechs Millionen Stimmen – eine bemerkenswerte Tatsache angesichts der wirtschaftlichen Umstände, aber nichtsdestotrotz ein steiler Rückgang von der Marke von über acht Millionen Stimmen im Jahr 2012.
Eine Umfrage nach der anderen zeugt von den wachsenden Reihen der „weder-noch“ (ni-nis), die etwa ein Drittel der Wählerschaft ausmachen und sowohl die Regierung als auch die Oppositionskoalition des MUD ablehnen.2 Obwohl die Opposition seit ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen 2015 mehr als zwei Millionen Stimmen verloren hat – vor allem wegen der beispiellosen strategischen Inkompetenz ihrer Führung – verfolgt dieser Sieg die PSUV noch immer, als Erinnerung an die ernsten Gefahren der Unzufriedenheit an der Basis.
Dieses Panorama ist zweifellos düster angesichts des Fehlens einer autonomen, massenbasierten politischen Kraft links von der PSUV, die die tiefe Unzufriedenheit in eine revolutionäre Richtung lenken könnte oder mindestens die Macht hat, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Es gibt hoffnungsvolle Regungen unter den sozialen Bewegungen und linken Parteien, die mit der Regierung verbunden sind – wie die kommunalen Kandidaturen von Angel Prado, Eduardo Saman u.a. –, aber die organisatorischen Bedingungen unter den Volksbewegungen sind noch nicht reif, um die Hegemonie der PSUV wirkliche herauszufordern, die sich als sehr geschickt bei der Kooptierung und Unterdrückung ihrer radikaleren Rivalen erwiesen hat. Insgesamt dürfte der größte Teil der Linken wenn auch mit bitterem Beigeschmack dem Amtsinhaber seine feste, kritische Unterstützung geben, um die Bedrohung durch eine rechtsgerichtete Restaurierung abzuwenden.
Unterdessen ist die ultralinke Minderheit, die mit Maduro wegen der verfassunggebenden Versammlung gebrochen hat, völlig isoliert und fährt einen anti-politischen Diskurs, der praktisch nicht von der Rechten zu unterscheiden ist. Natürlich sollte diese ultralinke Abweichung nach Lenin als wenig mehr behandelt werden als die „Strafe für die opportunistischen Sünden“ der PSUV-Führung, nämlich ihre zerstörerische Bürokratisierung, die sie von den täglichen Kämpfen des Volkes isoliert, und ihr zunehmend konservativer Reformismus, der nur den Zorn des Volkes weiter anheizt. Diese Degeneration sollte angesichts der strukturellen Logik der PSUV niemanden überraschen. Sie war fast von Anfang an eine Partei von Ministern, Gouverneuren und Bürgermeistern, in der die höchsten Führungspositionen an eingefahrene Staatsapparatschiks übergeben wurden. Dadurch wurde die PSUV praktisch daran gehindert, zu einem teilautonomen Instrument für die Transformation des bürgerlichen Staates zu werden.
Tatsächlich ist die Chavista-Klasse dringend auf Erneuerung angewiesen, um die Legitimität der Revolution in den Augen des Volkes zu stärken. Aber diese Erneuerung kann nur von unten kommen, von den Kommunen, den Organisationen der Arbeiter und Bauern, von den Studenten ebenso wie von feministischen und Bewegungen für sexuelle Vielfalt. In diesem Sinn waren die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung im Sommer 2017 eine kurzlebige Demonstration der Möglichkeiten einer Radikalisierung von unten nach oben, bei der über acht Millionen Menschen unter den Bedingungen des rechten Terrors 6.000 Kandidaten wählen konnten, unter ihnen Trans-Revolutionär Rummie Quintero, die kommunistische Studentenführerin Vanesa Montero und Kommune-Sprecher Angel Prado. Leider, jedoch nicht überraschend, gelang es der überlegen organisierten PSUV ihre linksgerichteten Basisgegner zu überflügeln und die Wahl der Mehrheit ihrer Kandidaten zu sichern. Dieses Ergebnis bestätigte zwar die Unterordnung der ANC unter die Regierung und die daraus resultierende Unfähigkeit, als halbautonomer Blitzableiter für populäre Forderungen innerhalb des Staates zu dienen, doch die Massenmobilisierung, die durch die Wahlen hervorgerufen wurde, muss als Beweis für die anhaltende Vitalität der immer vielfältigen Basis des Chavismus und ihrer wahrhaft hegemonialen Berufung angeführt werden.
Wahlszenarien
Venezuelas Wahlen 2018 finden in einem Moment größter Gegensätze statt. Für die meisten Leute, mit denen ich spreche, gibt es kaum Zweifel, dass Maduro seinen Wiederwahl-Schachzug gewinnen wird.
Die Opposition ist nach den verheerenden Niederlagen bei den Regional- und Kommunalwahlen nach wie vor tief gespalten. Seit ihrem Sieg im Jahr 2015 hat sie einen ständigen Bewegungskrieg geführt, um die Regierung mit allen Mitteln zu stürzen, gerade dann, wenn die Konjunktur einen geduldigen Stellungskrieg forderte. Und jetzt, wo die Bedingungen reif sind für einen Sieg der Opposition, ist ihre Führung mehr in Misskredit geraten als je zuvor. Die Hardliner-Fraktion des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD), die am engsten mit Washington und anderen internationalen konservativen Machtzentren verbunden ist, drängt aktiv auf Enthaltung, um die Wahl zu delegitimieren und ihren unerbittlichen Wunsch nach ausländischer Militärintervention zu verwirklichen. Unterdessen scheint der eher auf Wahlen orientierte Flügel der Opposition nicht in der Lage zu sein, sich hinter einem einzigen Kandidaten zu vereinen. Ihre Zwangslage wird durch die erhebliche Abwanderung von Venezolanern in die Nachbarländer sowie in die USA, Kanada und Europa nicht gerade begünstigt. Diese neuen Migranten sind in den meisten Fällen, aber nicht ausschließlich, Anhänger der Opposition, was die Chancen des MUD weiter verschlechtert.
Die Regierung ist in der scheinbaren Unausweichlichkeit ihres Sieges allzu zuversichtlich und vertraut darauf, dass die Wahlkampfmaschine der PSUV ihre Kernbasis erfolgreich mobilisieren wird, so wie wir es am 15. Oktober und 10. Dezember erlebt haben. Das Basisspiel der Regierungspartei ist in der Tat beeindruckend: Zehntausende von erfahrenen Basisaktivisten mobilisieren ihre Gemeinden in den Tagen und Wochen vor der Abstimmung. Auch verfügt die Regierung bei steigenden Ölpreisen und trotz Schuldendienst und Sanktionen über reichlich Ressourcen, um Clap-Lieferungen und Urlaubsprämien zu verteilen, um die erschreckenden Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf einige Sektoren abzumildern.
Aber im Gegensatz zu früheren Präsidentschaftswahlen ist diese Chavista-Kampagne in Form und Inhalt ausgesprochen konservativ. Maduro weigert sich, seine Komfortzone zu verlassen und sich auf den Wahlkampfzug zu begeben, indem er sich lieber hinter einem sich selbst schmeichelnden Diskurs versteckt, der den zukünftigen wirtschaftlichen „Wohlstand“ ankündigt, während er die Parteimaschine die schwere Arbeit machen lässt.
Wenn die Opposition es nicht schafft, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen, hat Maduro eine sehr gute Chance zu gewinnen, in einem Szenario mit geringer Wahlbeteiligung, in dem sich die sechs Millionen Stimmen der Regierung – bei einer Wählerschaft von fast 20 Millionen – als ausreichend erweisen könnten. Wenn dies wie ein unrechtmäßiges Ergebnis klingen mag, sollten wir innehalten und uns daran erinnern, wie Steve Ellner bemerkt, dass zwei von drei US-Präsidenten des 21. Jahrhunderts von einer Minderheit unter den Bedingungen einer im internationalen Vergleich extrem niedrigen Wahlbeteiligung gewählt wurden.
Wenn es der Opposition jedoch gelingt, sich um einen Kandidaten zu versammeln, der in der Lage ist, die beträchtliche Unzufriedenheit unter den entfremdeten Chavisten sowie den Oppositionsanhängern der Arbeiter- und Kleinbürgerschaft zu kanalisieren, könnte sie ihre 7,7 Millionen Stimmen im Jahr 2015 übertreffen und die Präsidentschaft übernehmen. Der ehemalige Gouverneur von Lara, Henri Falcón, wäre aufgrund seiner Herkunft aus der Provinz und als Ex-Chavist ideal für diese Rolle – perfekt für das Werben um desillusionierte Chavisten und gemäßigte Oppositionelle. Aber aus eben diesen Gründen ist er ein Gräuel für die gehobene Mittelklasse der Opposition, eine hysterisch Anti-Chavismus-Basis, die zwar eine Minderheit ist, aber in der Vergangenheit einen übergroßen Einfluss auf die Wahl der Präsidentschaftskandidaten des MUD hatte.
In einem solchen Szenario einer glaubwürdigen Bedrohung durch die Opposition könnte Maduro gezwungen sein, sich nach links zu bewegen und zu versuchen, an entfremdete Chavistas und Anhänger der Opposition der Unterschicht mit einem offen revolutionären Diskurs zu appellieren, der die Tiefe der Krise anerkennt und strukturelle Lösungen vorschlägt, wie es seinen linken Verbündeten von ihm fordern. Dennoch bleibt angesichts der organisatorischen Schwäche der Linken abzuwarten, ob solche Bedingungen eine Öffnung für einen nachhaltigen revolutionären Fortschritt schaffen können.
Wie die Dinge derzeit stehen, hat der MUD seinen Wahlboykott angekündigt. Offensichtlich haben die großen Oppositionsparteien wie Demokratische Aktion (Acción Democrática), Volkswille (Voluntad Popular) und Gerechtigkeit Zuerst (Primero Justicia) mehr zu verlieren , wenn sie an den Wahlen teilnehmen, als wen sie mit ihrer aktuellen Strategie fortfahren, Lobbyarbeit für äußerst unbeliebte Sanktionen zu machen, die laut eigenem Eingeständnis von Volkswille-Führer Juan Guaido „zu einer schlechten Lebensqualität der Venezolaner führen, was wiederum zu Druck auf das Regime führen muss.“ Damit bleibt das Oppositionsfeld scharf gespalten zwischen dem Aufruf der Hardliner zur Stimmenthaltung, der aus dem Ausland verstärkt wird, und den sogenannten „Moderaten“ von kleineren Parteien, die weniger zu verlieren haben, wenn sie teilnehmen. Ein völlig unbekannter evangelikaler Prediger mit zwielichtigen Hintergründen hat vor kurzem seinen Hut ins Rennen geworfen, während Falcón am 26. Februar offiziell seine Kandidatur im Namen der Parteien Progressiver Fortschritt ( Avanzada Progresista) und Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo) eingeschrieben hat.
Während der MUD-Boykott eine ähnliche Wirkung in einer niedrigen Oppositionsbeteiligung haben könnte wie bei den Regional- und Kommunalwahlen, zeigen die jüngsten Umfragen von Hinterlaces und Datanalisis, dass die Wahlabsicht hoch ist – 69 Prozent bzw. 75 Prozent. Dies deutet darauf hin, dass auch in einem geteilten Szenario die Opposition noch gewinnen könnte. Der MUD-Boykott kann sich für einen Kandidaten wie Falcón sogar als vorteilhaft erweisen, da er sich die Mühe erspart, um die traditionelle wohlhabende Basis der Opposition zu werben, die er nie gewinnen könnte. Tatsächlich gibt Datanalisis Falcón mit 32,6 Prozent einen Vorsprung gegenüber Maduro, der auf 28,4 Prozent kommt, auch wenn die Fehler bei 3,4 Prozent liegt, was bedeutet, dass die potentiellen Gegner scheinbar Kopf an Kof liegen. Die gleiche Umfrage gibt Falcón einen großen Vorsprung unter den Unabhängigen und Oppositionsanhängern, die Wahlen befürworten, und sagt voraus, dass er 68,3 Prozent der Ersteren und 93 Prozent der Letzteren bekommen würde. Während solche Umfragen von rechtsgerichteten Einrichtungen wie dem Mainstream-Medien-Liebling Datanalisis angesichts der Tatsache, dass sie in der Vergangenheit keine hohe Wahlbeteiligung bei Chavisten voraussagen konnten, mit Skepsis aufgenommen werden sollten, sollten wir die Düsterkeit des gegenwärtigen Panoramas nicht herunterspielen: In der Regel tendieren Amtsinhaber nicht dazu, die Wiederwahl unter den Bedingungen einer vierstelligen Inflation zu gewinnen. Nun kann man antworten, dass Politik die Kunst des Unmöglichen ist, aber es gibt eine übergeordnete strukturelle Realität, die ein kleines, verarmtes Land, international isoliert und vom Imperialismus belagert, allein nur eine bestimmte Zeit aushalten kann. Die Niederlage der Sandinisten gegen Violeta Chamorro im Jahr 1990 verdeutlicht, trotz aller wichtigen kontextuellen Unterschiede, diese sehr reale Gefahr.
Die Wahl und die internationale Linke
Angesichts dieser sehr vielschichtigen Konjunktur müssen wir uns fragen, was ist die Rolle der internationalen Linken?
Im Lauf des vergangenen Jahres hat eine zunehmende Zahl linker Intellektueller quer durch die Hemisphäre offen mit der bolivarischen Regierung gebrochen und sie des Autoritarismus beschuldigt, natürlich ohne jemals zu definieren, was dieser stark aufgeladene Begriff bedeutet.
Trotz der wachsenden Gegensätze zwischen den Volksbewegungen Venezuelas und der Regierung bleibt der Konsens der bolivarischen Linken klar: Der Hauptwiderspruch ist der westliche Imperialismus und die rechte Opposition, die um jeden Preis bekämpft werden müssen.
Wir von der internationalen Linken haben eine Verpflichtung, uns uneingeschränkt mit der bolivarischen Regierung und ihrem Volk gegen den Imperialismus zu solidarisieren.
Gleichzeitig müssen wir unsere gut durchdachten Kritiken anbieten, die darauf abzielen, die Kämpfe an der Basis zu unterstützen, um der Revolution neue Kraft zu geben und sie zu radikalisieren.
Diese doppelte Verantwortung ist alles andere als einfach, aber unerlässlich, mehr denn je.
Die Rückkehr der Rechten in Venezuela wäre ein verhängnisvoller Schlag für die lateinamerikanische Linke und würde den Weg für die USA ebnen, um die wenigen in der Region verbliebenen fortschrittlichen Regierungen ins Visier zu nehmen und die Mechanismen der gegenhegemonialen regionalen Integration abzubauen, wie die Bolivarische Allianz, Petrocaribe, Union südamerikanischer Nationen und die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten. Die daraus resultierenden Schockwellen würden die Linke weltweit erschüttern und als scheinbare Rechtfertigung für TINA dienen: „Es gibt keine Alternative“ zum neoliberalen Kapitalismus. Andererseits würde der mögliche Wahlsieg Maduros nur mit einer Eskalation der Agenda für den Regime Change der USA, Kanadas und der EU einhergehen, wobei Washington seine Weigerung, das Wahlergebnis anzuerkennen, bereits präventiv ankündigte.
Linke und fortschrittliche Kräfte, insbesondere im globalen Norden – einschließlich Gewerkschaften, Anti-Kriegsbewegungen, Studentenorganisationen, politische Parteien usw. – sind in einer strategischen Position, um die Kosten dieser imperialistischen Intervention zu erhöhen und sie vielleicht sogar zu stoppen.
Der Einsatz war nie höher, denn das Schicksal eines der gehaltvollsten emanzipatorischen Experimente des 21. Jahrhunderts steht auf dem Spiel.
- 1. Guarimbas sind eine Taktik aufständischer Straßenmobilisierung der venezolanischen rechten Opposition, zu der die weit verbreitete Verwendung von tödlichen Straßensperren gehört, die aus brennendem Müll, Baumstämmen und Schutt aus zerstörtem öffentlichem Eigentum bestehen. Die Barrikaden werden typischerweise von kleinen Gruppen junger Regierungsgegner gehalten, die häufig von Oppositionsparteien bezahlt werden und in der Regel mit behelfsmäßigen Waffen (Molotow-Cocktails, hausgemachte Mörser, Steinschleudern usw.) und gelegentlich mit konventionellen Schusswaffen ausgestattet sind. Während die rechtsgerichtete politische Gewalt in Venezuela nach der Weigerung der Opposition, den Sieg von Präsident Maduro bei den Wahlen vom 14. April 2013 anzuerkennen, wieder auftauchte, fand zwischen Februar und Mai 2014 die erste Runde der Guarimbas statt, bei der 43 Menschen ums Leben kamen. Zwischen April und Ende Juli letzten Jahres startete die venezolanische Opposition eine zweite Runde von weitaus tödlicheren Guarimbas, bei denen über 125 Menschen starben.
- 2. Sowohl Hinterlaces als auch Datanalisis führten Umfragen durch, die im Januar 2017 veröffentlicht wurden und stellten fest, dass die Unabhängigen etwa ein Drittel der Wählerschaft ausmachen, ein Ergebnis, das die Erosion der Unterstützung für beide Pole des venezolanischen politischen Spektrums bestätigte. Es wurden keine weiteren Umfragen zu dieser Frage durchgeführt, aber man kann spekulieren, dass der Anteil der Unabhängigen angesichts der Implosion des MUD nach der verheerenden Kampagne der aufständischen Gewalt und der anschließenden Wahlniederlagen sowie der Tatsache, dass die Regierung ihre wirtschaftlichen Versprechungen nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 30. Juli nicht einhalten konnte, noch zugenommen hat.
Foto: Rafael Leyva Ricardo/Prensa PSUV