Am Sonntag, um 11 Uhr Ortszeit, fielen türkische Panzer und Infanterie in Afrin ein, einer multiethnischen Region im Nordwesten Syriens mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit. Der Angriff der türkischen Truppen richtet sich gegen die von den USA unterstützte Demokratische Partei der Völker (PYD) und ihre Miliz, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Afrin kontrollieren. Gleichzeitig marschierte auch die Freie Syrische Armee (FSA), Ankaras Stellvertreterarmee in Syrien, vom Süden und Osten her mit Unterstützung durch türkische Panzer und Spezialeinheiten in Afrin ein.
Mit dem Angriff durch die Türkei drohen die Konflikte im gesamten Nahen Osten zu eskalieren und es erhöht die Gefahr eines Kriegs zwischen den Großmächten. Die Türkei geht dabei mit stillschweigender Unterstützung durch Moskau gegen die YPG vor, die das Rückgrat der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) und damit die wichtigste US-Stellvertretermiliz in Syrien bildet. Die Gefahr, dass dies einen Zusammenstoß zwischen amerikanischen, russischen und türkischen Truppen in Syrien und sogar einen umfassenden Krieg zwischen den USA und Russland auslösen könnte, ist sehr real.
Die Bodenoffensive mit dem Codenamen „Olivenzweig“ begann nur wenige Stunden nach einer Serie von türkischen Luftangriffen auf Afrin. Dabei wurde u.a. ein Flugfeld angegriffen, über das US-Truppen die SDF mit Ausrüstung und Waffen beliefern.
Der Angriff markiert einen historischen Zusammenbruch des Nato-Bündnisses, dem sowohl die USA also auch Türkei angehören. Angesichts der Tatsache, dass Berlin das Vorgehen der Türkei offensichtlich gutheißt, wird deutlich, wie gespalten die Nato-Großmächte mittlerweile sind.
In den ersten Stunden der Operation erklärte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim vor der Presse, das Ziel der Operation sei die Errichtung einer 30 Kilometer breiten „Schutzzone“ an der türkisch-syrischen Grenze. Er sagte, die Operation umfasse vier Phasen, nannte aber keine weiteren Details. Vermutlich wird sie jedoch nach Osten auf die Region Manbidsch ausgedehnt werden. Die Region wird seit den Kämpfen gegen Truppen des Islamischen Staats vom SDF besetzt.
Die Folge dieser Besetzung war die sogenannte Operation Schutzschild Euphrat, eine Invasion des türkischen Militärs mit dem Ziel, die kurdische Offensive in Syrien aufzuhalten und den – nach Worten Ankaras – „Terror-Korridor entlang der türkischen Grenze“ zu zerstören.
Die ersten Presseberichte über den türkischen Angriff waren widersprüchlich. Türkische Regierungsvertreter und Medien bezeichneten die Operation übereinstimmend als großen Erfolg. Die YPG behauptete dagegen, sie habe die türkischen- und FSA-Truppen nach „erbitterten Kämpfen“ zurückgeschlagen.
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), eine Dachorganisation von Gruppen wie der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und kurdischen Organisationen in Syrien und dem Iran, verurteilte die Operation und erklärte, sie werde Afrin „mit aller Kraft zur Seite stehen“. In einer schriftlichen Stellungnahme warf sie Russland und Syrien vor, sie würde es der Türkei „erlauben“, Afrin anzugreifen.
Die Offensive könnte einen Bürgerkrieg in mehrheitlich kurdischen Gebieten im Süden der Türkei auslösen. Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte in einer Rede in Bursa an, er werde den Widerstand innerhalb der Türkei gegen diesen Krieg niederschlagen, der u.a. von der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ausgeht: „Wer den Aufrufen der HDP, der KCK oder der PKK folgt und demonstriert, sollte wissen, dass unsere Sicherheitskräfte mit harter Hand gegen sie vorgehen werden. Sie werden dafür teuer bezahlen.“
Am Sonntagabend berichteten die türkischen Medien über drei Raketenangriffe in der südosttürkischen Provinz Reyhanli, bei dem ein Zivilist getötet und 32 weitere verwundet wurden.
Innerhalb der Türkei nutzt Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) den Einmarsch, um die Unterdrückung der politischen Opposition zu verschärfen. Sie wird dabei von der Republikanischen Volkspartei und der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung unterstützt. In mehreren Städten wurden Hunderte von Demonstranten verhaftet. Die Justiz hat Ermittlungen gegen die Vizevorsitzende der Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP), Leyla Güven, den Sprecher der HDP, Ayhan Bilgen, und den Vizevorsitzenden der HDP, Nadir Yıldırım, aufgenommen, nachdem sie den Einmarsch in Afrin kritisiert hatten.
Die Türkei konnte diese Operation nur beginnen, weil Russland sie stillschweigend unterstützt. Moskau hat die Truppen aus Afrin abgezogen, die dort im Rahmen der Intervention gegen die von der Nato unterstützten islamistischen Milizen in Syrien stationiert waren. Dadurch konnten türkische Flugzeuge den regionalen Luftraum nutzen. Russland hat sich außerdem bei der syrischen und iranischen Regierung für die Türkei eingesetzt, die den Einmarsch abgelehnt hatten.
Am Sonntag gaben russische Regierungsvertreter den USA die Schuld an dem Angriff. Sie erklärten, Washington habe diesen provoziert, indem sie ankündigten, die YPG zu bewaffnen und zur Kontrolle der syrisch-türkischen Grenze zu nutzen.
Das syrische Außenministerium erklärte, Syrien verurteile „die türkische Aggression gegen Afrin, einen integralen Bestandteil des syrischen Staatsgebiets, aufs Schärfste“. Es erklärte weiter, diese Aggression sei nur die jüngste in einer ganzen Reihe von Angriffen auf die Souveränität Syriens seitens der Türkei. Die Behauptung des türkischen Außenministers Mevlut Cavusoglu, die Türkei habe Syrien im Vorfeld informiert, seien „Lügen, die die türkische Regierung auch weiterhin verbreitet“.
Iran, der wichtigste regionale Verbündete Syriens, hofft, die Operation werde „zu einem sofortigen Ende kommen“.
Die Offensive der Türkei in Syrien ist das Ergebnis von Jahrzehnte andauernden blutigen Auseinandersetzungen und imperialistischen Kriegen im Nahen Osten, die mit dem Ersten Golfkrieg und der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie im Jahr 1991 begannen. Mit dem Wegfall der militärischen Bedrohung durch die Sowjetunion hatte Washington freie Hand, immer blutigere Kriege im Irak, Afghanistan, Syrien und anderen Länder zu führen; teils mit Unterstützung aller, teils mit Unterstützung einiger Nato-Verbündeten. Es wird jedoch immer klarer, dass die wachsenden internationalen Konflikte, die durch diese Kriege ausgelöst wurden, darunter auch Ankaras Empörung über den Einsatz von kurdischen Stellvertretertruppen durch die USA, ein neues Stadium erreicht haben.
Während die Türkei ihre Offensive gegen die wichtigste US-Stellvertretermiliz in Syrien startet, steht die Nato am Rande des Zusammenbruchs und Washington ist zunehmend isoliert. Im Nahen Osten sieht sich Washington mit einer mächtigen Koalition von Gegner konfrontiert, die selbst von Washingtons nominellen Verbündeten aus Europa unterstützt wird. Als Reaktion darauf haben die USA eine Militärstrategie angekündigt, in deren Mittelpunkt die Vorbereitungen auf einen totalen Krieg gegen Atommächte wie Russland und China stehen.
Die ersten Stellungnahmen aus den USA über die Offensive sind unklar und widersprüchlich. Aus dem Umkreis des US-Außenministeriums heißt es, Außenminister Rex Tillerson habe mit seinen russischen und türkischen Amtskollegen über die „Sicherung der Stabilität im Norden des Landes“ gesprochen. Details wurden jedoch nicht genannt. Vertreter des Pentagon erklärten, sie „ermutigen alle Parteien dazu, eine Eskalation zu vermeiden und sich auf die wichtigste Aufgabe zu konzentrieren: den Islamischen Staat zu besiegen.“
Tatsächlich hat das Pentagon am Freitag eine Nationale Verteidigungsstrategie präsentiert, laut derer der „Krieg gegen den Terror“ durch die Notwendigkeit ersetzt wurde, sich auf einen Krieg gegen rivalisierende Großmächte vorzubereiten. Verteidigungsminister James Mattis erklärte bei der Vorstellung des Dokuments: „Im Mittelpunkt der nationalen Sicherheit der USA steht nicht Terrorismus, sondern die Konkurrenz zwischen Großmächten“. Das Dokument nennt ausdrücklich Russland und China als die größten Bedrohungen für die globale Vorherrschaft der USA.
Die USA sind jedoch offensichtlich besorgt über die Offensive der Türkei. Der Washingtoner Thinktank Center for American Progress warnte, die Offensive könnte eine „neue blutige Phase in dem schon lange andauernden syrischen Bürgerkrieg auslösen“ und „sich auch gegen die USA richten“. Die USA hätten „in den letzten drei Jahren eine konfliktreiche Beziehung mit der Türkei gepflegt, mit der Maßgabe gemeinsam den IS in Syrien zu bekämpfen.“ Das Center for American Progress erklärte weiter: „Nachdem das Ende des Feldzugs in greifbare Nähe gerückt ist, steht dieser Drahtseilakt erneut kurz vor dem Scheitern.“
Der Kontrast zur Politik Deutschlands – der führenden Macht Europas – könnte nicht deutlicher sein. Berlin hat der Offensive offenbar grünes Licht gegeben. Als letzten Mittwoch die Artillerieangriffe auf Stellungen der YPG begannen und Erdogans Nationaler Sicherheitsrat mit einer Invasion in Syrien drohte, traf eine Delegation von hochrangigen Vertretern des türkischen Sicherheitsapparats zu zweitägigen Gesprächen in Berlin ein. Bei diesen Gesprächen diskutierten deutsche und türkische Regierungsvertreter über Maßnahmen gegen die Kurden.
Während die deutsche Presse über Berlins „Wiederannäherung“ an die Türkei diskutiert, erklärte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, Berlin wolle „bessere Verhandlungen“ mit Ankara führen, da dies „der Türkei, Deutschland und Europa zugute kommen“ würde. Berlin kündigte darüber hinaus neue Maßnahmen gegen die Aktivitäten der PKK in Deutschland an. Die Staatsanwaltschaft hat bereits 130 Verfahren eingeleitet.
Berlin deutete auch an, die Türkei werde trotz der Angriffe auf US-Stellvertretertruppen in Syrien weiterhin militärische Unterstützung aus Deutschland erhalten. Zu diesem Zweck behandele es die Forderungen der Türkei nach einer Modernisierung seiner deutschen Leopard-Panzer durch Rheinmetall nun mit erhöhter Priorität. Dazu schrieb Der Spiegel: „Die Bundesregierung zeigt sich bei der Wiederannäherung an die Türkei flexibel. Nach SPIEGEL-Informationen will Berlin jetzt einen millionenschweren Rüstungsdeal mit Ankara abnicken.“
Am Montag drückte Gabriel in einem Telefongespräch mit Cavusoglu zwar seine „Sorge“ über die Eskalation der Lage aus, vermied es aber die türkische Offensive zu verurteilen. Das Auswärtige Amt teilte mit, beide Außenminister seien sich einig gewesen, „dass der politische Prozess für Syrien jetzt intensiv weitergeführt werden müsse“. Zuvor hatte Außenamtssprecherin Maria Adebah erklärt, die Bundesregierung habe kein vollständiges Lagebild und könne das türkische Vorgehen völkerrechtlich daher nicht einordnen.
Die Unterstützung Deutschlands für die Türkei trotz deren Angriffen auf amerikanische Stellvertreterkräfte in Syrien verdeutlicht, dass die Nato tief gespalten ist und die Gefahr eines direkten Konflikts zwischen den internationalen Großmächten wächst.
Foto: http://sendika62.org/2018/01/canli-blog-afrin-operasyonunun-4-gununden-tum-gelismeler-469753/
Quelle: http://www.wsws.org/de/articles/2018/01/23/turk-j23.html