Linker Präsidentschaftskandidat Demirtas wirft dem türkischen Machthaber Erdogan in Wahlkampfspot vor, ein »Ein-Mann-Regime« zu errichten
Aufruf für Demokratie: Anhänger von Selahattin Demirtas verfolgen am Sonntag in Istanbul dessen Rede im staatlichen Fernsehen
Foto: Huseyin Aldemir/Reuters
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Hart ging Selahattin Demirtas mit dem amtierenden türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan ins Gericht. Der Präsidentschaftskandidat der linken und prokurdischen »Partei der Völker« (HDP) erklärte in dem ihm gesetzlich zustehenden zehnminütigen Wahlwerbespot, der am Sonntag vom staatlichen Fernsehsender TRT in der Türkei verbreitet wurde, dass die Herrschaft Erdogans auf Angst und Hoffnungslosigkeit fuße. Außerdem warnte Demirtas im Hinblick auf die weitreichende Macht des Staatspräsidenten vor der Etablierung eines »Ein-Mann-Regimes«. Eine solche Diktatur sei an dem »Wunsch, Vergnügen und den Interessen einer Person ausgerichtet«. Zehntausende Anhänger der HDP verfolgten die Ansprache des seit November 2016 wegen des Vorwurfs der »Terrorismusunterstützung« in Untersuchungshaft sitzenden Politikers bei Kundgebungen im ganzen Land.
In der Türkei finden am kommenden Sonntag vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Erdogan hatte diese Mitte April ausgerufen, um den nationalistischen Taumel auszunutzen, der mit dem türkischen Einmarsch in die kurdische Region Afrin im Norden Syriens angeheizt wurde. Die im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger können bereits vorher abstimmen. In der Bundesrepublik, wo die Wahlen noch bis zum heutigen Dienstag stattfinden, haben nach Angaben der Wahlkommission vom Montag bereits 40,7 Prozent der Berechtigten ihre Stimme abgegeben.
Viele konnten somit die Ansprache von Demirtas gar nicht rechtzeitig mitbekommen, in der er dazu aufrief, »die Angst nicht in die Wahlurne zu werfen«. Vielmehr sollten die Menschen »der Hoffnung und dem Frieden eine Chance geben« und nicht der »Dunkelheit, Angst oder dem Alptraum«. Der HDP-Politiker erklärte zudem: »Ich habe keinen Zweifel, dass ihr euch für Demokratie und Freiheit entscheidet.«
Die HDP ist die einzige Partei, die bei den Wahlen eine konsequente Friedenspolitik vertritt und sich für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Minderheitenrechte einsetzt. Ihren Gegnern ist sie deswegen ein Dorn im Auge. Bei den letzten Parlamentswahlen 2015 erhielt sie 10,8 Prozent der Stimmen, mehrere ihrer Abgeordneten wurden seitdem verhaftet und verloren ihren Sitz in Ankara. In den vergangenen Tagen griffen zudem immer wieder Faschisten HDP-Kundgebungen an, wie die kurdische Nachrichtenagentur Firat am Sonntag meldete.
Sevim Dagdelen, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, kritisierte am Montag gegenüber junge Welt, dass »die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei weder frei noch fair« seien. »Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass er nun erstmals über das staatliche Fernsehen seine Wählerinnen und Wähler ansprechen konnte.« Zugleich unterstrich Dagdelen: »Meine Solidarität gilt Selahattin Demirtas und allen anderen politischen Gefangenen in der Türkei. Sie müssen endlich freikommen.«
Neben dem charismatischen Demirtas sind zwölf weitere hochrangige HDP-Politiker in Haft. Der Präsidentschaftskandidat kann – wenn von Ankara erlaubt – sich gegenüber Medien äußern. Dies gilt nicht für junge Welt, die den HDP-Politiker im vergangenen Jahr zur Rosa-Luxemburg-Konferenz eingeladen hatte. In einer E-Mail von Anfang Juni erklärte die türkische Botschaft, die »Anfrage bezüglich eines Interviews« sei »für nicht geeignet befunden« worden.
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/334375.appell-aus-dem-knast.html