Die Kandidatenlisten der Parteien sind bei der Wahl-Kommission eingegangen. So einfach wie es schien war‘s aber nicht. Viele Entscheidungen darüber, wer für den Senat kandidieren darf und wer auf die Liste kommen sollte, wurden über die Köpfe der Mitglieder hinweg entschieden.
Außer AKP-MHP, stellen sich das „Bündnis der Nation“ und die HDP zur Wahl. Wir werden uns auf die beiden letzteren konzentrieren.
Während die von IYI Partei und Saadet Partei erwarteten Kandidaten in die Liste aufgenommen wurden, wurden viele Kandidaten des linken CHP-Flügels aus der Liste gestrichen. Der interne Machtkampf, der sich bei dem letzten Parteitag der CHP vor einigen Monaten bereits abzeichnete, wird nun mit härteren Bandagen fortgeführt. Durch die Ernennung von Muharrem Ince zum Präsidentschaftskandidaten der CHP hat der rechte Flügel einen Coup gelandet. Erstens lassen sie mit Ince eine bekannte Person kandidieren, die auch IYI Partei und SP bei dem wahrscheinlichen 2. Wahlgang unterstützen könnten, zweitens wird M. Ince durch seine Kandidatur von der Partei fern gehalten. Wenn er die Wahlen gewinnt ist er Präsident, wenn nicht kann er aufgrund des veränderten Wahlgesetzes nicht mehr als Abgeordneter kandidieren. Nun muss der Kandidat dabei zusehen wie viele „Linke“ von den Listen verschwinden. Das Verhalten des Vorsitzenden der CHP lässt vermuten, dass dieser seine Partei für eine „große Koalition“ mit Islamisten SP und Nationalisten IP vorbereiten könnte. Ohne diese Koalition wird es schwierig in dem zukünftigen Parlament Erdogan bzw. die AKP endgültig loszuwerden. Die Zusagen der Bündnisparteien IYI und Saadet gemeinsam mit der CHP gegen Erdogan zu arbeiten, beziehen sich nur auf die Wahlen. Wie sie sich anschließend verhalten werden, bleibt offen. Ihre Unterstützung der AKP wäre durchaus denkbar.
Aber man darf auch nicht vergessen, dass es M. Ince ist, der im Fall, dass er die Präsidentenwahl gewinnt, die Minister ernennt.
Viele Mitglieder der CHP protestierten gegen die Listen und zwangen Kilicdaroglu einige (wenige) Korrekturen vorzunehmen.
Das absurdeste, was die CHP Führung hätte machen können, wäre die Nominierung ihres ehemaligen Parteivorsitzenden Deniz Baykal. Erstens liegt dieser seit Monaten im Krankenhaus und es ist unklar ob er dieses jemals lebendig verlässt. Zweitens war er es, der Erdogan vor 16 Jahren half an die Macht zu kommen. Angeblich soll Erdogan ihm das Präsidentenamt versprochen haben, doch nachdem Erdogan sein Ziel erreicht hatte, tauchte eine illegale Aufnahme von Baykal in einem Hotelzimmer mit einer Frau auf. Das war das Ende von Baykals Karriere als Vorsitzender der CHP. Kilicdaroglu übernahm das Kommando. Aber Baykal ist ein Urgestein der CHP, man kann ihn nicht loswerden, was viele Mitglieder wütend macht.
Aufgrund der Ausrichtung der CHP auf die „Koalition der Nationalen Einheit“ mit Nationalisten und Islamisten, mussten die Kurden außen vor gelassen werden. Nur ist ohne die HDP ein Schlag gegen die AKP nicht möglich.
Das AKP-MHP Bündnis wird mit großer Wahrscheinlichkeit Sitze im Parlament verlieren. Die von der CHP angestrebte Mehrheit im Parlament ist jedoch nur mit der Beteiligung der HDP möglich. Hierauf gehe ich später genauer ein.
Erdogan wird möglicherweise im 1. Wahlgang keine 50%+ Stimmen erhalten und auf den 2. Wahlgang setzen müssen. Aber er kennt die Tricks und Manipulationen, die sich bislang bewährt haben. Ob es ihm dieses mal wieder gelingt diese erfolgreich einzusetzen, bleibt abzuwarten.
Interessant ist, wer den zweiten Platz belegen wird; höchstwahrscheinlich M. Ince. Dann wird es komplizierter. Die Parteien IP, SP und HDP haben bereits zugesagt, dass sie Ince unterstützen wollen, aber wer weiß?
Wer könnte wen unterstützen
Kandidaten Unterstützer
Erdogan (AKP) | AKP und MHP, wenn bei den Parlamentswahlen nicht sehr große Verluste erlitten werden und sie ihre Anhänger noch mobilisieren können. Vielleicht ein kleiner Teil der Anhänger der SP und IYI |
M. Ince (CHP) | CHP, IYI, SP, HDP.
Dabei muss man das Verhältnis von Nationalisten und HDP berücksichtigen, es ist fraglich ob sie ein Bündnis eingehen bzw. wie sie dies ihren Wählern erklären könnten. Alle vorgenannten Parteien haben aber ihre Unterstützung zugesagt. |
Aksener (IP) | CHP, IYI, SP.
Die HDP wird sie nicht unterstützen, da die Wunden, die Aksener dem kurdischen Volk zugefügt hat noch nicht geheilt sind. CHP und SP haben ihre Unterstützung zugesagt. |
Demirtas (HDP) | HDP, Demokraten und Sozialisten, vielleicht auch ein Großteil der CHP. Ob jedoch die CHP Führung mitmacht ist noch unklar.
Einen kurdischen Präsidenten gab es schon mal, T. Özal, der jedoch aus der liberalen Ecke kommt. Dies könnte einigen der Anhänger der anderen Parteien Ängste nehmen. |
Für die HDP geht es in erster Linie darum die 10% Hürde zu schaffen und es gibt keinen Grund, warum sie das nicht schaffen sollten. Vor allem im Westen und in vielen Großstädten können sie auf die Stimmen der Demokraten und Sozialisten zählen. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. In Kurdistan versucht Erdogan jedoch die Kurden von den Wahlen fern zuhalten. Wahllokale werden zusammengelegt, der Weg soll möglichst weit sein. Bei dem Referendum und den letzten Wahlen waren Erdogan & Co. allerdings trotz der massiven Manipulationen nicht so erfolgreich wie sie gehofft hatten.
AKP & Erdogan wissen wohl, dass die HDP bei diesen Wahlen eine zentrale Rolle spielt. Wenn die HDP unter der 10% Hürde bliebe, würden fast 70 Parlamentssitze unter den Anderen aufgeteilt. Dies ist aber nur Wunschdenken von Erdogan, das nicht in Erfüllung gehen wird.
Die HDP ist bei der Wahl der Kandidaten sorgfältig und demokratisch vorgegangen. Dies ergab eine bunte Mischung, die ihre traditionellen Wähler, aber auch die Linke anspricht. Sie tritt mit großem Selbstbewusstsein zu den Wahlen an.
Blöd ist es, dass ihr Präsidentschaftskandidat Demirtas immer noch im Gefängnis sitzt und seine Partei nicht durch die Wahlvorbereitungen führen kann. Die Bemühungen für seine Entlassung bleiben bis heute erfolglos. Wie seine Verhaftung, entbehrt auch die Ablehnung des Freilassungsantrags jeglicher rechtlichen Grundlage, pure Willkür.
Der wirtschaftliche Kollaps des Landes, aufgrund der Durchsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik auf Kosten der Bevölkerung, wird auch auf der nächsten Regierung lasten. Weder Erdogan, noch der nächste Präsident werden in der Lage sein, sich gegen diese Angriffe zu wehren. Die demokratischen Rechte werden noch weiter beschnitten werden und die Privatisierungen werden der Bevölkerung auch das letzte Hemd aus der Hand reißen. Nach den Wahlen wird sich die wirtschaftliche Situation weiter verschärfen. Eine direkte Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich ist nicht zu vermeiden. Die Neoliberalen werden versuchen die Situation für sich zu nutzen. Die vom AKP Regime entmachteten, verängstigten Völker könnten nun für die Sozialisten leichter ansprechbar sein. Vor allem, wenn die Massen durch das Ende der Erdogan/AKP-Ära und nach deren Verlusten im 1. Wahlgang, ermutig werden.
Die Sozialisten müssen sich darauf vorbereiten, Wahlen hin oder her, die Kräfte der unzufriedenen Massen müssen in den Kampf für eine demokratische Zukunft kanalisiert werden. Nur so können die richtigen Antworten auf die entscheidenden Fragen geliefert werden, denn:
Entschieden wird auf der Straße, nicht in Parlament!
Die Abkürzungen:
AKP: Partei von Erdogan
CHP: Sozialdemokraten
HDP: Demokratische Partei der Völker
IYI Partei (IP): Nationalisten, Abgänger von der MHP
Saadet Partei (SP): Islamisten
MHP: Ultra-Nationalisten
Verfasst für Freiesicht.org