Der unnachahmliche Eduardo Galeano teilt seine Gedanken über Fußball – 2. Juli 2005
Im Jahr 2002 kündigte Clint Mathis, US-amerikanischer Fußballstar, an, dass sein Team die WM gewinnen werde. Dies sei nur logisch und natürlich, erklärte er, denn: „Wir sind so ziemlich das führende Land in allem.“ Das in allem führende Land wurde Achter.
Beim Fußball geschieht Unerwartetes. In einer Welt, die rund um die tägliche Bestätigung der Macht der Mächtigen organisiert ist, ist nichts seltener als die Krönung der Erniedrigten und die Erniedrigung der Gekrönten. Jedoch, ab und an kommt es beim Fußball zu diesem seltensten Ereignis.
In der Tat liegt es nur ein Jahr zurück, dass ein arabisches Team, zum ersten Mal in der Geschichte Israels, Meister wurde. Und zum ersten Mal in der Geschichte war ein tschetschenisches Team der Champion Russlands. Bei den Olympischen Spielen gewann die – vom Krieg erschütterte – Fußballmannschaft des Iraks ein Spiel nach dem anderen, schaffte es in einer Reihe von Überraschungen, entgegen allen Prognosen und jeglicher Wahrscheinlichkeit ins Halbfinale und war der Liebling der Zuschauer.
Ein mächtiges Symbol, ein großes Mysterium: Niemand weiß warum (trotz mannigfaltiger Theorien), aber in der heutigen Welt finden viele Menschen im Fußball die einzige Form von Identität, in der sie sich selbst erkennen und an die sie wirklich glauben. Was auch immer die Gründe sein mögen, kollektive Würde hat viel zu tun mit dem Weg eines Balles, der durch die Luft fliegt.
Ich meine nicht nur die Gemeinschaft, die die Fans mit ihren Teams jeden Sonntag auf den Tribünen der Stadien erleben, sondern auch und vor allem das Spiel, das auf Wiesen, kleinen Feldern, am Strand und auf den wenigen öffentlichen Plätzen, die noch nicht von der Amok laufenden Urbanisierung verschlungen worden sind, gespielt wird. Enrique Pichon-Riviere, ein argentinischer Psychiater und passionierter Studierender des menschlichen Leids, kann die Wirksamkeit von Fußball, als Therapie für die durch Verachtung und Einsamkeit entstehenden Krankheiten, bestätigen. Dieser Sport ist eine gemeinsame Anstrengung, er wird in Teams gespielt; er schafft eine Energie, die den Verachteten sehr helfen kann, sich selbst zu lieben und sie vor der Einsamkeit, dem Gefühl zu ewiger Isolation verdammt zu sein, bewahren kann.
In dieser Hinsicht ist die Erfahrung von Australien und Neuseeland/Aotearoa sehr aufschlussreich. Die dortigen Muttersprachen haben kein Wort für Selbstmord, aus dem einfachen Grund, dass Selbstmord im Leben der Ureinwohner nicht existierte. Ein paar Jahrhunderte Rassismus und Marginalisierung sowie die gewaltsame Eruption der Konsumgesellschaft, mit ihren unerbittlichen Werten, haben es geschafft, die Selbstmordrate unter Kindern und Jugendlichen der Ureinwohner zur höchsten der Welt zu machen.
Angesichts dieses schrecklichen Panoramas, mit solch tiefen Wurzeln und solch gebrochenen, gibt es keinen Zaubertrank, der als Heilmittel wirken kann. Aber das Zeugnis jener bewundernswerten Leute, die gegen den Tod arbeiten, stimmt in einer Tatsache überein. Sport, insbesondere Fußball, ist einer der wenigen Orte, der den Menschen, die keinen Platz in der Welt haben, Schutz bieten kann. Und er trägt wesentlich zur Wiederherstellung der solidarischen Bindungen bei, die durch die im heutigen Australien, Neuseeland/Aotearoa und dem Rest der Welt vorherrschende Kultur der Entfremdung/Vereinzelung zerstört wurden.
Nach und nach hat sich der Frauenfußball in den Sportmedien einen größeren Raum geschaffen, in denen meist Männer über Männer berichten und nicht wissen, was sie von dieser Invasion der Frauen und Mädchen halten sollen.
Auf professioneller Ebene hat die Entwicklung des Frauenfußballs heute eine gewisse Resonanz gefunden. Aber auf das Spiel, das aus reinem Spielvergnügen gespielt wird, gibt es kein oder nur ein feindseliges Echo.
In Nigeria ist das Frauenteam ein nationaler Schatz und Quell eines tiefen Gefühls des Stolzes. Es gehört zu den besten der Welt. Aber im muslimischen Norden des Landes sind die Männer dagegen, weil Sport Mädchen in die Verderbtheit führt. Am Ende akzeptieren sie es aber, weil Fußball zwar eine Sünde ist, ihnen jedoch Ruhm bringen und ihre Familien vor Armut bewahren kann. Gäbe es nicht das vom Profifußball versprochene Gold, würden Väter ihren Töchtern verbieten, diese unanständigen, von einem satanischen Sport verlangten Outfits zu tragen, von dem sie behaupten, dass er Frauen unfruchtbar macht, wegen des Spiels selbst oder der Bestrafung durch Allah.
In Sansibar und im Sudan werden die weiblichen Spielerinnen von ihren Brüdern, den Wächtern über die Familienehre, geschlagen, um diesen Wahn ihrer Schwestern zu bestrafen, die denken Manns genug zu sein, einen Ball zu dribbeln und den Frevel begehen ihren Körper zu zeigen. Fußball, ein Spiel für Männer, verweigert Frauen Felder zum Spielen und Üben. Die Männer weigern sich gegen die Frauen zu spielen. Aus Respekt vor der Religion, sagen sie. Vielleicht ist es so. Oder vielleicht verlieren sie, wenn sie spielen.
Quer über den Ozean, in Bolivien, gibt es kein Problem. Frauen spielen Fußball in den Städten der Hochebene, ohne ihre zahlreichen Röcke auszuziehen. Sie tragen ihre bunten Trikots oben drüber und können trotzdem Tore schießen. Jedes Spiel ist eine Party. Fußball ist ein Freiraum für diese kinderreichen Frauen, die erdrückt werden durch die Schufterei auf den Feldern und in den Mühlen und die häufig Misshandlungen durch ihre betrunkenen Ehemänner ausgesetzt sind. Sie spielen barfuß. Das Siegerteam erhält ein Schaf, so auch das verlierende Team. Diese stillen Frauen lachen mehr und mehr während des Spiels und lachen ausgelassen weiter während des Festessens. Sie feiern zusammen, die Gewinner und die Verlierer. Kein Mann würde es wagen, einen Fuß hineinzusetzen.
Eduardo Galeano (1940 – 2015) ist der Autor von „Die offenen Adern Lateinamerikas“ und galt als der „herausragende Literat des globalen Fußballs“.
Quelle: https://newint.org/columns/viewfrom/2005/07/01/eduardo-galeano-new-internationalist-football
Übersetzt für freiesicht.org