Es hat sich gezeigt, dass sich die türkischen säkularen Kräfte über Frauenfeindlichkeit im Namen des Islam empören, aber auch die meisten der gemäßigten Religiös-Konservativen, von denen viele für Präsident Recep Tayyip Erdogan stimmen, sind darüber beunruhigt.
Die öffentlichen Äußerungen des mächtigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan haben in den letzten Jahren im Westen oft für Stirnrunzeln gesorgt. In einer Rede vom 8. März, dem Internationalen Frauentag, brach Erdogan jedoch mit diesem Muster und sagte etwas, was nur Musik für liberale Ohren sein konnte: Er verurteilte frauenfeindliche Geistliche, die Frauen degradieren, und sagte sogar: „Der Islam muss reformiert werden“.
Die Rede wurde vor Hunderten von türkischen Frauen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten gehalten, die zum Internationalen Frauentag in den Präsidentenpalast nach Ankara eingeladen worden waren. In seiner Ansprache an die Frauen verwies Erdogan implizit auf einige ultrakonservative Gelehrte in der Türkei, die kürzlich für Empörung in der Gesellschaft sorgten, indem sie frauenfeindliche Praktiken wie das Schlagen von Frauen verteidigten. „Kürzlich haben einige Leute, die behaupteten, Kleriker zu sein, Aussagen gemacht, die der Religion widersprechen“, sagte Erdogan. „Sie haben keinen Platz in der heutigen Zeit. Ihnen ist nicht klar, wie der Islam reformiert werden muss und entsprechend reformiert wird. Man kann die Religion heute nicht genauso wie vor 15 Jahrhunderten praktizieren. Der Islam verändert sich und passt sich den Bedingungen verschiedener Zeitalter an. Das ist die Schönheit des Islam.“
Diese progressive Auffassung von Religion, insbesondere der bloße Hinweis, dass „der Islam reformiert werden muss“, war für einige der typischen Pro-Erdogan-Kommentatoren wie eine kalte Dusche. Während viele von ihnen Inn den sozialen Medien still hielten, übten andere milde Kritik und wiederholten das übliche Mantra, dass „der Islam perfekt sei“, er brauche kein „Update“ und dass es nur die Muslime seien, die sich vervollkommnen müssen, indem sie nach den festgelegten Geboten des Islam leben.
Einen Tag später verbesserte Erdogan seine ursprüngliche Bemerkung über die Reformierung des Islam und sagte, dass er keine „Reform der Religion “ anstrebe. („Reform“ ist ein schmutziges Wort im konservativen Sprachgebrauch.) „Die Worte unseres heiligen Korans werden immer gelten, Gebote werden sich niemals ändern „, bekräftigte Erdogan. Er fügte jedoch hinzu: „Die unabhängige, aus dem Koran abgeleitete Deutung“ – mit anderen Worten, viele Klauseln in der klassischen Rechtsprechung würden sich „sicherlich gemäß der (heutigen) Zeit, den Bedingungen und den Möglichkeiten verändern“.
Warum hat Erdogan diese nicht-konservative Position zum Islam eingenommen? Und was bedeutet das für die Lage in der Türkei?
Zunächst müssen wir uns den Hintergrund von Erdogans Bemerkungen ins Gedächtnis rufen. In den vergangenen Jahren haben die religiösen Konservativen in der Türkei ein Maß an Meinungsfreiheit gefunden, das sie seit einem Jahrhundert nicht mehr gesehen haben. Während die Redefreiheit in der Türkei insgesamt dramatisch zurückgegangen ist, wie von Freedom House festgestellt, hat sich dieser Rückgang nur auf das Anti-Erdogan-Lager ausgewirkt. Während die Säkularen weitgehend aus Staat, Medien und Zivilgesellschaft weggefegt wurden, wurde dieses Vakuum durch religiöse Konservative und Islamisten verschiedenster Art gefüllt, die nun das Selbstvertrauen haben, sich freimütig zu äußern und auch einflussreiche Medienforen wie das Staatsfernsehen nutzen.
Einige dieser neu ermächtigten Konservativen sind Menschen mit einem sehr archaischen Verständnis des Islam. Infolgedessen wurde es für Türken üblich, eine schreckliche „Fatwa“ (religiöse Anschauung) nach der anderen zu hören. Ein Gelehrter schlug beispielsweise vor, dass schwangere Frauen nicht frei herumlaufen sollten, während ein anderer „Frauen, die Hosen tragen“ mit dem Höllenfeuer bedrohte.
Kürzlich löste Nurettin Yildiz, ein traditioneller Gelehrter und Kolumnist der islamistischen Zeitung Milli Gazete, noch mehr Empörung aus, als er erklärte, dass es im Islam für Kinder im Alter von 6 Jahren erlaubt sei, zu heiraten. Er verteidigte auch das Schlagen von Frauen und empfahl sogar, dass Frauen, die von ihren Ehemännern geschlagen werden, „dankbar“ für diesen Segen sein sollten.
Hier ist der entscheidende Punkt: Diese schrecklichen Ansichten schockieren die säkularen Menschen in der Türkei, von denen fast alle gegen Erdogan sind. Aber sie waren auch für die meisten der moderaten Religiös-Konservativen schockierend, von denen viele für Erdogan stimmen.
Dies ist der Fall, denn wie Umfragen zeigen, bilden Hardcore-Islamisten, die eine auf der Scharia basierende Türkei sehen möchten – eine wie Saudi-Arabien, in der Geschlechter getrennt und Ehebrecher gesteinigt werden – eine kleine Minderheit in der Türkei. Wie Umfragen von Pew Research gezeigt haben, machen jene Türken, die die Scharia als „das Gesetz des Landes“ sehen wollen, etwa 12% der Gesamtbevölkerung aus, während es in Pakistan 84% und in Ägypten 74% sind. Auf die Frage, ob Söhne und Töchter gleiche Erbrechte haben sollten, sagen 88% der Türken „Ja“, wohingegen es in Pakistan nur 53% und in Ägypten 26% sind.
Mit anderen Worten, die 150 Jahre währende Verwestlichung der Türkei, die auf das späte Osmanische Reich zurückgeht, und die jahrhundertelange Erfahrung der säkularen Republik haben gewisse moderne Werte in der Gesellschaft verankert, selbst im konservativeren Lager.
Kein Wunder, dass Yildiz ’schockierende Aussagen über das Schlagen von Frauen und die Eheschließung mit Kindern auch von Kommentatoren in den konservativen und pro-Erdogan-Medien stark kritisiert wurden – in Zeitungen wie Sabah oder Yeni Safak. Vor kurzem bezeichnete Devlet Bahceli, der Vorsitzende der MHP (nationalistische Partei) und ein wichtiger Erdogan-Verbündeter, Yildiz als „pervers“, weil er sagte, Männer und Frauen sollten nicht in den gleichen Aufzug steigen.
Erdogans Reaktion auf „Kleriker, die Frauen degradieren“ sollte in diesem sozialen Kontexts gesehen werden. Sie sollte uns auch daran erinnern, dass Erdogan am Ende des Tages ein populistischer Politiker und kein doktrinärer Kleriker ist. Er verfolgt die gesellschaftlichen Trends sorgfältig, führt regelmäßig Umfragen durch und versucht sein Bestes, den Zeitgeist einzufangen. Kein Wunder, dass sein politisches Narrativ nicht auf einem starren Islamismus basiert, der nur eine beschränkte Anziehungskraft hätte, sondern auf einem islamischen Nationalismus, der die Mehrheit der türkischen Gesellschaft anspricht. (Das wichtigste politische Merkmal in der türkischen Gesellschaft war immer Nationalismus, mehr als alles andere.)
Welches auch immer seine politischen Gründe sind, Erdogans Unterstützung für die Idee, dass „der Islam reformiert werden muss“ ist frischer Wind auf den Mühlen der modernistischen Theologen der Türkei, die sich in letzter Zeit über den Aufstieg der ultrakonservativen Gelehrten sorgten, von denen einige auch als „Salafi“ bezeichnet werden. In einem Land, in dem das Wort des Präsidenten fast alles bestimmt, wird Erdogans grünes Licht für neue Interpretationen des Islam hilfreich sein.
Es gibt jedoch auch einen Nachteil: die Macht des Präsidenten – und damit des Staats – über die Religion. Die Türkei war schon immer ein sehr etatistisches Land, in dem die Regierung die Religion kontrolliert und der Zivilgesellschaft wenig Raum gelassen hat. Erdogans Versuch, den „richtigen Islam“ zu definieren, wird diese staatszentrierte Kultur nur vertiefen.
Ein modernistischer Theologe hat das in einer Zeitungskolumne gut dargelegt. Das Hauptproblem der Türkei auf religiösem Gebiet sei, so der Theologe, „dass verschiedene Gruppen bereit sind, ihre eigene Interpretation der Religion durch den Staat legitimieren zu lassen, und der Gesellschaft aufzuzwingen.“ Und es gebe wenig Hoffnung, fügte er hinzu, dass dieser Teufelskreis in naher Zukunft durchbrochen wird.
Übersetzt für freiesicht.org