KABUL/BERLIN (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung dringt auf die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan durch den Bundestag in der nächsten Woche. Verließen die westlichen Truppen das Land, dann werde dort „all das, was mühsam, sehr mühsam aufgebaut wurde, zusammenbrechen“, erklärt Außenminister Heiko Maas anlässlich seines jüngsten Besuchs bei dem Kontingent der Bundeswehr am Hindukusch. Tatsächlich ist die Lage im Land längst dramatisch und hat sich in Anwesenheit der westlichen Streitkräfte stets weiter verschlechtert. So übt die Regierung in Kabul nur noch über 53,8 Prozent der afghanischen Distrikte die Kontrolle oder zumindest maßgeblichen Einfluss aus, mit deutlich sinkender Tendenz. Die Zahl der Todesopfer steigt kontinuierlich. So sind im vergangenen Jahr laut Angaben der UNO 3.804 Zivilisten ums Leben gekommen, mehr als je zuvor. Auch die Zahl der getöteten afghanischen Soldaten und Polizisten steigt rapide und lag zuletzt bei mindestens 175 pro Woche, mutmaßlich sogar höher. Die Bundeswehr ist weitestgehend mit ihrem eigenen Schutz befasst.
Weniger Kontrolle
Mehr als 17 Jahre nach dem Einmarsch westlicher Truppen in Afghanistan und dem Beginn des Einsatzes der Bundeswehr dort gerät die Lage im Land immer mehr außer Kontrolle. Dies zeigt exemplarisch der jüngste Bericht des Washingtoner Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) vom 30. Januar. Demnach ist die Anzahl der Distrikte, die die Regierung kontrolliert oder auf die sie zumindest maßgeblichen Einfluss hat, auf 219 gesunken – 53,8 Prozent der 407 Distrikte des Landes.[1] 50 Distrikte (12,3 Prozent) werden von Aufständischen kontrolliert oder maßgeblich beeinflusst, während die restlichen 138 (33,9 Prozent) als „umkämpft“ gelten. Bezogen auf die Bevölkerungszahl sind die Ergebnisse etwas günstiger für die vom Westen gestützte Regierung, weil die Aufständischen meist dünner besiedelte ländliche Distrikte beherrschen. Demnach hat die Regierung Kontrolle oder maßgeblichen Einfluss auf immerhin 63,5 Prozent der Bevölkerung. Allerdings ist auch dies der niedrigste Wert, seit der SIGAR im November 2015 begonnen hat, die Zahlen zu erheben. Seither ist der Anteil der regierungskontrollierten Distrikte um gut 18 Prozentpunkte gefallen, derjenige der von Aufständischen kontrollierten Distrikte hingegen um rund fünf Prozentpunkte, derjenige der umkämpften Distrikte um 13 Prozentpunkte gestiegen.
Mehr zivile Opfer
Auch die Zahl der Todesopfer des Krieges nimmt zu. Dies gilt zum einen für Zivilpersonen. Laut Angaben der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) sind im vergangenen Jahr nicht nur 7.189 Zivilisten durch Kampfhandlungen und Anschläge verletzt, sondern auch 3.804 getötet worden – fünf Prozent mehr als 2017 und die höchste Zahl, seit die UNAMA im Jahr 2009 begonnen hat, die Opfer des Krieges in Afghanistan systematisch zu dokumentieren. 14 Prozent davon schreibt die UN-Mission afghanischen Kräften (Afghan National Defense and Security Forces, ANDSF) zu, sechs Prozent den internationalen Streitkräften; dazu kommen bisher ungeklärte Fälle, die insgesamt zwölf Prozent ausmachen. Insbesondere die Zahl der Menschen, die durch Luftangriffe afghanischer oder auswärtiger Bomber ums Leben kamen, ist stark gestiegen – um 61 Prozent auf 536, darunter 236 Kinder (mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor). 284 Menschen haben darüber hinaus bei Suchoperationen, die oft von „Luftunterstützung“ auswärtiger Kampfflieger begleitet wurden, den Tod gefunden.[2] Die Luftangriffe waren 2018 beim – klar gescheiterten – Versuch, die Aufständischen noch einmal zurückzudrängen, um 51 Prozent ausgeweitet worden.
175 Tote pro Woche
Hinzu kommt eine steigende Zahl an Todesopfern bei den ANDSF. Offizielle Zahlen waren lange nicht erhältlich, da sie im Mai 2017 von Kabul in Abstimmung mit Washington strikter Geheimhaltung unterworfen worden waren. Im November hat Afghanistans Präsident Ashraf Ghani erstmals damit gebrochen und erklärt, seit 2015 seien 28.529 afghanische Militärs und Polizisten ums Leben gekommen. Treffen frühere Angaben zu, denen zufolge im Jahr 2015 rund 5.000, 2016 rund 7.000 Todesopfer zu beklagen waren, dann sind allein 2017 und 2018 mehr als 16.500 Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte ums Leben gekommen. Im Durchschnitt wären das 175 pro Woche, wobei die Berechnung insofern etwas irreführt, als der Krieg im bitterkalten afghanischen Winter regelmäßig abflaut, was den Schnitt ein wenig drückt.[3] Womöglich liegt die Zahl sogar noch höher: Auf dem Weltwirtschaftsforum im Januar in Davos sprach Ghani sogar von über 45.000 getöteten Mitgliedern der ANDSF. Dies und eine sehr hohe Zahl an Desertionen führen dazu, dass die ANDSF statt ihrer Sollstärke von 352.000 Mann weniger als 309.000 zählen – mit schrumpfender Tendenz.[4]
Hauptaufgabe: Selbstschutz
Die Bundeswehr, deren Einsatz jetzt verlängert werden soll, ist mit ihren derzeit rund 1.200 Soldaten offiziell vor allem mit der Ausbildung der ANDSF beschäftigt. Tatsächlich dient ein Großteil der deutschen Aktivitäten lediglich dazu, die eigene Präsenz aufrechtzuerhalten und die vergleichsweise wenigen Militärs, die mit Ausbildungsmaßnahmen befasst sind, zu schützen. Dies geht aus einem aktuellen Bericht hervor. Demnach leben die meisten Soldaten der Bundeswehr „nahezu unbehelligt in einem großen Camp mit einer Ausdehnung von 3,75 Quadratkilometern“, in dem es „Einkaufsmöglichkeiten, Sportstätten, ein Krankenhaus, Post, Apotheke, Freizeitheime“ gibt. „Nur ein Bruchteil der Soldaten“ – rund 100 bis 150, heißt es – „verlässt je das Lager“. Dabei beschränkt sich „der Radius der Patrouillen“ auf drei bis fünf Kilometer; die Stadt Mazar-i-Sharif, bei der das Bundeswehrlager („Camp Marmal“) liegt, wird regulär nicht betreten. Mit der Ausbildung afghanischer Einheiten sind allenfalls „zwischen zehn und achtzig“ deutsche Soldaten beschäftigt, die dabei von Sicherungszügen schwer bewacht werden.[5] Während Bundesregierung und Bundeswehr offiziell gewöhnlich Erfolgsmeldungen verbreiten, geben sich die Soldaten vor Ort recht nüchtern. So heißt es in Camp Marmal laut dem aktuellen Bericht, es werde „mit großem Aufwand ein höchstens bescheidener Erfolg“ erzielt.
Im Zusammenbruch
Trotz der desaströsen Bilanz hält die Bundesregierung an dem Bundeswehreinsatz fest. Die Intervention müsse verlängert werden, forderte Außenminister Heiko Maas in dieser Woche anlässlich seines Besuchs beim deutschen Militärkontingent in Afghanistan: Andernfalls werde „all das, was mühsam, sehr mühsam aufgebaut wurde“, binnen kürzester Zeit „in sich zusammen[brechen]“.[6] Der Bundestag soll in der nächsten Woche über die Verlängerung des Einsatzes abstimmen, der aktuell nur noch bis zum 31. März mandatiert ist. Tritt keine plötzliche Besserung der Lage ein – etwa durch eine Einigung mit den Taliban, mit denen derzeit über eine Beendigung des Krieges und einen Truppenabzug verhandelt wird -, dann ist für das nächste Mandatsjahr erneut mit Tausenden zivilen Todesopfern bei einem Schnitt von vielleicht 175 toten ANDSF-Mitgliedern pro Woche zu rechnen – im dann 18. Jahr des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan.
[1] SIGAR: Quarterly Report to the United States Congress. 30.01.2019.
[2] United Nations Security Council: The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security. 28.02.2019.
[3] Rod Nordland, Fahim Abed: Afghan Military Deaths Since 2015: More Than 28.000. nytimes.com 15.11.2018.
[4] SIGAR: Quarterly Report to the United States Congress. 30.01.2019.
[5], [6] Maas wirbt für Fortsetzung des Afghanistan-Einsatzes. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.03.2019.