Das Landgericht in Hamburg hat am 20. Februar ein interessantes Urteil gefällt: Die im Internet aktive Gruppe 42 aus Wien darf weiterhin den Klarnamen eines Autors aus Ingolstadt bekanntmachen, der bei Wikipedia unter dem Alias »Feliks« tendenziöse Berichte verfasst hatte. Das öffentliche Interesse zu wissen, wer wirklich hinter dem jeweiligen Beitrag steht, überwiege gegenüber dem Recht auf Anonymität, so die Richter.
Markus Fiedler und Dirk Pohlmann, zwei Journalisten und Filmemacher der in Österreich von Linken als »rechtsoffene Thrutherbewegung« (psiram.com) benannten Gruppe 42, war aufgefallen, dass sich Wikipedia-Autor »Feliks« ausschließlich um Themen im Zusammenhang mit Israel kümmert. Dabei soll er mehrere tausend Artikel umgeschrieben und »zahlreiche Personen, darunter insbesondere Politiker, Publizisten und Forscher, die sich kritisch zu transatlantischen oder israelischen Positionen geäußert hatten«, denunziert haben, schreibt die Presseagentur Pressenza aus Berlin. Besonders Mitglieder der Partei Die Linke soll er im Visier gehabt und mit Attributen wie »antizionistisch« oder »antisemitisch« bedacht haben.
Fiedler und Pohlmann hatten herausgefunden, wer »Feliks« im bürgerlichen Leben ist: ein Rechtspfleger aus Bayern, der früher wohl mal Landesschatzmeister ausgerechnet ebenfalls der Linkspartei gewesen sein soll. Der ehemalige Bundeswehr-Soldat sei zum jüdischen Glauben konvertiert und habe anscheinend an einem Programm der israelischen Freiwilligenarmee »Sar-El« teilgenommen. Das Programm wendet sich an Ausländer und sieht keinen Dienst an der Waffe vor.
Natürlich könnte »Feliks« mit dieser Vita auch neutrale Beitrage für Wikipedia verfassen. Aber das will bzw. wollte er offenbar gar nicht. Die Gruppe 42 veröffentlichte deshalb den Klarnamen, um »unbedarfte Nutzerinnen und Nutzer vor Manipulation« zu schützen. Dagegen erwirkte »Feliks« zunächst eine einstweilige Unterlassung, die das Landgericht nun aufgehoben hat.
»Das Hamburger Urteil dürfte einen Präzedenzfall darstellen und erhebliche Signalwirkung haben«, kommentiert Pressenza. Immerhin ist Wikipedia mit rund 2,2 Millionen Artikeln und geschätzt einer Milliarde Aufrufen im Monat das mit weitem Abstand wichtigste Nachschlagewerk in Deutschland – besitzt sogar praktisch das Monopol. Besonders Schüler und Studenten, aber auch Journalisten und Politiker greifen gerne auf die Enzyklopädie zurück. Kein Wunder, denn bei der Suchmaschine Google – ebenfalls mit einer Art Monopolstellung in ihrem Bereich – erscheint Wikipedia in der Ergebnisliste meist auf der ersten Seite.
»Wikipedia hat es geschafft, alle anderen Lexika, seien es nun haptische Bücher oder seien sie als digitale Netze verfügbar, komplett zu verdrängen«, stellte der Politologe Hermann Ploppa im September 2018 im Netzmagazin Telepolis fest. »Als einem Monopolisten kommt nunmehr Wikipedia eigentlich eine ganz besondere Verantwortung zu, allen Seiten gerecht zu werden und das Objektivitätsgebot besonders streng umzusetzen«, war auf Telepolis zu lesen.
Theoretisch basiert Wikipedia auf der sogenannten Schwarmintelligenz. Mehr als 300.000 Nutzer arbeiteten bisher an den rund 2,2 Millionen Beiträgen. Das soll die Neutralität der Einträge sicherstellen. Eigentlich. »Der Großteil der deutschsprachigen Inhalte wird indes von nur rund 800 Hauptautoren mit über 100 Edits pro Monat verfasst«, schrieb Pressenza im September. »Insgesamt erreichen wenige tausend Autoren mehr als fünf Edits pro Monat.« Der »Schwarm« ist also deutlich kleiner, als viele glauben.
Die in den USA registrierten Wikimedia-Foundation gibt das Megalexikon heraus. Und sie gilt als extrem intransparent: Oben in der Hierarchie stehen zirka 180 Administratoren, die bei Konflikten Artikel löschen und Nutzer sperren können. Sie werden von etwa 3.000 Stimmberechtigten, von denen sich aber oft nur zehn Prozent beteiligen, auf Lebenszeit gewählt, schreibt Pressenza: »Trotz ihrer Machtfülle agieren ca. 90 Prozent der Administratoren pseudonym, in der Öffentlichkeit ist meist nur wenig über sie bekannt.« 5.000 Sichterinnen und Sichter sollen darüber wachen, dass die Wikipedia-Regeln eingehalten werden.
Mit der rasant gestiegenen Reichweite des Internetlexikons stieg auch das Interesse von »Pressure Groups«, auf die Inhalte Einfluss zu nehmen. Das können Staaten sein, politische Lobbygruppen inklusive Parteien oder auch Wirtschaftskonzerne. Sie bezahlen Autoren dafür, auf Wikipedia aktiv zu werden und Beiträgen in ihrem Sinne einen »anderen Rahmen« zu geben, auf neudeutsch: sie zu »framen«, also parteiisch zu verfälschen.
»Es ist höchste Zeit, dass das Nachschlagewerk (…) einer öffentlichen Kontrolle unterzogen wird, um seiner ihm zugewachsenen Verantwortung gerecht werden zu können«, fordert Ploppa deshalb. Die Wikimedia-Foundation sieht das anders: Die Anonymität sei ein hohes Gut. »Im vorliegenden Fall scheint es jedoch auch so zu sein, dass sich der fragliche User auch stark selbst exponiert hat«, zitiert der österreichische Standard am 28. Februar Claudia Garád, Sprecherin von Wikimedia in Österreich. Aufgrund seines Verhaltens und seiner Editierungen sei es leicht gewesen, Rückschlüsse auf »Feliks’« wahre Identität zu ziehen. Konsequenzen? Bisher nicht bekannt.
Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/350538.heute-mach-ich-wikipedia-aus-dem-rahmen-gefallen.html