Mit seiner Ausgrenzung der BDS-Bewegung und der liebedienerischen Politik gegenüber Israel macht sich Deutschland weltweit lächerlich.
von Jochen Mitschka
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Man nannte Deutschland das Land der Dichter und Denker oder — alternativ — der Richter und Lenker. Heute ist Selberdenken in der Heimat Goethes und Kants Mangelware; man käut lieber von der israelischen Rechtsregierung Vorgedachtes wieder und lässt sich von der amerikanischen Vormacht beliebig lenken. Man kann ja über den Sinn und Unsinn von „Nationalstolz“ streiten, aber das Gegenteil davon — komplette Rückgratlosigkeit und Unterwürfigkeit — ist auch ein sehr unwürdiges Schauspiel. Jüngstes Beispiel ist die Resolution des Bundestags gegen die Boykottbewegung BDS. Angeblich in „Verantwortung vor der Geschichte“, also mit Rücksicht auf die Kriegsverbrechen der Nazis, könnte eine solche Politik den gewaltlosen Widerstand gegen moderne Kriegsverbrechen kriminalisieren.
Ein Flughafen der Hauptstadt, der auch nach acht Jahren Verzögerung noch nicht fertig ist. Eine Außenpolitik, welche nur als Vasallenpolitik gegenüber den USA gesehen werden kann: Das Imperium kann in Deutschland handeln und wandeln, wie es ihm beliebt, und alles unternehmen, damit zukünftige Kriege auf dem Boden Deutschlands und Europas stattfinden, jedoch nicht in den USA selbst — und die deutsche Politik wehrt sich nicht dagegen. Dazu kommt die Unterwürfigkeit von Bundestag und Bundesregierung unter eine rechtsextreme israelische Regierung: Staatsräson und Mitläufertum der Abgeordneten bis ins Extreme. Ein Artikel des jüdischen Israelis Gideon Levy in der linksliberalen israelischen Zeitung Haaretz macht Letzteres noch einmal deutlich.
Die Vorgeschichte
Am 17. Mai haben die deutschen Bundestagsabgeordneten mit überwältigender Mehrheit eine Resolution akzeptiert, die die Bewegung für Menschen- und Völkerrecht BDS (Boycott, Desinvestment and Sanctions Movement) gegen die Apartheidspolitik der rechtsextremen israelischen Regierungen als „antisemitisch“ diskriminiert. Dazu gab es bereits reichlich Kritik und Spott aus der ganzen Welt, insbesondere aus liberalen jüdischen Kreisen (1). Könnte nun aus der Resolution sogar ein Gesetz werden? Gideon Levy überschreibt seinen Artikel in der linksliberalen israelischen Zeitung Haaretz so:
„In Deutschland könnte ein gewaltfreier Kampf gegen Kriegsverbrechen kriminalisiert werden. Falls die deutsche Regierung die Bundestags-Resolution anwendet, um die BDS-Bewegung auszugrenzen, wird es nichts Vergleichbares in einer anderen Demokratie geben“ (2).
Die Kritik am Anti-BDS-Gesetz
Levys Beitrag beginnt mit beißender Ironie.
„Die Israel-Lobby ist schon bei der Arbeit, das Ministerium für strategische Angelegenheiten hat den Auftrag schon definiert, die Botschaft in Berlin verbreitet ihn schon: ein neues Gesetz, das dem Bundestag vorgelegt werden soll, ein Gesetz der vollständigen Unterwerfung. Dem Gesetz zufolge muss jeder, der den Namen Israels ausspricht, seinen Kopf senken und sich verneigen, wenn er den Namen in den Mund nimmt. Den Namen Israels nicht auszusprechen, ohne sich zu verneigen, ist die Lektion, die aus dem Holocaust gezogen wird. Verstöße gegen das Gesetz werden als antisemitischer Akt angesehen. Die Erwähnung Israels ohne Prostration (Anmerkung des Autors: ohne sich ehrfurchtsvoll auf den Boden in den Staub zu werfen) wird zur Straftat. Politiker, Rundfunk- und Fernsehsprecher und die Menschen auf der Straße werden die Gesten praktizieren. Gerade so wie in Thailand, wo jeder auf die Knie fällt, wenn der König eintritt, wird es werden, wenn Israel erwähnt wird.“
Levy fragt dann zynisch weiter, ob das Land Israel diese Gesten verdienen würde und ob es eine gerechtere Antwort auf Antisemitismus gäbe. Und er glaubt, dass dem Beispiel Deutschlands andere Staaten folgen werden, nicht zuletzt viele Bundesstaaten in den USA. Man stelle sich diesen gewaltigen Erfolg israelischer Diplomatie vor.
Dann aber kommt er zurück in die Realität und erklärt, dass Deutschland in Wirklichkeit nicht weit von diesem Szenario entfernt ist. Falls die deutsche Bundesregierung die Resolution in ein Gesetz gießt, das die BDS-Bewegung für antisemitisch erklärt, wäre man dort angelangt. Damit würde die BDS-Bewegung davon abgehalten, in der Öffentlichkeit zu agieren. Levy weist auf einen Bericht Noa Landaus in der gleichen Zeitung hin; dieser berichte, dass Israel seine Propaganda-Maschine auf vollen Touren laufen lässt, um Druck auf die Regierung Deutschlands auszuüben, damit sie diese Entscheidung fällt (3). Er glaube, dass die Bemühungen so erfolgreich sein werden, wie diejenigen, mit denen die „wahnhafte“ Resolution des Bundestages durchgesetzt wurde.
Gideon Levy stellt weiter fest, dass ein gewaltfreier Widerstand gegen Kriegsverbrechen kriminalisiert werden soll und so der Unterdrücker zum Opfer erklärt würde. Die Meinungsfreiheit würde dadurch zu einem Witz verkommen. Etwas Vergleichbares gäbe es in keiner anderen Demokratie.
„Kurz bevor Israels Botschafter in Berlin, Jeremy Issacharoff — der es „beschämend“ nannte, als jüdische Intellektuelle eine Petition gegen das Gesetz unterzeichneten —, die Korken knallen lässt und eine weitere Großtat nach Jerusalem berichtet, müssen wir uns fragen: Ist das wirklich ein erfolgreicher Schachzug? Für Israel? Für die Juden?“
Levy fragt, ob ein so aggressives und gieriges Verhalten nicht auf Israel zurückfallen könnte. Diese imaginären Errungenschaften seien nicht gerade durch legitime Mittel erreicht worden, sondern sie basierten auf der emotionalen Erpressung Deutschlands, wobei verschiedene Organisationen — einige im Geheimen — die unterschiedlichsten Formen des Drucks angewandt haben. Er bezweifelt, dass dies alles letztlich Israel zugutekommen würde.
Israel hätte selbst eine Vogelscheuche als Feind aufgebaut und sich entschlossen, gegen sie zu kämpfen. Die Palästinenser wären geschlagen worden, die arabischen Staaten beschäftigt mit eigenen Problemen, also, so Levy, benötigte Israel dringend einen neuen Feind.
Die Boykott-Bewegung, welche von Omar Barghouti aufgebaut worden war, wäre den israelischen Politikern und Diplomaten wie eine reife Frucht vor die Füße gefallen. Plötzlich wäre Gilad Erdan nicht mehr nur der Minister für die innere Sicherheit, der das Beduinen-Dorf Umm al-Hiran zerstörte. Nein, jetzt sei er ein Minister der Strategie, mit einer streng geheimen Organisation, die sich selbst mit Wichtigkeit aufbläst und mit riesigen Budgets und einem Generaldirektor im militärischen Stil versehen wurde. Und der regelmäßig den Mossad-Chef trifft.
Laut Levy hätte er sich nichts mehr wünschen können. Die BDS-Bewegung als Antisemitismus zu brandmarken, so wie jede Kritik an Israel, hätte sich als effektivste Strategie von allen herausgestellt. Der Kampf gegen Antisemitismus würde dazu dienen, alle Probleme zu beseitigen, die mit der Erklärung von Israels Aktionen verbunden sind. Man müsse nur „Antisemitismus“ aussprechen, und die Welt würde in Schockstarre verfallen. Man könne Kinder in Gaza töten und dann „Antisemitismus“ sagen und damit alle Kritik vernichten. Europa sei besonders empfindlich für dieses Vorgehen.
„Es ist schwer zu glauben, dass hunderte von Mitgliedern des Deutschen Bundestages, die für die Resolution gestimmt hatten, die eine vollkommen legitime Bewegung als antisemitisch definiert, tatsächlich damit übereinstimmen. Man könnte annehmen, dass tief im Inneren viele von Zweifeln geplagt werden oder sogar in Opposition zu diesem Schachzug stehen, der ihnen aufgezwungen worden war. Es ist nicht nur Deutschland. In den meisten europäischen Ländern ist es schwierig, Israel zu kritisieren, ohne wegen Antisemitismus kritisiert zu werden.“
Levy schließt mit der Bemerkung, dass dies der größte Sieg der Propaganda-Maschine Israels wäre, aber letztlich einmal zu seiner Niederlage führen könnte. Denn, so Levy, wenn der Brocken zu groß wird, der geschluckt werden muss, wird es Widerstand geben und der abwegige Vergleich nicht länger akzeptiert werden. Er meint für den Fall, dass dieses Gesetz der Unterwerfung unter die Propaganda Israels verabschiedet wird, und die Deutschen vor Israel „niederknien müssen“ und nicht nur nach dessen Pfeife tanzen, dass dann vielleicht einige Menschen aufstehen werden, um den „Marsch der Verrückten“ aufzuhalten.
Fazit
Es gibt in der Zwischenzeit eine ganze Reihe von offenen Briefen an die Bundestagsabgeordneten. Sie fokussieren sich meist auf rechtliche, allgemein ethische Fragen und auf das Recht zur freien Meinungsäußerung. Ein Offener Brief in Videoform geht darüber hinaus und führt Fakten an, warum Israel nicht das Opfer, sondern — wie auch von Levy erklärt — der Täter ist, und die BDS-Bewegung vollkommen legitim agiert.
Aber leider gibt es keine adäquaten plebiszitären Elemente in der deutschen Politik, und wie Angela Merkel selbst schon im Jahr 2010 erklärte, wurden nahezu alle wichtigen Entscheidungen in der Bundesrepublik bisher gegen den Willen der Bevölkerung gefällt (4). Und nichts deutet darauf hin, dass sich das ändern wird.
Quellen und Anmerkungen:
(1) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25963
https://kenfm.de/standpunkte-%E2%80%A2-die-abgehobenheit-der-volksvertreter/
(2) https://www.haaretz.com/opinion/israel-has-invented-a-scarecrow-enemy-by-the-name-of-adolf-bds-1.7363619
(3) https://www.haaretz.com/world-news/europe/.premium-israel-lobbies-german-government-to-enforce-motion-defining-bds-as-anti-semitic-1.7360064
(4) https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-794788; siehe auch: https://kenfm.de/standpunkte-%E2%80%A2-das-primat-der-politischen-parteien/
Foto: argus/Shutterstock.com