Vergessener Konflikt zwischen Marokko und dem Volk der Sahrauis. Schwindende Hoffnung auf friedliche Lösung. Ein Besuch in Westsahara, Camp Rabouni
»Ab diesem Punkt sind Waffen verboten. Ihr müsst alleine weiter.« Unsere persönliche Leibgarde legt die Kalaschnikow-Gewehre unbekümmert auf den glühenden Sandboden und beginnt Tee aus den Munitionsboxen hervorzuholen. Begleitet wird junge Welt jetzt nur noch von einem Übersetzer und einem Fahrer – gemeinsam machen wir uns zu Fuß weiter auf den Weg durch das Wüstengeröll. Schritt für Schritt bewegen wir uns im Gänsemarsch fort, um jeden Sandhaufen wird ein weiter Bogen gemacht. Diese Wüstenlandschaft gilt als eine der am stärksten verminten Regionen der Erde. Nach 20 Minuten Fußmarsch stehen wir vor einem endlosen Sandwall. Für Außenstehende ist es nur eine bewachte Mauer aus Sand. Für die Begleiter ist es jedoch das einzige Hindernis, das zwischen ihnen und ihrer Heimat steht. »Was macht ihr hier?!«, zerbricht Alyin, der Fahrer, plötzlich die Stille der Wüste. Die marokkanischen Soldaten blicken neugierig von ihren Wachtürmen herab. »Geht nach Hause! Sahara Libre!« ruft er ihnen zu.
Rund 150 Kilometer südöstlich der Kanarischen Inseln, wo europäische Touristen versuchen ihre Alltagssorgen zu vergessen, liegt die zerrissene Sandlandschaft der Westsahara. Eine Zerrissenheit, die Produkt einer mehr als turbulenten Geschichte ist. Als die Diktatur Francisco Francos im Jahr 1975 in den letzten Zügen lag, drängte die UNO verstärkt auf die Entkolonialisierung des spanischen »Protektorats« Westsahara. Doch bevor dieser letzte Befreiungsschlag gelang, nutzte der damalige marokkanische König Hassan II. das Machtvakuum und rief sein Volk zum sogenannten Grünen Marsch auf, um seinen Anspruch auf das Gebiet geltend zu machen. 350.000 Marokkaner folgten seinem Ruf und marschierten mit Feuerschutz der Armee Richtung Süden. Unter Protesten der Vereinten Nationen wurde die Westsahara zwischen Marokko und Mauretanien aufgeteilt. Zehntausende der einheimischen Sahrauis wurden vertrieben und flüchteten in das benachbarte Algerien.
Widerstand und Reaktion
Die Sahrauis aber zeigten sich widerständig. Noch unter spanischer Besatzung gründete eine Handvoll junger Männer mit der sozialistischen »Frente Polisario« eine bewaffnete Organisation zur Befreiung des Gebietes. Während die Vertriebenen im algerischen Exil 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara ausriefen, kämpfte die Frente Polisario einen scheinbar aussichtslosen Guerillakrieg. Als Mauretanien 1978 in einem Separatfrieden zum Abzug seiner Truppen bewegt werden konnte, begannen die Sahrauis laut vom Unmöglichen zu träumen. Trotz US-amerikanischer Artillerie, deutscher Maschinengewehre und österreichischer Panzer konnte die marokkanische Armee der Krieger der Wüste nicht habhaft werden. Man suchte nach einer Alternative und fand diese im Bau der »Mauer der Schande«.
In den 1980ern begannen die Marokkaner Sandwälle anzuhäufen, um Einfälle der Unabhängigkeitskämpfer zu verhindern. Eine über 2.500 Kilometer lange Mauer trennt seither das karge Land. Mit mehr als 100.000 Soldaten, modernsten Radaranlagen und riesigen Minenfeldern konnten die von Algerien unterstützten Sahrauis teilweise gestoppt werden. 80 Prozent des rohstoffreichen Teils der Westsahara konnte Marokko durch den Bau der Mauer besetzt halten. Der Rest wird von der Befreiungsbewegung Frente Polisario als »befreite Gebiete« kontrolliert. Unter dem Druck der UNO wurde 1991 schlussendlich ein Waffenstillstand vereinbart, der durch die UN-Blauhelmtruppe für die Westsahara (Minurso) überwacht wird.
Als Voraussetzung für die Einstellung der Kämpfe wurde vereinbart, eine Volksabstimmung durchzuführen, in der die Bevölkerung entscheiden sollte, ob sie Teil Marokkos oder unabhängig sein will. Vor 28 Jahren wurde dieses Versprechen gegeben, aber eine Abstimmung fand nie statt. Während die Sahrauis darauf bestehen, dass auch die Vertriebenen in den algerischen Flüchtlingslagern mitentscheiden sollen, sehen die Marokkaner ausschließlich die derzeitige Bevölkerung der Westsahara als stimmberechtigt an. Die ungeklärten Verhältnisse haben zu einem kalten Krieg im Wüstensand geführt. Doch wie lange es noch dauert bis die Verzweiflung der Sahrauis diesen kalten Krieg aufflammen lässt, ist unklar.
Eine Verzweiflung, die hier in den Flüchtlingslagern rund um die Oasenstadt Tindouf im alltäglichen Leben spürbar ist. Zwischen 90.000 und 165.000 Menschen leben hier in sechs Flüchtlingslagern. Die Lager tragen die Namen der Orte ihrer Sehnsucht. Sie sind benannt nach El-Aaiún, Smara oder Boujdour – den großen Städten der Westsahara. Obwohl sie offiziell auf algerischem Boden stehen, werden die Camps von der Frente Polisario, deren Verwaltung im Lager Rabouni sitzt, autonom kontrolliert. Gemeinsam mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) werden Hilfsgüter verteilt, diese werden allerdings von Jahr zu Jahr knapper. »Unsere Essensrationen wurden gekürzt und die Medikamentenlieferungen für das Krankenhaus eingestellt. Wie sollen wir unsere Kinder unter diesen Bedingungen großziehen?« Der Vizechef des Lagers Aousserd, Salek Laibaid Bara, strahlt trotz seiner Worte eine Gelassenheit aus, der man in den Lagern immer seltener begegnet.
Die Frente Polisario gilt neben den Nichtregierungsorganisationen als größter Arbeitgeber in den Lagern. Viele Alternativen bieten sich in dieser wasserlosen Einöde kaum. »Es gibt hier weder Industrie noch Rohstoffvorkommen, wir sind auf die Unterstützung angewiesen. Doch die Welt hat uns offensichtlich vergessen.« Laibaid Bara nimmt einen Schluck von seinem Tee und richtet seine Berbertracht. Ich spreche ihn auf die Einstellung des Frühstückprogramms in den Kinderheimen an. »Was sollen wir tun?« antwortet er knapp. Je länger das Gespräch andauert, desto klarer wird der Ursprung der anfänglichen Gelassenheit. Nach 28 Jahren des Stillstands herrscht in den Lagern Resignation.
Wachsende Wut
Trotz des Elends flüchten immer mehr Menschen vor der marokkanischen Besatzung hierher. Seit 2011 ist nun auch Alyin hier. Er beteiligte sich 2010 an den Friedenscamps in den besetzten Gebieten, die von der marokkanischen Armee dem Erdboden gleichgemacht wurden. Alyin wurde festgenommen und musste ein halbes Jahr im Gefängnis verbringen. Laut Amnesty International finden dort Misshandlungen und Folter statt – eine Feststellung die auch Alyin bestätigt. »Wie gefällt dir dein Leben hier?« frage ich ihn. »Das hier ist kein Leben.« Wenn jemand die Flüchtlingslager besucht, stellt er sich als Fahrer zur Verfügung, ansonsten wartet er meistens, dass die Tage vergehen. Alyin teilt nicht die Resignation der älteren Generation in den Lagern. Er ist wie viele der jungen Sahrauis wütend. Wütend darüber, dass die Länder Europas ihre Augen vor der Besatzung verschließen. Einer der Gründe dafür liegt unter dem ausgetrockneten Boden der Wüstenlandschaft.
Die Westsahara besitzt eines der größten Phosphatvorkommen der Erde. Die Einkünfte aus dem Export dieses Rohstoffs finanzieren einen Großteil des marokkanischen Staatshaushalts. Die Europäische Union gilt dabei als einer der wichtigsten Handelspartner für das nordafrikanische Königreich. Gleichzeitig befindet sich vor den Küsten der Westsahara einer der größten Fischbestände der Welt. Europäische und marokkanische Konzerne beuten diese Bestände aus, trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), der diese Praxis im Jahr 2016 für illegal erklärte. Laut EuGH dürfen die Fische nicht ohne die Zustimmung der Sahrauis verkauft werden. Doch eine Abstimmung dazu hat nie stattgefunden – seither gilt ein Fischboykott in den Flüchtlingslagern. »Die EU macht sich erpressbar«, erklärt der General der Frente Polisario, Habouha Braika, gegenüber jW. »Die Europäer wollen sich die Flüchtlinge vom Leib halten, und der marokkanische König spielt dabei die Rolle des grimmigen Türstehers.« Für Braika scheint die Sache klar. Die Angst vor einer offenen Grenzpolitik Marokkos bringt die Regierungen der EU dazu, ein Auge zuzudrücken.
»Glauben Sie, dass der Krieg wiederkommt?« frage ich den uniformierten General. »Keiner der den Krieg erlebt hat, so wie ich, will, dass er wiederkommt. Aber es scheint als ob man uns keine Wahl lassen würde.« Die Perspektivlosigkeit der jungen Sahrauis führt zu immer lauteren Rufen nach einer militärischen Lösung des Konflikts. Von den Friedensgesprächen zwischen der Frente Polisario und den Marokkanern erwartet sich hier in den Flüchtlingslagern niemand etwas. Viele in den Camps wollen wieder zur Waffe greifen. Nicht etwa, um den Krieg militärisch zu gewinnen, sondern um endlich auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Ein letztes Mal gehen wir durch die sandigen und vermüllten Straßen der Flüchtlingslager. »Alyin, wie lange dauert es noch bis du wieder nach Hause kannst?« frage ich, um zu erfahren, wieviel Hoffnung er noch verspürt. Alyin grinst und wendet seinen Blick auf den abgekühlten Geröllboden. Der Übersetzer wartet auf seine Antwort, doch sein Blick macht sie überflüssig.
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/369627.ignorierter-krieg-die-letzte-kolonie-afrikas.html