Die am 1. Oktober 2019 ausgebrochenen Proteste im Irak haben die sozialen, politischen und ökonomischen Widersprüche ans Tageslicht gebracht und die gesellschaftlichen Konfliktlinien verschoben. Das sektiererische politische System ist radikal in Frage gestellt und vermehrt entwickelt sich die Einheit der Protestierenden auf der Basis der Klassenzugehörigkeit. Die irakische Revolution hat einen weiteren und in der Berichterstattung oft vernachlässigten gesellschaftlichen Widerspruch sichtbar gemacht, nämlich die Unterdrückung der Frauen in einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft. Frauen spielen jedoch vermehrt eine zentrale Rolle in den irakischen Protesten, die trotz massiver Repression nicht abebben. Um diese Rolle genauer zu verstehen, hat Autorin Ansar Jasim mit Iqbal gesprochen, einer feministischen Aktivistin aus dem Umland von Bagdad, die von Anfang an an den Protesten teilnimmt.
Wir hören hier in den Medien wenig zur aktuellen Lage im Irak, und noch weniger über die Zusammensetzung der Proteste. Wie nehmen die Frauen an und in dieser Revolution teil?
Meinen Beobachtungen zu Folge unterscheidet sich die Partizipation von Frauen in der derzeitigen Revolution kaum von der der Männer. Das war in den Protesten der letzten Jahre nicht so. Bisher hatten Frauen eine sehr eingeschränkte Rolle, sie waren total „überwacht“ von den männlichen und patriarchalen Elementen in den Protesten. Dieses Mal ist das anders. Frauen werden angespornt, an den Protesten teilzunehmen. Sie beteiligen sich auf allen Ebenen: im von den Protestierenden besetzten Türkischen Restaurant – oder „Schloss der Freien“, wie es nun benannt wurde –, auf der Straße, bei der Organisierung der Proteste, bei der Säuberung der Straßen, im medizinischen Bereich. Und auch andersherum findet eine Veränderung statt: Männer und nicht nur Frauen bereiten Nahrung für die Protestierenden zu – es geht also weg von der Vorstellung, dass die Frauen eben nur Brot machen und kochen. Das tun sie auch. Aber dieses Mal nehmen sie eben nicht nur in diesen Bereichen teil, sondern in allen Bereichen, wo auch Männer vertreten sind. Von den aller ersten Nächten an haben sie auch bei Kälte in den Zelten auf den Plätzen geschlafen.
Wie würdest du die gesellschaftliche Akzeptanz dafür beschreiben?
Es ist überhaupt nicht normal! Aber die Frauen haben es der Gesellschaft aufgedrückt. Das geht nun so weit, dass Personen, die dieses Verhalten kritisieren, dies gar nicht mehr so einfach machen könnten: Sie würden Gegenwind von tausenden anderen Menschen bekommen, die diese Veränderungen verteidigen.
Welchen sozialen Hintergrund haben diese Frauen?
Die Frauen gehören insgesamt zu allen sozialen Schichten. Aber jene Frauen, die eine besonders hohe Bildung und gesellschaftliche Position haben und wirtschaftlich unabhängig sind, sind kaum vertreten. Vor allem sind es Schülerinnen, Studentinnen, Mädchen aus einfachen Verhältnissen, Lehrerinnen, selbst Staatsangestellte. Sie nehmen alle daran teil, da es um ihre nicht verwirklichten Rechte geht. Die Stimmen der Frauen sind in dieser Revolution deutlich präsent. Einige der Demonstrant*innen sind der Meinung, dass es darum geht, dass unsere Forderungen erfüllt werden. Ich denke, dass es für uns Frauen darum geht, dass uns unsere Rechte gestohlen wurden. Wir Frauen reden also von Rechten, nicht von Forderungen. Wir haben Rechte, die wir uns erkämpfen müssen von der politischen Klasse, vom regierenden politischen System. Das ist der Grund, warum ich seit dem ersten Oktober auf der Straße bin.
Es gibt einige Mädchen auf dem Tahrir-Platz (Zentrum des Protests, Anm. Red.), die aus gewalttätigen Haushalten stammen und nun in den besetzten Orten der Revolution Schutz finden. Ist das auch dein Eindruck?
Tatsächlich ist es die Revolution selbst, die einen Schutz kreiert hat für die Frauen, die keinen sicheren Zufluchts- und Rückzugsort haben. Der Tahrir-Platz wurde zu einem Ort, an dem Belästigungen nicht geduldet werden – ganz anders als bei den vorherigen Protesten. Es ist ein Ort, an dem die Frauen in den Zelten schlafen können und sich sicher fühlen. Insbesondere Islamistische Kräfte hatten die Absicht, das immer wieder auszunutzen, um die Bewegung schlecht zu machen und ihren Ruf zu zerstören. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass der öffentliche Raum heute noch oft nicht geschlechtlich durchmischt ist und Teile der konservativen Kräfte eine Durchmischung als „morallos“ verurteilen. Aber bis heute gelingt es ihnen nicht.
Stattdessen werden wir jungen Frauen von allen Protestierenden geschützt. Die Protestorte sind sicher, und somit haben wir ganz stark das Gefühl, dass diese Revolution der Ausgangspunkt für die Befreiung der Frauen hier sein wird. Die Revolution richtet sich gegen Traditionen und Konventionen in der Gesellschaft. Es ist eine Revolution gegen eine politische Klasse, die diese Konventionen und die Religion der Gesellschaft, insbesondere den Frauen, aufgedrückt hat. Sie ist gegen das politische System gerichtet, welches es zum Beispiel auch nicht zulässt, dass Frauen an der Wirtschaft des Landes teilnehmen und wirtschaftlich unabhängig sind. Die Frauen haben nun wirklich das Gefühl, dass es ihre Revolution ist und ihre Rechte realisiert werden können. Dies trifft insbesondere auf diskriminierende Gesetze zu, die die politische Klasse gegen Frauen eingeführt hat. Dazu gehören die Erlaubnis zur Vielehe und die Verheiratung von minderjährigen Mädchen sowie ein benachteiligendes Erbrecht. Diese Revolution richtet sich gegen diese Konventionen. Es ist eine Revolution, die alles zum Sturz führen will, nicht nur einen bestimmten Teil davon.
Ist es also eine feministische Revolution?
Wann ist diese Revolution ausgebrochen? Wann haben die Massen beschlossen, gegen die politische Klasse auf die Straße zu gehen und der Regierung eine Frist von wenigen Tagen zu geben? Das war, nachdem die Ingenieursstudentinnen für Arbeitsplätze protestiert und die Sicherheitsbehörden sie mit heißem Wasser beworfen hatten. Danach wurde auf Facebook dagegen mobilisiert und dadurch wurde es zu einem Massenprotest. Man kann sagen, dass die feministischen Kämpfe ein zentraler Motor der Proteste sind. Es stimmt schon, dass es eine irakische Revolution ist, aber eigentlich ist es eine feministische Revolution.
Im Irak gibt es sowieso eine sehr hohe Arbeitslosenquote und ein großer Teil der Massen haben kein regelmäßiges Einkommen. Wirkt sich die Arbeitslosigkeit auf Frauen anders aus als auf Männer?
Es gibt einen sehr großen Unterschied. Als ich studiert habe, da waren wir 66 Frauen und 33 Männer. Die Zahl der graduierenden Frauen ist also wesentlich höher. Für Frauen ist Bildung oft der einzige erlaubte Horizont. Jedes Jahr siehst du hunderte Frauen graduieren, ohne dass sie Chancen auf einen Arbeitsplatz hätten. Als die Ingenieursstudentinnen auf den Straßen waren, da war es geradezu so, als würde der Staat sich an sie richten: Warum gehst du als Frau überhaupt auf die Straße und warum hören wir deine Stimme? So hat der Staat also mit Konvention und Religion auf die Frauen reagiert. Erst nachdem die Frauen auf der Straße waren, folgten auch die Stimmen der Männer.
Du hast vor allem von Bagdad gesprochen. Wie sieht es in anderen Teilen des Landes aus?
Als für die Demonstrationen mobilisiert wurde, da wurde in allen Gouvernements (19 Provinzen im Irak, Anm. Red.) mobilisiert. Bagdad spielte da eine wichtige Rolle. Aber es folgten Frauen aus allen Gouvernements, seien es Studierende, Graduierte, Bäuerinnen, Gemüseverkäuferinnen, die alleinerziehende Bäckerin und so weiter. Alle Frauen waren auf den Straßen.
Wie war die Situation der Frauen vor der Revolution?
Vor der Revolution war die Situation der Frauen sehr schlecht. Die Diskriminierung von Frauen war überall sichtbar. Zum Beispiel wurden bei den Anstellungen im Staatsdienst – welche bei uns einige der wenigen Arbeitsplätze sind – ständig Männer bevorzugt, trotz schlechterer Noten. Ausschlaggebend war immer das Argument, Männer seien für eine Familie verantwortlich. Das ignoriert total, dass ich als Frau auch eine Familie zu versorgen habe, selbst, wenn ich nicht verheiratet bin und eben somit nicht dem konventionellen Familienmodel entspreche. Wir sind gegen dieses System. Das politische System benutzt Frauen als Instrument, um mit den Konzepten von „Sünde“ und „Schande“ Druck auf die ganze Gesellschaft auszuüben. Und auch gerade die religiösen Würdenträger haben sich in den letzten Jahren sehr auf die Frauen konzentriert. Bei den Freitagspredigten haben sie die Kleidung von Frauen diskutiert – selbst Frauen, die die Abaya (traditionelle islamische Robe, Anm. Red.) tragen, wurden nicht in Ruhe gelassen. Ständig wurden die Frauen kommentiert: Die eine trägt die Robe zu eng, die andere zu offen und das dürfte nicht sein.
Warum die Konzentration auf den weiblichen Körper?
Das liegt eben gerade an der wirtschaftlichen und politischen Lage, von der sie immer wieder ablenken wollen. Nur so können sie an der Macht bleiben: Wenn sie die Frauen in den Fokus stellen, und alles dahinter zurückfällt. Frauen sind die große Ausrede, durch welche die politische Klasse reproduziert. Gleichzeitig repräsentiert mich keine jener Frauen, die aufgrund der 25 Prozent-Quote am politischen Prozess im Parlament teilnehmen (Art. 49 Abs. 4 der Irakischen Verfassung von 2005 legt fest, dass der Anteil der weiblichen Abgeordneten im Parlament bei mindestens 25 Prozent liegen muss, Anm. Red.). Es sind Frauen, die diskriminierende Politiken gegen Frauen mitunterstützt haben. Es sind Frauen, die tief patriarchale Politiken und Gesetze wie das der Vielehe unterstützt haben.
Revolution ist ein Prozess, bei dem es immer wieder Errungenschaften geben kann. Welche siehst du bisher?
Die wichtigste Errungenschaft ist die Präsenz von Frauen auf den Plätzen. Dieser Punkt ist nicht mehr zurückzudrehen und er ist ein Ausgangspunkt für weitere Prozesse. Der 25. Oktober war der Auftakt für die Befreiung der Frau im Irak, denn zu diesem Tag wurde zu Massenprotesten aufgerufen und seit diesem Datum wird der Tahrir-Platz besetzt und die öffentlichen Regeln durcheinandergebracht. Vor diesem Datum wurden Frauen dafür kritisiert, wenn sie nach 20 Uhr auf der Straße waren. Heute schlafen sie auf dem Platz und machen alles, was Männer auch tun.
Mein Gefühl ist auch, dass jene, die dort neben den Frauen stehen, und gemeinsam mit den Frauen für die Sicherheit sorgen, nicht die Intellektuellen sind, denen ja gerne unterstellt wird, dass sie ein fortschrittliches Denken haben. Aber es sind jene Jungs, die teilweise nicht mal einen Schulabschluss haben, die aus armen und oft auch sehr konservativen Familien kommen, die nun mit den Frauen in den ersten Reihen stehen und ihre Präsenz ohne Wenn und Aber akzeptieren.
Das stimmt. Ich gebe noch ein Beispiel: In meinem Dorf in der Umgebung von Bagdad gibt es einen sehr konservativen, sehr traditionellen Bauern. Er hat seinen Töchtern nie irgend etwas erlaubt. Nachdem er die Nachrichten gesehen hatte, hat er sie zum Tahrir-Platz mitgenommen und sie sind ganze zwei Tage dort geblieben. Das hat ihn auch verändert.
Die Jungs, denen es um die Revolution geht, betonen, dass ihnen die Anwesenheit der Frauen Vertrauen und Sicherheit gibt. Das wird mir immer wieder von allen möglichen Leuten gesagt. Das zeigt sich auch darin, dass von vielen jungen Männern die Schwestern, ihre Cousinen, ihre Schwägerinnen und so weiter auf dem Platz dabei sind. Viele Familien haben den Mädchen zuvor überhaupt keine Freiräume gelassen: Von der Schule nach Hause und das war‘s. Nun sind sie auf dem Platz und bleiben dort. Und es gibt kein Zurück!
Wie hat der Staat auf die Präsenz der Frauen reagiert?
Es wurden Aktivistinnen und insbesondere Medizinerinnen gezielt entführt. Nach ihrer Freilassung wurden sie weiterhin bedroht, sie sollen nie wieder auf den Protestplatz gehen. Dieses Mal funktioniert diese Einschüchterung aber nicht. Und es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt: Es wird immer gesagt, dass Frauen aufgrund körperlicher Schwäche bestimmte Dinge nicht tun könnten. Auch das wird in dieser Revolution widerlegt. Es gibt dieses epische Video von einer der Medizinerinnen vom Tahrir-Platz. Ich habe das damals selbst gesehen. Einer der Protestierenden wurde verletzt und er hing unter einer der Brücken, die vom Platz zur verbotenen „Green-Zone“ (hochmilitarisierter Distrikt in Badgad, Anm. Red.) führen. Sie ist unter die Brücke gegangen, kletterte zu dem Verletzten hinauf und leistete an Ort und Stelle Erste Hilfe. Sie blieb so lange bei ihm, bis er gerettet werden konnte. Es geht also nicht um Muskelstärke. Aber das Aufstülpen der gesellschaftlich konstruierten Rolle hat Tradition. Es hat Frauen oft glauben gemacht, dass sie bestimmte Dinge wirklich nicht können und sie schwächer wären. Nun ändert sich das: Frauen klettern, Frauen werden zu Tuktuk-Fahrerinnen, Frauen schützen die anderen Protestierenden vor Tränengas indem sie die Tränengaskanister fangen und wegwerfen. Dafür muss man kein Mann sein. Somit hat diese Revolution diese ganzen rückschrittlichen Ideen ins Wanken gebracht.
Glaubst du, dass durch diese Revolution eine linke und feministische Bewegung im Irak entstehen wird? Bisher gab es zwar viele Feminist*innen, aber keine Massenbewegung.
Für mich ist klar, dass linke Ideen sehr präsent sind auf den Protestplätzen – selbst, wenn sie sie so nicht benennen. Man muss dazu vielleicht wissen, dass es eine klare Empfindlichkeit demgegenüber hier gibt, da sie allen politischen Parteien gegenüber eine Abneigung hegen, auch gegenüber der kommunistischen Partei. Aber worauf die Leute abzielen und wie sie miteinander umgehen, das ist ganz klar links. Der beste Beweis dafür ist, dass wir als marxistische Feminist*innen das größte Plakat auf dem Tahrir-Gelände aufhängen konnten. Darauf steht „Alle Macht gehört den rebellierenden Massen“. Wir sind sehr präsent auf dem Platz, arbeiten dort und reden mit den Leuten. Damit erreichen wir täglich mehr und mehr und können noch mehr Ideen unter die Massen bringen; etwa, wie wichtig es ist, dass die Massen sich selbst organisieren und eine Alternative zum jetzigen politischen System schaffen. Selbst wenn man der Ansicht wäre, dass diese Revolution nicht den Umsturz des politischen Systems schaffen wird, so hat sie es aber bisher geschafft, Frauen einen Horizont zu geben. Sie hat der Gesellschaft verständlich gemacht, dass Frauen der essentielle Part der Revolution sind und dass der Platz der Frau in der gesamten Gesellschaft ist. Alle vorherigen Prinzipien, dass Frauen nur halbe Lebewesen seien, wurden zerstört. Wenn der politische Umsturz scheitert, dann werden Frauen, die auf den Protestplätzen präsent sind, dennoch nie wieder einfach den Mund halten. Sie werden nicht einfach herumsitzen, sondern sich neu organisieren für einen weiteren Aufstand. Und jeder kommende Aufstand wird noch größer werden.
Quelle: https://revoltmag.org/articles/die-stimme-der-frauen-ist-in-dieser-revolution-deutlich-pr%C3%A4sent/