Alle warten gespannt auf die Parteien des Ex-Ministerpräsidenten Davutoglu und des ehemaligen Außenministers Babacan, die sich in der Gründungsphase befinden. Es wird auf allen Seiten viel geredet und geschrieben. Einige Namen von den Gründungsmitgliedern werden genannt, es wird spekuliert und wieder verworfen. Parteiprogramme, Lösungsvorschläge werden veröffentlicht, darauf reagierten die AKP Mitglieder genervt und gaben Statements ab, als ob diese Parteien schon gegründet seien. Erdogan verbietet den Mitgliedern seiner Partei jeglichen Kontakt und Kommentare über diese Parteien. Es gibt jede Woche eine Umfrage von verschiedenen Institutionen, dessen Ergebnisse weder eine Seite noch die andere Seite zufriedenstellen.
Davutoglu hat am 12. Dezember den Antrag seiner Partei beim Innenministerium eingereicht. Der Name der Partei ist Gelecek Partisi (die Zukunfspartei). Wenn man sich seine Vergangenheit anschaut, dürfte es nicht schwerfallen sich vorzustellen, was für eine Zukunft er der Türkei verspricht. Unter den Gründern sind viele Ex-AKP-Mitglieder, eine Ex-HDP-Abgeordnete und wenige, die keine politische Vergangenheit hatten. Die zweite Partei von Babacan soll Ende Dezember gegründet sein. Höchst interessant ist aber, dass diese Gründer sich als waschechte Demokraten verkaufen wollen. Beide versprechen die „Kurdenfrage“ friedlich zu lösen, Menschenrechte allen Bürgern zu garantieren, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen, ohne das Volk zu belasten, Gerechtigkeit wieder herzustellen usw. Die Aussagen ähneln sich wie damals zu AKP Gründungzeiten, wie zu Zeiten des AKP Partei-Gründungsprogramms. Aber wenn es im Programm steht bedeutet dies nicht, dass es auch umgesetzt wird. Beide Parteien wissen wie wichtig die kurdischen Wähler bei einer Wahl sind. Deshalb führen sie ununterbrochen Gespräche mit kurdischen Ex-Politikern. Babacan hat dabei bessere Karten und kommt bei den kurdischen Teilnehmern der Gespräche als glaubwürdiger rüber
AKP 2.0
Es ist doch bekannt, dass diese Herrschaften jahrelang die aggressive AKP-Politik nicht nur mitgetragen sondern auch mitgestaltet haben. Sie waren dabei als die Türkei die Dschihadisten in Syrien unterstützte, sie waren dabei als die türkische Armee die kurdischen Städte bombardierte, sie waren bei den gewaltsamen Angriffen der Polizei auf die Gezi Protestierenden dabei. Bei jeder Entscheidung von Erdogan waren sie mit von der Partie. Als den HDP-Abgeordneten die Immunität abgesprochen wurde haben sie im Parlament ihre Zustimmung gegeben. Als diese verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurden war bei diesen Leuten keine Rede von den heute angekündigten Menschenrechten. Von den abgesetzten gewählten Bürgermeistern und der Besetzung dieser Ämter mit Treuhändern auch nicht.
Es sind die ersten Ratten, die das sinkende Schiff verlassen haben; sicherlich folgen noch mehr. Nun sind sie auf der Suche nach neuen Schiffen, die sie zu ihrem Ziel bringen sollen. Am liebsten hätten sie, dass die liberale Linke und gläubige Kurden sie bis dahin rudern. Deshalb fallen immer wieder Wörter wie Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenrechte. Als die AKP gegründet wurde fielen viele auf diesen Trick herein und wurden eines Besseren belehrt. Ob neue Parteien genauso viel „Glück“ haben werden bezweifele ich. Wer sich durchsetzt, wer irgenwann in naher Zukunft von der politischen Bühne verschwindet oder in Bedeutungslosigkeit versinkt, ist ebenso interessant. Aber vor allem müssen die beiden Gründer der neuen Parteien sich ihrer Vergangenheit stellen und sich entschuldigen. Erdogan wird wahrscheinlich ein neues Wahlgesetz zugunsten der AKP durchsetzen, um das zu beschleunigen. Noch kann er es ja.
Die Akte Ahmet Davutoglu
Der postmoderne Islamist Davutoglu, der sich als Demokrat zu verkaufen versucht, gilt als Architekt des Syrienkriegs und Unterstützer der Al Kaida, IS und anderer Dschihadisten und hatte im Hintergrund immer die Zügel bei der Bombardierung der kurdischen Städte und bei der Ermordung der Zivilbevölkerung in der Hand. Nicht nur im Osten des Landes steckte er hinter jeder Zerschlagung des demokratischen Widerstands. In seiner Amtszeit wurden unzählige Menschen verhaftet, gefoltert und zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Als die Operationen in Diyarbakir- Sur, Nusaybin, Silvan, Yüksekova, Cizre anfingen war er Ministerpräsident. Jede Autorisierung der Befugnisse für Streitkräfte (Armee, Geheimdienste, Spezialeinheiten der Polizei und Gendarmerie), die Städte dem Boden gleich zu machen und beliebig Menschen zu töten, trägt seine Unterschrift. Der Befehlshaber der Streitkräfte des Oberst Özturhan war für seine Rücksichtslosigkeit bekannt. Nach dem sog. Militärputsch wurde er wegen seiner Mitgliedschaft an der Gülen Bewegung im Jahr 2016 verhaftet und sitzt noch immer im Gefängnis.
In Cizre wurden 177 Personen in den Kellern, in denen sie Zuflucht gesucht hatten, verbrannt. Es wurde ihnen untersagt, wegen der Ausgangssperre die Keller zu verlassen. Der Fall ist, wie viele andere, immer noch nicht geklärt.
Bis heute will er die Verantwortung für die Zerstörung der Städte der kurdischen Provinz sowie für die Ermordung der Zivilbevölkerung nicht übernehmen. Auch die Unterstützung, Finanzierung und Bewaffnung der Dschihadisten ist kein Thema für ihn. Er sagte damals mal vor den Kameras „ IS ist keine Terrororganisation sondern nur wütende Kinder“.
Allein in Cizre wurden über 280 Menschen getötet und 110 tausend wurden vertrieben. Das Stadtzentrum ist komplett dem Boden gleich gemacht. Es gab kaum noch ein bewohnbares Haus. Seine zynische Stellungnahme übertraf alles Dagewesene.“Wir haben eine Untersuchung veranlasst, jetzt bekommen wir mehr Stimmen“. (1)
Die Akte Ali Babacan
Der ehemalige Außenminister Babacan ist bekannt für seine Zurückhaltung. Als Minister und anderer Amtsträger trägt er genauso die Verantwortung für die Schandtaten der AKP Regierung. Anders als Davutoglu sucht er die Mitstreiter für seine Partei nicht unter Ex-AKP-Mitgliedern. Er versucht verschiedene politische Strömungen in seiner Partei zu vereinen. Anders als Davutoglu spielt er die religiösen Inhalte nicht in den Vordergrund, obwohl beide konservative Wurzeln haben.
Während Davutoglu die Unterstützung konservativer, hauptsächlich in Anatolien ansässiger Mittelklasse-Kapitalgruppen in Anspruch nehmen kann, könnte Babacan auf Unterstützung der internationalen und türkischen großen Kapitalgruppen in den großen Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir bauen. Das bereitet Erdogan große Kopfschmerzen. Anders als Davutoglu hat Babacan ein in den internationalen Beziehungen erfahrenes und starkes Team.
Konkurrenzkampf der Konservativen
Bei der “Kurdenfrage“ geht es für diese Parteien nur um die Stimmen bei den nächsten Wahlen. Es geht um die Kurden, die bis zum Abbruch der Friedensgespräche von Erdogan lange die AKP unterstützt haben. Davutoglu will die islamisch-konservativen Kurden für sich gewinnen. Babacan orientiert sich eher an der liberalen Mittelschicht der Kurden. Mit bloßen Sprüchen können sie aber nicht weit kommen. Klare Erkenntnisse und Lösungen müssen her, die wiederum die eigene Wählerschaft erschrecken könnten. Erdogan und Bahceli werden ihre nationalistischen Flaggen hochhalten, um diese Tür für die beiden zu blockieren.
Eins steht fest: durch diesen Konkurrenzkampf zwischen Erdogan, Davutoglu und Babacan werden viele Details, die bis heute der Öffentlichkeit verborgen blieben, wieder an die Oberfläche kommen. Wenn es um Politiker geht, leiden die Menschen weitestgehend unter Kurzzeitgedächtnisschwund, aber im Zeitalter der Sozialmedien werden sie immer wieder mit ihrer Geschichte konfrontiert, die jedem bekannt ist. Nicht nur das, sondern auch die innovativen Journalisten werden es ihnen nicht leicht machen. In einem Konkurrenzkampf um die Macht wird schmutzige Wäsche gewaschen. Davutoglu will die Konfrontation mit Erdogan, weil er sich in der Rolle als Geschädigter mehr verspricht, da Erdogan mit jeder Beschuldigung sich selbst belasten würde.
Erdogan beschuldigte kürzlich Davutoglu und Babacan des Betruges und der Korruption wegen der kostenfreien Vergabe einer Baufläche in Istanbul an die Stadtuniversität, die unter anderem von Davutoglu 2008 gegründet wurde. Es ging um die Kredite der Staatsbank Halk Bank in Höhe von 500 millionen Lira wegen des Baus eines Campus. Davutoglu konterte und forderte, der Besitz der Politiker solle geprüft werden, obwohl Davutoglu damals die Gesetzesänderung zur Prüfung des Besitzes der Politiker selbst abgelehnt hatte.
Erdogans Behauptung verschleiert Straftaten, die nicht nur Davutoglu betreffen. Verschleierung einer Straftat ist ebenso verboten wie die Tat selbst. Wenn er es schon damals wusste, macht er sich selbst schuldig. Eine erste Anzeige gegen ihn und andere wurde erstattet. Nun muss man nur warten was alles noch rauskommt. (2)
Es ist nur der Anfang. So wie Erdogan alle Oppositionen seine Macht spüren lässt werden nun auch Davutoglu und Babacan zur Zielscheibe. Seine Aggressivität und seine Angriffe werden zunehmen. Vielleicht ist es das, worauf alle Parteien spekulieren. Sie wissen, dass Erdogan mit seiner Aggressivität vor allem die AKP Jugend abschreckt. Der starke Mann am Bosporus findet nur noch bei der älteren Generation der Mitglieder seiner Partei Zuspruch.
Konkurs des Neo-islamistischen Systems
Die HDP (Demokratische Partei der Völker) fordert schon seit einer Weile Neuwahlen. Die CHP (Sozialdemokraten) hält sich zurück. Die neuen Parteien brauchen noch etwas Zeit. Erdogan und seine Bündnispartner MHP machen weiter solange es geht.
Erdogans Bemühungen, die Gründung dieser beiden Parteien zu verhindern, oder Davutoglu und Babacan davon zu überzeugen die Vorhaben aufzugeben, hat nicht funktioniert. Eine 8-köpfige Gruppe aus Ex-AKP-Mitgliedern und von Erdogan gesandten Geschäftsleuten besuchten die Gründer der neuen Parteien, aber ihre Mühe ist erfolglos geblieben. (3)
Alle versuchen, die Staatskrise unbeschadet zu überstehen. Die HDP und CHP könnten von dieser Situation profitieren. Es geht um mehr als Erdogan zu stürzen.
Demirtas, der immer noch im Gefängnis sitzt, sagte vor einer Woche: “Es muss geklärt werden, welchen Bündnissen und Grundsätzen zu folgen ist, und der Kampf gegen den Faschismus muss überall organisiert werden, bis ein Mindestprogramm für Demokratie festgelegt und umgesetzt wird“. (4)
Wenn die CHP dem Druck nicht standhält und an ihrer Linie festhält wird es kein Bündnis mit der HDP geben, sondern eher ein konservatives Bündnis mit einer der neuen Parteien (möglicherweise mit Babacan) und der IY Partei. Die HDP muss sich nur darum bemühen seine 11 % Wähler zu behalten. In einem breiten Bündnis will niemand sie haben.
So oder so wird es viele Gelegenheiten geben, die Machenschaften, die Korruption und die Bestechungen, die bisher unter den Teppich gekehrt worden sind, zu nutzen, um die AKP oder EX- AKP‘ler zu diffamieren.
Die Wählerlandschaft wird sich enorm ändern. Eine der neuen Parteien wird langfristig nicht überleben. Aber beide werden am Anfang in dieser Landschaft ihren Platz einnehmen. Von dem Rest der aus mehreren Parteien entstandenen AKP erwartet man den Verlust ihrer “glorreichen“ Wahlergebnisse.
Deshalb hat Erdogan keine andere Möglichkeit als anzugreifen, um das mögliche Bündnis gegen sich selbst zu verhindern. Die neuen Parteien müssen ein Bündnis mit der CHP und/oder der IY Partei eingehen. Das Risiko die 10%-Hürde nicht zu schaffen ist hoch. Erdogan weiß dies und wird mit allen Mitteln dagegenhalten. Zuerst wird er versuchen zu verhindern sie bei den Wahlen auftreten zu lassen. Bei der Iyi Partei hat er es versucht und fast geschafft bis die CHP einige seiner Abgeordneten an die IYI Partei “auslieh“ und mit 20 Abgeordneten das Gesetz aushebelte. Nun bietet die Vorsitzende der IYI Partei den neuen Parteien selbst diese Hilfe an. (5)
Die demokratischen Kräfte müssen diese Widersprüche nutzen und immer wieder betonen, dass diese Parteien die neue AKP sind. Sie haben die gleiche Tradition und haben mit demokratischer Gesinnung gar nichts zu tun. Für sie gilt immer noch ihr Spruch “Demokratie ist kein Ziel, sondern ein Werkzeug“.
- https://www.gazeteduvar.com.tr/forum/2019/12/11/davutoglunun-gunahlari/
- https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2019/12/09/demirtas-erken-secim-adiminin-devami-getirilmeli/
- https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2019/12/09/gul-davutoglu-ve-babacani-vazgecirme-ziyaretleri/
- http://www.cumhuriyet.com.tr/koseyazisi/1707048/ilk-agir-salvo-canak-comlek-patladi-artik….html
- https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2019/12/13/aksener-davutoglu-veya-babacan-isterse-20-milletvekili-veririm/
Verfasst für Freiesicht.org