In der Türkei putschte das Militär 1960, 1972 und 1980. Jedesmal wurde das Land um Jahre zurück geworfen, unter den Militärs wurden die Weichen neu gestellt und Reformen zu Gunsten des Neo-Liberalismus durchgeführt. Nach der Machtübernahme durch die AKP wurde mit der Militärführung kurzer Prozess gemacht in der Hoffnung, dass nun keine Gefahr mehr vom Militär ausgeht. Dann folgte am 15. Juli 2016 ein “Halb-Putsch“, von wem auch immer geplant.
Die Angst vor einem erneuten Putsch war immer da und die USA hatte bei jedem Militärputsch ihre Finger im Spiel. Erdogan ist das bewusst, seit langem hatte er US-Patriot-Raketen kaufen wollen, aber die Obama-Regierung verweigerte dies. Stattdessen stationierten Deutschland und Spanien, nach dem Abschuss des russischen Kampfjets, ihre Patriot-Raketen in der Türkei; die türkische Armee hatte keine Befehlsgewalt darüber.
Erdogan fühlt sich bei der Verwirklichung seiner Pläne von seinen Partner betrogen, benutzt und ausgegrenzt. So beschwerte er sich nach dem missglückten “Militär-Putsch“ vor drei Jahren: „Haben wir ihnen jemals etwas das sie wollten verweigert?“. Diese Frage richtet sich nicht nur an die Gülen-Bewegung, sondern auch die USA und die EU sind gemeint. Erdogans Rache bekamen jedoch nicht nur die Anhänger Gülens zu spüren, er machte auch mit den demokratischen Kräften kurzen Prozess und die Friedensgespräche mit den Kurden wurden ausgesetzt, stattdessen ein regelrechter Krieg gegen die kurdische Bevölkerung geführt. Es sitzen nach wie vor hunderttausende Menschen in den Gefängnissen.
Erdogan macht alle anderen für die Misere des Landes verantwortlich, so als hätte die letzten 17 Jahre jemand anderes regiert. Er kam mit Hilfe des Kapitals an die Macht und hat diese mit Hilfe des Kapitals ausgebaut. Aber diese Unterstützung ist nicht umsonst zu haben, die Regeln des Neoliberalismus haben ihm nun gezeigt, dass er nur eine Marionette des Kapitals ist. Der durch Erdogans Regierung entstandene Schaden für die Türkei, ist in allen Bereichen des Lebens so verheerend, dass das Land Jahre brauchen wird sich davon zu erholen, wenn überhaupt. So verdient der “Starke Mann am Bosporus“ nun die Bezeichnung des Westens für das geschwächte Osmanische Reich im 19. Jahrhundert und wird zum “Kranken Mann am Bosporus“.
Erdogan fühlt sich betrogen, schließlich hatte er alles was man von ihm erwartete getan. Zur Unterstützung der Djihadisten hatte er die Grenzen für Waffen, Kämpfer und Material des Westens geöffnet.
Als Erdogan bekannt gab, dass die Türkei S400-Systeme von Russland kaufen würde, wurde er von allen Seiten unter Druck gesetzt – Androhung von Sanktionen, Ausschluss aus der Nato usw. Als Trump Erdogan per Twitter die Zerstörung der türkischen Wirtschaft androhte, wenn er auf den S400-Systemen beharren würde, sank der Kurs der Türkische Lira dramatisch. Über Monate wurden Sanktionen angedroht. Es verging kein Tag ohne Warnungen aus den USA oder seitens der Nato.
Nun wurden von der Türkei Angebote für den Kauf von Patriot-Raketen, als Alternative zur S400 gemacht. Der Kauf von F35 Kampfjets, von denen Teile in der Türkei gefertigt werden, wurde immer wieder ins Spiel gebracht. Die Nato befürchtet jedoch, dass die Abwehrsysteme der F35 den Russen zugänglich gemacht werden. Somit käme ein Verkauf nicht in Frage ….
Hier sei anzumerken:
Erstens; die USA will verkaufen, es geht um Milliarden-Beträge.
Zweitens; die Türkei kann aus der NATO austreten, aber nicht rausgeschmissen werden!
Drittens; es ist ein Machtkampf der Weltmächte, der in der Türkei ausgetragen wird.
Die Stationierung von US/Nato-Einheiten am Stützpunkt Incirlik ist eine Trumpfkarte für Erdogan. Ohne Incirlik ist ein Krieg mit dem Iran nur schwer möglich. Um den Druck auf den Iran aufrecht zu erhalten, brauchen die NATO-Staaten die Militärbasis in Incirlik. Und die dort stationierten Atomwaffen abzuziehen wäre ein schwieriges, teures Unterfangen.
Und Erdogan hat noch ein Ass im Ärmel, nämlich die Stornierung der schon lange bestellten 25 Boeing 787-9 und 70 Boeing 737 MAX, die auch wegen des abgestürzten Models noch nicht geliefert worden sind. Ein Verlust des 10 Milliarden USD-Auftrags würde die USA hart treffen. Auf so eine Entscheidung würden jedoch weitere Sanktionen gegen die Türkei folgen.
Der Machtkampf der imperialistischen Systeme ist nur eine vorübergehende Phase des gegenseitigen Testens. Russland nutzt die aktuelle Schwäche von Erdogan um den Konflikt zu zuspitzen. Weder Erdogan noch die türkische Bevölkerung sind von Bedeutung. Für das von der NATO von allen Seiten belagerte Russland dient dieser Konflikt nur dazu die Unstimmigkeiten zwischen den USA und Europa zu vergrößern. Vorranging geht es um die Nahost Politik. Einerseits bietet Russland der Türkei S35-Kampfjets als Alternative zur amerikanischen F35 an, andererseits kritisiert es die Türkei bei deren Vorhaben im östlichen Mittelmeer nach Gas zu bohren.
Atomwaffen in der Türkei
Kürzlich wurde durch den kanadischen Senator Joseph Day* ein bereits im April 2019 veröffentlichter Bericht mit Zahlen und Standorten von stationierten NATO-Atomwaffen bekannt. Demnach sollen in der Türkei/Incirlik, in Belgien/Kleine-Brogel, Deutschland/Büchel sowie in Ghedi-Torre und Aviano in İtalien und in Volkel in den Niederlanden 150 Atomwaffen des Typs B-61 stationiert sein.
Verkaufen was das Zeug hält.
Die Russen reagieren ruhig und besonnen auf die Fehler der Türkei, wie bereits beim Abschuss des russischen Kampfjets oder der Erschießung ihres Generalkonsuls in Ankara. Sie warteten. Mit der Einbindung der Türkei bei den Astana-Gesprächen, vertieften sich die gegenseitigen Beziehungen. Russland schaute weg, als die Türkei in Afrin einmarschierte. Ganz anders die USA; sie luden die Türkei jedesmal aus, wenn es um einen wichtigen Einsatz, wie z.B. die Befreiung von Raqqa, ging. Und bei dem Kampf um Idlip wurde die Türkei mehr oder weniger allein gelassen. Sie hätte (wenn sie wollte) auf russische Unterstützung bauen können, nicht aber auf westliche.
Die USA haben die Türkei von dem F35-Projekt ausgeschlossen. Wie es weiter geht ist momentan nicht einzuschätzen. Aber die Russen haben sofort erklärt, dass die Türkei russische Kampfjets haben könne. Es müsse nur ein entsprechender Vertrag abgeschlossen werden. Keine überflüssige Bürokratie wie bei den USA.
Russland hat anlässlich des Kaufs der S400-Systeme keinen Druck auf die Türkei ausgeübt, die Geschehnisse in gewohnt russischer Gelassenheit beobachtet und die Freundschaft der beiden Länder betont.
USA und Nato sind nervös, sie könnten, während sie ihre militärische Präsenz in Ost-Europa ausbauen, einen für den Nahen Osten strategisch wichtigen Partner verlieren. Mit der Macht des Kapitals, durch Sanktionen soll Erdogan gezwungen werden Abstand zu Russland zu halten. Ob die Sanktionen dieses Ziel erreichen oder die Türkei sich noch mehr nach Russland orientiert, bleibt abzuwarten. Erdogan provoziert weiter mit den Bohrungen im östlichen Mittelmeer gegen den Ausschluss der Türkei aus dem Projekt.
Der Arbeitgeberverband der Türkei ist ebenfalls nervös. Die von den USA angedrohten Sanktionen die Beteiligungsproduktion der Türkei am F35-System zu beenden, würde mindestens acht Unternehmen betreffen, die sich in diesem Bereich spezialisiert haben und fast 30.000 Mitarbeiter beschäftigen. Diese Firmen stünden vor der Insolvenz, ihnen gingen veranschlagte 12 Milliarden US-Dollar verloren, wie auch die über Jahre getätigten Investitionen. Nur eine Produktionsbeteiligung an Teilen des S400-Systems könnte sie retten. Russland erklärte, dass man sich die Produktion von Teilen in der Türkei vorstellen könne. Erdogan hofft mit diesem Deal Arbeitsplätze erhalten zu können und die Finanzierung der S400 sicherzustellen.
Das Taktieren und die Verhinderung der EU-Mitgliedschaft durch die Neoliberalisten über Jahrzehnte wurden stillschweigend hingenommen, aber die zunehmend enttäuschte Bevölkerung wendete sich von der Idee ab. Erdogan und seine Partei nutzten die Unzufriedenheit der Menschen über die leeren Versprechungen und die hinhaltende, bevormundende Haltung der EU, für eine Neuorientierung der Türkei. Die Lösung schien sich im immer präsenter werdenden neuen Osten zu finden. Wie in vielen anderen Ländern auch, fühlen sich die Menschen der Türkei Russland näher als den USA und der EU.
Nun versuchen die Franzosen der Türkei die SAMP-T-Abwehrraketen zu verkaufen. Zunächst sollen diese an der türkischen Südgrenze stationiert werden, damit die Türkei auf den Geschmack kommt. Die SAM-T-Abwehrsysteme werden von Frankreich und Italien in dem Konsortium EUROSAM entwickelt.
Als die Türkei im Jahr 1952 der Nato beigetreten ist, sollte sie den Südost-Flügel der Nato gegen die Sowjetunion schützen. Nun jammern die Nato-Staaten und drohen mit weiteren Sanktionen. Aber vielen europäischen Staaten sind nationale, wirtschaftliche Interessen wichtiger, als die Interessen der NATO. Auch die Angst vor einem neuen Flüchtlingsansturm ist real, Erdogan würde keine Sekunde zögern diese gen Westen zu schicken, wenn der Druck erhöht wird.
Verfasst für Freiesicht.org