In letzter Zeit werden immer mehr Stimmen laut, die in der Türkei den Ausweg aus der wirtschaftlichen und politischen Krise mit einem „neuen“ Zusammenhalt der Demokraten und Linken überwinden wollen.
Das Zauberwort heißt “Historischer Block“. Sie treten in TV-Sendungen auf und schreiben Artikel in den liberalen Zeitungen. Wenn man die Idee, die dahinter steckt näher ansieht, wird sofort klar, dass die Idee nichts anderes ist, als die vor Jahren zur Unterstützung Erdogans ins Leben gerufene “Es reicht nicht, aber OK“ Bewegung. Es sind dieselben Leute, die damals mit ihrer Unterstützung Erdogans und seiner Partei AKP ohne lange nachzudenken zur Seite standen. Damals als Erdogan ihnen mehr demokratische Rechte, wirtschaftlichen Aufschwung und die Beschleunigung des EU-Beitritts versprach, reichte diesen Leuten Erdogans Aussagen, um ihn zu unterstützen. Als Verfechter des Neoliberalismus stellten sie sich nicht nur hinter die AKP, sondern präsentierten sich als Demokraten und Linke. Sie bekamen selbstverständlich Zuspruch vom Westen.
Nun sind sie nach vielen Enttäuschungen wieder aus ihrem Winterschlaf aufgewacht und tasten sich langsam an die Tagesordnung heran, in der Hoffnung, dass der Schlamassel, den sie vor Jahren angerichtet haben, in Vergessenheit geraten ist. Die jüngere Generation weiß davon nichts, vielleicht haben sie etwas davon gelesen. Erlebt haben sie aber nur die bitteren Folgen dieses Verhaltens.
Die erste These der Theorie, von der sie nicht genug erzählen können, ist: Die Türkei befindet sich in einer schwierigen wirtschaftlichen und politischen Phase. Die Feinde sind draußen und warten darauf, die Türkei wirtschaftlich, politisch und sozial in den Abgrund zu stürzen. Die Imperialisten und Kapitalisten seien schuld an der Misere des Landes.
Die zweite These der Theorie: in solchen schwierigen Zeiten müsste man sich zusammen tun.
Erdogan sei doch nicht so schlecht wie sein Ruf. Er habe es auch verstanden und habe keine andere Wahl sich zu ändern. Außerdem habe er auch gutes für die Türkei getan.
Noch in dieser Woche brach Erdogan sein Schweigen und drohte erst am 19. Juni Imamoglu, auch wenn er die Wahlen gewinnen würde, Gerichte würden entscheiden, ob er das Amt erhält. Am 18.06 verglich er Imamoglu mit dem ägyptischen Staatschef Sissi, der mit einem Militärputsch an die Macht kam. Erdogan wird zunehmend aggressiver, scheut auch nicht vor Drohungen zurück. Das ist die übliche Art von ihm, wenn die Prognosen nicht stimmen, werden Drohungen und Gewalt eingesetzt. Jede Woche wird ein Journalist brutal geschlagen. Ein Ende der Verhaftungen und Durchsuchungen ist nicht abzusehen. Aber die Linksliberalen verschließen natürlich ihre Augen.
Als namenhafte Fachjournalisten ziehen diese Leute Parallelen zwischen der Situation in der Türkei und in Venezuela. Sie deuten an, dass auch in der Türkei ein Regimewechsel von Seiten “äußerer Mächte“ herbei geführt werden kann. Obwohl allen bekannt sein sollte, dass Venezuela im Gegensatz zur Türkei gegen die aggressive wirtschaftliche Politik des Neoliberalismus des Westens steht. Erdogan will den Neoliberalismus in Sinne des Westens ausbauen.
Hallo, geht’s noch?
Erdogan hielt seinen “Historischen Block“ mit der Gülen Bewegung fast 10 Jahre lang aufrecht: von 2003 bis zur endgültigen Entscheidung des Machtkampfes 2013. Dieser Block wurde damals von Erdogans Anhängern unterstützt und dieser Block ist verantwortlich für den Aufbau eines faschistischen Staates. In dem Machtkampf ging es nur darum, wer die Oberhand über den „tiefen Staat“ bekommt.
In dieser Zeit hat der „tiefe Staat“ den Krieg in Syrien mit initiiert und die Gezi Proteste brutal zerschlagen. Tausende Menschen wurden in die Gefängnisse eingesperrt. In dieser Zeit wurden auch unzählige Prozesse gegen Linke mit gefälschten Beweismitteln geführt.
Noch vor ein paar Wochen hat Erdogan und sein neuer Block (AKP-MHP) mit derselben Methode die Wahlen kurzerhand annullieren lassen und kurz danach sprach er zum ersten Mal von einem „nationalen Bündnis“. Das war aber nur eine Taktik, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von der Annullierung der Wahl in Istanbul abzulenken.
Die Unstimmigkeiten im neuen Block (AKP-MHP Bündnis) deuten darauf hin, dass er vermutlich nicht lange aufrechterhalten werden kann. Vor allem die MHP nutzte das Bündnis, um seine Basis zu stabilisieren. Jetzt kann sie sogar auf dieses Bündnis verzichten. Die AKP hingegen befindet sich in einem Ungestüm, dessen Ende nicht absehbar ist. Bei einer erneuten Niederlage in Istanbul wird Erdogan weiter geschwächt und die MHP gestärkt werden. Der Kampf um den „tiefen Staat“ wird mit harten Bandagen geführt. Um seine Macht auszuüben, bleibt Erdogan nichts anderes übrig, als Zugeständnisse an die nationalistische MHP zu machen.
Ausgerechnet kurz vor der Istanbuler Wahl, die nicht nur den Bürgermeister, sondern möglichweise die existentielle Zukunft der AKP bzw. Erdogans bestimmt, zeigt sich die Besorgnis der Linksliberalen über die Erhaltung des bestehenden Systems. Mehr offene Unterstützung eines faschistischen Regimes ist nicht mehr möglich.
Nach der ersten Zerschlagung des “Historischen Blocks“ folgte der zweite Block mit der MHP. Die Neoliberalen wollen sich an dem Block beteiligen und ein Teil der Sozialdemokraten schließen sich der von den “liberalen Linken“ getragenen Ideen an.
Die Sozialdemokraten stehen für ein Wirtschaftsprogramm, das sie mit den Neoliberalisten weltweit abgesprochen haben. Daran ändern wollen sie nichts, an den für den Neoliberalismus relevanten Gesetzen von Erdogan ebenfalls nicht.
Die revolutionäre Arbeit auf der Straße wird mit gelenkten rassistischen Anti-Flüchtlingsparolen, anti- kurdischen Aussagen, durch die prekären Arbeitsstationen, die Arbeitsunfälle sowie steigende Lebenshaltungskosten von der Tagesordnung genommen und so untergraben. Die Spaltung der Bevölkerung wird nicht nur durch die AKP, sondern auch von den Sozialdemokraten und der liberalen Linken vorangetrieben. Diese Haltung der liberalen Linken und der Sozialdemokraten eröffnet den fruchtbaren Boden für die aus ihrem Winterschlaf erwachten Liberalen. Deshalb behaupten sie in ihrer Theorie, Linke seien von einem Erdogan Hass befallen. Wir alle seien auf demselben Boot und wenn das Boot kentert, gehen wir alle unter. Man solle Erdogans „Antikapitalismus und Antiimperialismus Ideen“ unterstützen, bevor es zu spät sei…
Wir mögen ihn nicht, stimmt! Und wir sind wütend:
Weil er ein faschistisches autoritäres System aufgebaut hat,
Weil er die demokratischen Rechte mit Füßen tritt, unsere Freunde verhaften und foltern lässt.
Weil er tausende Menschen per Dekret entlassen ließ und viele davon Selbstmord begangen haben.
Weil er mit seinen wirtschafsfreundlichen Gesetzen tausende Arbeitsunfälle billigend in Kauf nimmt.
Weil er jeden friedlichen Protest durch seine Polizei brutal zerschlagen lässt.
Weil er die Frauenmorde von den Ehemänner/Freunden durch lasche Gesetzgebung ermöglicht.
Weil er jegliche Streiks verbietet und die protestierenden Arbeiter verhaften oder entlassen lässt.
Weil er die protestierenden Frauen zur Zielscheiben macht
Weil er das kurdischen Volk in eigenen Land diskriminiert,
Weil er das Land in den Ruin treibt, nur um seine Macht zu erhalten
Weil er durch Korruption seine Familie und Freunde auf Kosten der Ärmsten bereichern lässt.
Weil er mit unsinnigen Bauprojekten Wälder vernichtet und das Land in eine Wüste verwandelt hat.
Weil er mir den Religionsschulen den Kindern und Jugendlichen ihre Zukunft geraubt hat
Weil er aus einem Agrarland ein Lebensmittel importierendes Land gemacht hat.
Weil er alle staatlichen Betriebe an die Kapitalisten verschachert hat.
Von diesen Themen reden die Liberalen nicht, sie schießen aus sicherer Distanz auf die Revolutionäre, weil sie wissen, nur die Revolutionäre könnten den Unmut der Menschen zu einem rollenden Felsen verwandeln. Ihre Aufgabe ist, genau das zu verhindern. Totalitarismus, Autoritarismus wird billigend in Kauf genommen.
Während der 17-Jährigen Herrschaft des AKP/ Erdogan Regimes hat die Revolutionäre Linke viele ihrer Errungenschaften, die viel Mühe, Blut, Leben und Arbeit kosteten, verloren. Der Kampf wurde ohne die liberale Linke angefangen und geführt. Jetzt wo der Neoliberalismus ihnen Platz zur Entfaltung ihrer Theorien einräumt, heißt das nicht, dass die revolutionären Kräfte ihnen diesen Platz überlassen werden. Liberale tauchen aus dem Nichts wie die Pilze aus dem Boden auf, aber die revolutionären Linken sind das Unkraut, das nie vergeht. Die Linksliberalen sollten es nicht vergessen! Egal wie die Istanbuler Wahl endet, die Straße gehört den Kämpfenden.
Verfasst für die Freiesicht.org.