Nach Jahren von nichts und noch mehr nichts überschlagen sich die juristischen Ereignisse im Fall Mumia Abu-Jamal.
Am 10. Januar 2019 kommt aus den USA die E-Mail mit der Sensation: In einem entlegenen Abstellraum der Staatsanwaltschaft von Philadelphia haben die Angestellten auf der Suche nach Ersatzschreibtischen am 28. Dezember sechs Aktenkisten gefunden. Die haben dort unter den gestapelten Möbeln nichts verloren. Auf fünf der Kisten steht Mumia Abu-Jamals Name. Auf der sechsten steht nichts. In allen sind Akten zu seinem Fall.
Und das, nachdem es gerade zwei ganze Jahre lang ein Tauziehen um fehlende Aktennotizen gegeben hatte.
Das, nachdem auch die neue Staatsanwaltschaft unter Larry Krasner versichert hatte, alle Akten an das Gericht geliefert zu haben.
Das, nachdem Richter Leon Tucker aus Philadelphia in Mumias Klageverfahren gegen den befangenen Richter und Ex-Staatsanwalt Ron Castille erneut die fehlenden Aktennotizen moniert und mit Urteil vom 27. Dezember erstmals Abu-Jamals Weg zu einem möglichen neuen Prozess freigemacht hatte.
Die stellvertretende Oberstaatsanwältin Tracey Kavanagh schreibt dem Richter: „Nichts in unserer Datenbank deutet auf die Existenz dieser sechs Kisten hin. Wir sind dabei, alles zu sichten.“ Alle sind gespannt auf das Ergebnis.
Bereits das Urteil von Richter Tucker war eine Sensation. Zum ersten Mal seit 37 Jahren eröffnet es die berechtigte Hoffnung für Mumia, vielleicht doch noch zu seinem Recht zu kommen. „So muss es sich anfühlen, wenn man einen Richter hat, der nicht von der Fraternal Order of Police bezahlt wird“, sagt Mumia vorsichtig dazu.
Ein neuer Prozess ist möglich. Die Beweise für seine Unschuld irgendwie einzubringen ist absurd kompliziert, aber möglich. Und wer weiß, was in den Kisten ist…
Alles hängt nun vom neuen Leiter der Staatsanwaltschaft von Philadelphia ab: Larry Krasner. Er ist der erste Leiter dieser Behörde, der vorher Strafverteidiger war. Ein Linker, der seit einem Jahr im Amt schon so viel umgekrempelt hat, dass viele aus dem juristischen Establishment ihn aus vollem Herzen hassen. Aber hier geht es um Mumia. Um einen Fall, der die ganze Stadt gespalten hat. Um die rachsüchtige rechte rassistische Fraternal Order of Police (FOP), die noch immer seinen Tod fordert. Um die verbitterte Witwe des Polizisten, die Mumia für immer hinter Gittern will.
In dieser aufgeheizten Stimmung musste sich Larry Krasner bis zum 26. Januar 2019 für oder gegen eine Berufung entscheiden.
Aktivist*innen in Philadelphia übergaben ihm 4200 Unterschriften mit der Forderung: Keine Berufung! Erstmals schien es echte Aussicht auf Bewegung in der unendlichen Geschichte zu geben. Die Zeichen deuteten auf Wende.
Dann, am 26. Januar, selbst für Eingeweihte unerwartet, veröffentlichte das Büro der Staatsanwaltschaft den Beschluss, in Berufung zu gehen.
Das macht die Entscheidung von Richter Tucker nicht hinfällig bedeutet aber qualvolle weitere lange Monate und vielleicht Jahre, bis Mumias Verteidigung sein Anliegen erneut vor dem Pennsylvania Supreme Court vortragen kann. Das könnte dann die Tür zu einem neuen Prozess öffnen.
Vor 37 Jahren begann der Alptraum für Mumia.
- Dezember 1981 um 4 Uhr nachts. Polizeikontrolle in Philadelphia und das bekannte Ende: Der Polizist Daniel Faulkner tot, ein Tatverdächtiger geflohen, Mumia schwerverletzt. Viele wütende Polizist*innen, die ihn sofort als schuldig brandmarken. Den Bewusstlosen brutal zusammenschlagen und erst nach über einer halben Stunde ins Krankenhaus einliefern.
Am 9. Dezember 1981 war er 27 Jahre alt, begeisterter Vater von drei kleinen Kindern, eine lokale Berühmtheit als Journalist in Philadelphia. Ein Schreibtalent, eine Stimme mit Charisma, jemand mit Zukunftspotenzial in der Branche trotz seiner radikalen Berichterstattung über die grassierende Polizeikorruption und brutalität in seiner Heimatstadt Philadelphia, über die extreme Ungleichbehandlung schwarzer Menschen in den USA.
Im Juni darauf ein kurzer Prozess von 15 Tagen: Verurteilt zum Tod durch die Giftspritze. Fast 29 Jahre Todestrakt, zwei Hinrichtungstermine. Internationale Kampagnen für den Gefangenen. 2001 Aufhebung des Todesurteils. 2011 endlich Verlegung in den sog. Normalvollzug. Schwere Erkrankung und wieder lange nichts und wieder nichts …
Trotz dieses Rückschlags zum ersten Mal gibt es eine reale Chance für Mumia. Es wird wie immer schwierig, langwierig und ätzend werden. Aber es ist möglich.
Lasst uns nicht aufgeben.
Bittet Larry Krasner darum, die Berufung fallen zu lassen das kann er jederzeit! Weitere Informationen unter mobilization4mumia.com/actions.
Spendet für die Verteidigung und die Freund*innen, die ihn besuchen – sie brauchen es! Spenden an Mumia Abu-Jamal e.V., Sparkasse Heidelberg, IBAN DE34 6725 0020 0009 0817 98.
Schickt eine Postkarte an Mumia! Die Gefängnisbehörden in Pennsylvania haben vor kurzem den Aberwitz verordnet, die Postadressen der Knäste zu einer privaten Firma in Florida zu verlegen. Nur diese Anschrift gilt noch!
Zeigt ihnen, dass wir da sind. Lasst uns ein Teil der Bemühungen bleiben, diesen Mann nach all den Jahren irgend wann in Freiheit begrüßen zu können.
Nachtrag vom 1. Februar 2019: Im Gebäude der Oberstaatsanwaltschaft von Philadelphia sind weitere 100 (einhundert!) bisher unbekannte Aktenkisten zu Mumia gefunden worden.
Quelle: Sonderausgabe der Roten Hilfe /18.03. 2019 Tag der politischen Gefangenen