Das Maxim-Gorki-Theater hat in Berlin ein Musical über Stepan Bandera aufgeführt. Die Künstler verklärten den Faschisten als „umstrittenen“ Nationalhelden mit Kindheitstrauma. Der Berliner Senat finanzierte dieses Projekt in der Reihe „Mythen der Wirklichkeit“.
„Es gibt unbestrittene Helden“ sagte der neu gewählte Präsident der Ukraine Wladimir Selenskij kurz vor der Stichwahl am 21. April – über Stepan Bandera. Er sei für Teile der Ukraine ein Held und Kämpfer für einen unabhängigen ukrainischen Staat, und das sei „klasse“, so Selenskij.
Am 8. Mai, der seit 2015 als Tag des Gedenkens und der Versöhnung gilt, ließ der Präsident vor einer ehemaligen Verbindungsfrau der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) und einem Sowjet-Veteranen ablichten. Der Handschlag zweier Greise sollte ein Symbol sein: Der angeblichen Aussöhnung zwischen den 6 Millionen Soldaten der Roten Armee aus der Sowjet-Ukraine und mehreren Hunderttausend der Hitler-Schergen und Kollaborateure, die das Militär der ukrainischen Nationalisten symbolisieren.
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Wer waren Bandera und die „Banderowzi“?
Stepan Bandera war Jahrgang 1909 und Sohn eines griechisch-katholischen Priesters und ist wohl heute der berühmteste Nationalistenführer in der Westukraine vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war einer der Mitbegründer und Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und ihres bewaffneten Flügels, der Ukrainische Aufstandsarmee (UPA). Die Partei bekannte sich in den 1930er Jahren zur faschistischen Ideologie und praktizierte zunächst Individualterror gegen polnische und sowjetische Funktionäre.
Bereits am Anfang des Zweiten Weltkrieges begann Bandera, mit Geheimdiensten Nazi-Deutschlands zu kooperieren. Er hoffte, mit Unterstützung durch Hitler-Truppen einen ukrainischen Staat – losgelöst von der Sowjetunion – zu installieren. Genauso wie Hitler kämpfte er gegen das „jüdisch-bolschewistisches Moskowium“. Seine Anhänger rekrutierte er vor allem unter der westukrainischen Dorfjugend.
Sie waren fanatisch einer ukrainischen Idee verbunden und kämpften zeitweise gegen Polen. Aber zum Hauptfeind haben die ukrainischen Nationalisten stets Moskau erklärt. Für Hitler-Truppen stellten sie bereits seit 1940 eine Verfügungsmasse an Kämpfern, die in verschiedenen Einheiten auf den von Deutschland bereits okkupierten Territorien gedient haben: Verbände wie „Nachtigall“, „Roland“, „SS-Division Galizien“ sowie sogenannte Schutzmannschaften, die bei Vernichtung der Zivilbevölkerung mitgewirkt haben.
Bis heute gibt es eine Historiker-Debatte über den Grad der persönlichen Verantwortung von Stepan Bandera für die unzähligen Gräueltaten der ukrainischen Nazi-Kollaborateure gegen die Zivilbevölkerung sowie für deren Mittäterschaft am Holocaust. Nichtdestotrotz wird sein Name seit jeher – gleichermaßen auf Seiten seiner Anhänger wie Gegner – stellvertretend für den gesamten ukrainischen Nationalismus verwendet. Auch das Nazi-Militär hat zu Kriegszeiten den ukrainischen Nationalismus als „Bandera-Bewegung“ bezeichnet.
© Wikipedia „Heil Hitler! Heil Bandera! – die Inschrift am Glinsky-Tor des Zholkovsky-Schlosses. Sommer 1941, vor Banderas Verhaftung.
Nach dem Ende des Krieges haben sich die „Banderowzi“ noch jahrelang in den Wäldern der Westukraine verschanzt und lieferten sich einen erbitterten Kampf gegen die Rote Armee der Sowjetunion, die sie als Besatzer ansahen. Ihre Methoden reichten von Sabotageakten bis zum individuellen Terror gegen die Vertreter der Sowjetverwaltung sowie gegen sowjetische „Kollaborateure“ in der Bevölkerung.
Laut der offiziellen, lange geheim gehaltenen Statistik forderte dieser Kampf von 1944 bis 1953 insgesamt 30.676 Tote auf sowjetischer Seite. Davon 8.350 Militärangehörige, 3.350 Leitende Funktionäre der Kommunistischen Partei und der zivilen Verwaltung, 15.355 Bauern, 676 Arbeiter, 1.931 Angestellte (vor allem Ärzte und Lehrer), 860 Kinder, Alte und Hausfrauen. Viele Historiker gehen aber von noch höheren Zahlen aus.
Auf der Seite der Nationalisten starben ebenso Zehntausende, nach der Niederschlagung der Bewegung durch sowjetische Sondereinheiten wurden UPA-Kämpfer zu Haftstrafen oder zur Verbannung samt ihren Familien nach Sibirien verurteilt. Der Mythos über den selbstaufopfernden Kampf der „Banderowzi“ für Unabhängigkeit wurde von der westukrainischen Diaspora in den USA und in Kanada sowie im Dunstkreis der westlichen Geheimdienste während der gesamten Periode des Kalten Krieges sorgsam geschürt. Das Ziel dieser Art „Geschichtspflege“ von Besiegten im Kampf gegen den Nazismus war es, die Sowjetunion durch Separatismus und nationalistische Bewegungen zu schwächen oder gar zu paralysieren. Die gleiche Strategie verfolgten ebenso die früheren Nazi-Kollaborateure aller anderen Nationalitäten der Sowjetunion, auch unter den Russen.
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Banderismus in der modernen Ukraine
Bereits zu Zeiten der Perestroika Ende der 1980er Jahre wurde die Bandera-Ideologie in der Noch-Sowjet-Ukraine wieder salonfähig. Nach der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1991 schossen nationalistische Organisationen und Parteien vor allem in Regionen der Westukraine wie Pilze aus dem Boden. Viele davon besannen sich in ihrem Erscheinungsbild und ihrer Ideologie nicht nur auf die OUN-UPA, sondern auch direkt auf die Nazis, die deutsche NSDAP.
Bis Mitte der 2000er Jahre gelang es derartigen rechtsradikalen und neonazistischen Bewegungen jedoch nicht, ihren Einfluss auf die gesamte Ukraine auszubreiten. Erst ab Dezember 2004, mit der Wahl von Wiktor Juschtschenko im dritten Wahlgang zum Präsidenten, begann der Siegeszug der Nationalisten im gesamten Land. Im Jahr 2010 erklärte Juschtschenko Stepan Bandera per Präsidenten-Erlass zum Helden der Ukraine.
Die Nationalisten setzten seither auf radikale Abkehr von Russland, auf die Verbannung der weitverbreiteten russischen Sprache bis zu ihrem Verbot und auf enge Anbindung an die politisch-militärischen Strukturen des Westens. Sie predigten radikalen Ethnozentrismus und setzten bei Durchsetzung ihrer Ziele auch auf Gewalt und politische Repressalien. Zum Hauptfeld ihrer Propaganda machten sie vor allem den Bildungssektor: Nationalistische Propaganda wurde de facto mit „Aufklärung“ gleichgesetzt. Zu dieser Propaganda gehörte auch ein von jeglichem Nazismus weißgewaschenes Erscheinungsbild von Stepan Bandera als Leitfigur und von seiner Bewegung.
Die führende und älteste rechtsradikale Partei des Landes, die Sozial-Nationale Partei mit ihrer Wählerbasis in der westukrainischen Region Galizien, bekam im Februar 2004 eine gesichtskosmetische Operation verpasst und wurde in „Swoboda“ (Freiheit) unbenannt.
Der Grund dafür war die Notwendigkeit, nach der berühmten Hetz-Rede ihres Anführers Oleh Tjahnybok das Image der Partei aufzubessern. Bei einem Freiluft-Auftritt hatte er seine Anhänger aufgerufen, nach dem Vorbild der UPA gegen „Judenschweine, Russenkanaken und Deutsche mit Maschinengewehren zu kämpfen“. In Januar 2005 verließ Andrij Parubij, der heute Parlamentspräsident ist, „Swoboda“ als einer der Mitbegründer.
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Quelle: http://www.globallookpress.com „Swoboda“-Partei war eine der treibenden Kräfte des Maidan-Umstürzes. Auf dem Bild: Die Partei-Fahne und Bandera-Bild auf einem von den Protestler besetzten Verwaltungsgebäude auf dem Kiewer Maidan in Januar 2014.
Sowohl der Name als auch das alte und wichtigste Symbol der Partei, das Monogramm „Idee der Nation“– zwei durchkreuzte Anfangsbuchstaben I und N, auch „Wolfsangel“ genannt – verwiesen direkt auf die faschistischen Wurzeln und machten es für Liebäugelnde anderer Parteien unmöglich, mit diesen erstarkten Nationalisten zu koalieren.
Als Wahrzeichen der neuen Partei wurde das Markenzeichen „Dreizack“ in den Farben der ukrainischen Nationalfahne ausgewählt. Dieses Runenzeichen schmückt seit 1991 das ukrainische Wappen, war aber ebenso schon zu Bandera-Zeiten unter Nationalisten sehr beliebt. Heute tritt dieses Wappen auch auf Monumenten zu Ehren von Bandera in Erscheinung, wie es hier ein Tweet des Vorsitzenden des Ukrainischen Jüdischen Komitees Eduard Dolinksi zeigt.
Durch Propaganda in den Medien und durch die Förderung seitens der Regierung hat sich schrittweise auch in breiteren Schichten der Bevölkerung die Vorstellung verfestigt, dass eine junge Nation einen „gesunden“ Nationalismus brauche, um sich gegen den traditionellen Einfluss der eng verwandten Russen zu wehren. Noch in den 1990er Jahren schrieb der damalige Präsident Leonid Kutschma das Buch mit dem programmatischen Namen „Ukraine ist nicht Russland“. Für die radikalsten Vertreter dieser Idee sollte sich die anzustrebende Trennung über alle Bereiche erstrecken – von der Politik über die Wirtschaft bis zur Kultur. Sprache, Religion und Geschichtsbewusstsein kam dabei eine besondere Bedeutung zu.
Quelle: http://www.globallookpress.com Eine Demonstration zu Ehren der Anführer ukrainischer Nationalisten in Okotber 2014. Auf dem Bild, der Banner der Organisation „Dreizack“ mit der Inschrift „Ukraine über alles“.
„Patriotismus“ der Kunstschaffenden
Daran wuchs die Allianz zwischen den liberalen, vorgeblich „demokratischen“ und westorientierten Kräften und den Nationalisten. Der „Euro“-Maidan Ende 2013 bis Anfang 2014 und der Staatsstreich als finales Ende bildeten eine wichtige Zäsur in dieser Entwicklung. Spätestens mit diesem Zeitpunkt entschieden sich auch zahlreiche ukrainische Kunstschaffende für ihr Bekenntnis zum neuen ukrainischen Patriotismus. Das Tragen des völkischen Strickhemdes in Großstadtbüros und im ukrainischen Parlament wurde eine große Mode.
Der neue, „patriotische“ Nationalismus („es ist unser Land“), machte es möglich, auch sogar die Menschen in russischgeprägten Regionen der Ukraine anzusprechen. Zu ihnen gehört auch der heute 41-jährige Schauspieler und Komiker Wladimir Selenskij, der nunmehr gewählte Präsident. Vor 2014 war er auch in Russland sehr beliebt und erfolgreich. Während der heißen Phase des Krieges im Donbass überwies sein Studio allerdings eine Million Griwna an die ukrainische Armee, und Selenskij nannte während seines Auftritts an der „Front“ die östlichen Gegner der Kiewer Putschregierung einen „Abschaum“. Auch heute sucht er – ähnlich wie sein Vorgänger Petro Poroschenko – die Nähe zu Tarnuniformierten, zu den neuen „Helden“ der Ukraine.
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Nach der Abspaltung der Halbinsel Krim von der Ukraine und seit Beginn der Aufstände im Osten des Landes (die in der ukrainischen offiziellen Sprachregelung als eine russische Invasion verunglimpft werden), ist die Selbstdarstellung als Opfer in Medien und Politik der wichtigste Propaganda-Ansatz. Bislang hofft die ukrainische Führung, aus ihrer Opfer-Rolle im Westen Kapital schlagen zu können.
„Patriotisch“ orientierten und international bekannten Kunstschaffenden kommt dabei eine besondere Rolle zu. Der in Berlin lebende Musiker Yuriy Gurzhy zum Beispiel war einer der vielen Ukrainer, der in deutschen TV-Talk-Runden in gutem Deutsch seit Anfang 2014 diese neuen ukrainischen Positionen vorträgt. Er hat jahrelang mit dem Schriftsteller und DJ Wladimir Kaminer in dessen „Russendisko“ mitgewirkt. Jetzt widmet sich Gurzhy der Popularisierung von ukrainischer Musik.
© Screenshot svoboda.org Juri Gurzhy zeigt (rechts) „Jo“- Zeichen in Form eines Dreizack im Schminkeraum des Gorki-Theaters.
Wie Gurzhy zum ukrainischen Nationalismus steht, illustriert ein Foto, das vom US-Propagandamedium Radio Liberty auf dessen russischer Webseite verbreitet wird. Er und sein Musiker-Kollege halten drei ausgespreizte Finger in der „Dreizack“-Form in die Kamera. Das entsprechende Wappen, das dieses Zeichen symbolisieren soll, „schmückt“ – wie oben schon erwähnt – die Fahne der rechtsradikalen Bandera-Partei „Swoboda“ und zahlreiche Monumente zu Ehren der Nazi-Kollaborateure.
Sicherlich soll dieses Kokettieren mit aufgeladenen Symbolen nicht als nationalistische Propaganda interpretiert werden, sondern als reine patriotische Geste einer in die Opfer-Rolle verfallenen Nation. Oder als ein Verhöhnen von Russen: „Schaut her, ihr werdet mich ‚Banderowez‘ nennen, aber ich lache euch dafür ins Gesicht, denn ich bin ein jüdischer Freigeist.“ Alle, die es wagen, solche Gestik zu kritisieren, sollen von vornherein das Gefühl bekommen, rückwärtsgewandt und unzeitgemäß zu sein. Ein progressiver Künstler – zudem gar ein Jude wie Gurzhy – kann doch gar kein bösartiger ukrainischer Nationalist sein!
Maxim-Gorki-Theater und der „wahre“ Bandera
Es ist daher offenbar kein Zufall, dass sich im Jahr 2016 das „Studio Я“ des Maxim-Gorki-Theaters als das kleinste der Berliner Staatstheater (mit dem „neudeutsch“ verballhornten Kurztitel GOЯKI, sic!) ausgerechnet an Gurzhy wandte, als es im Rahmen eines Projekts für das Polit-Theater „Mythen der Wirklichkeit“ eine Aufführung über ein ukrainisches Thema machen wollte. Gurzhy schlug Hiphopera „Bandera“ vor, und das Berliner Theater sagte zu. Die Finanzierung sicherte die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa mit dem Politiker Dr. Klaus Lederer aus den Reihen der Partei „Die Linke“ als dem zuständigen Senator.
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Das Musical wurde mehrmals auf dieser Berliner Bühne aufgeführt, die letzte Vorstellung fand im Frühjahr 2019 statt. In der Kurzbeschreibung auf seiner Webseite greift das Theater zu gängigen Floskeln der ukrainischen Propaganda: Die Behauptung, in der Ost-Ukraine fände ein Krieg gegen Russland statt und Banderas Schuld an nazistischen Verbrechen sei womöglich eine Erfindung des russischen Fernsehens:
Wer war Stepan Bandera? In der Ukraine kennen alle seinen Namen. Im russisch-ukrainischen Krieg wird der Mythos um den Partisanenführer wiederbelebt – und zwar von beiden Seiten. Während ihn das russische Fernsehen als eine Art ukrainischen Hitler zeichnet, wird er in der Ukraine als Nationalheld gefeiert und auf Briefmarken abgebildet.
Bereits diese Formulierung sorgte im Netz für scharfe Kritik, allerdings eine eher seltene Ausnahme. „Es ist handfestes Geschichtswissen, dass es sich bei den Banderisten und ihren heutigen Nachfolgern um Faschisten und Nazi-Kollaborateure handelt. Wer das ins Reich der „Mythen“ einordnet, betreibt Relativierung bis zur Beliebigkeit, um dem antifaschistischen Kampf den Boden zu entziehen. Jeder Protest an die Adresse des des Gorki-Theaters ist angemessen!“ schrieb der Deutsche Freidenker-Verband auf seiner Webseite.
Der Deutsche Freidenker-Verband verurteilte das Theater-Stück anhand der eigenen Beschreibung durch das Theater. Aber was geschah im Theatersaal tatsächlich? Die russischsprachigen Ableger der Deutsche Welle und von Radio Liberty berichteten über den Jubel und dankbaren Applaus des vorwiegend jungen Publikums in Berlin. Könnte es denn nazistischer Propaganda applaudieren? Schließlich leugneten die Autoren in ihren 11 Songs, in Form eines Musicals inszeniert, nicht Banderas terroristische Aktionen in Polen und in Zusammenarbeit mit Hitler. Auch die „jüdische Frage“ war ein Thema. Das Leitmotiv des Stückes war der immer wiederkehrende Song „Hero or Monster“. Bandera als ein möglicher „Bösewicht“ bleibt da immerhin noch eine Option.
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„Bandera ist nicht mein Held“ versichert Yuriy Gurzhy vorsichtshalber in einem Interview. Er sagt, das Thema sei ihm als Jude nicht leicht gefallen. In seinem Musical behandelt er Bandera nicht abgekoppelt von der ganzen nationalistischen Bewegung. Allerdings ist es gerade deswegen seltsam, dass viele andere blutige Taten der ukrainischen Nationalisten im Theaterstuck reineweg einfach nicht thematisiert werden: Etwa das Wolynien-Massaker der UPA an der polnischen Bevölkerung – ein Verbrechen, das in Polen als Genozid eingestuft wurde – findet im Musical ebensowenig Platz, wie der Terror gegen die sowjetischen Zivilisten keinen Platz findet.
Dafür gibt es in einem der Lieder die Erwähnung, dass Bandera schon mit dreizehn Jahren seine geliebte Mutter verlor. Selbst Humor gibt es hier und da, wenn schon einen „kohlrabenschwarzen“. „Es gelang dem Autoren-Kollektiv das schwierige Thema leicht für die Wahrnehmung zu machen und eine Prise schwarzen Humor beizumischen“, schreibtRadio Liberty. Bei „Bandera“ komme einem die Rock-Opera „Jesus Christ Superstar“ in den Sinn.
Das US-Medium lobt die Hiphopera auch dafür, dass die Autoren auch den Rap nutzen. Die OUN-Mitglieder selbst hätten gern die Westukrainer der 1920-1930er Jahre mit der schwarzen US-Bevölkerung verglichen, denn die hätten unter der „Polonisierung“ im damals noch polnischen Staatsgebiet sehr gelitten. In ihren Texten schimmere der Gedanke durch, der Nationalismus sei schlicht die Ideologie der Unterdrückten. Während der Show spreizt am Ende die Sängerin und Mitautorin Irina Frenk ihre zierlichen Hände mit großen Boxerhandschuhen, was den übermenschlichen Mut der Nationalisten, kämpfend gegen fremde Übermächte, bedeuten soll.
„Postmoderne Stilisierung, Rap und Hip-Hop ziehen leicht junge Menschen an. Die Zeichenhaftigkeit der Gegenkultur erzeugt den Eindruck einer ‚Revolution’“, erklärte zur Wahl des Genres die ukrainische Kulturwissenschaftlerin und Dichterin Ewgenija Biltschenko. Es sei jedoch schwer, sich eine noch ausgefallenere Verbindung aus erzkonservativer, unterdrückender Archaik und heutiger Unterhaltungsindustrie vorzustellen, so Biltschenko. Die Verharmlosung des Bösen mittels moderner Kunst ist für die kritische Wissenschaftlerin eine bewusst gewählte Strategie des liberalen Diskurses.
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Gewalt ästhetisch zu legitimieren, ist eine der wichtigsten Methoden der liberalen Propaganda. Das Schreckliche und Tragische zum Harmlosen und Lächerlichen, das Obszöne und Grausame zum Eleganten und Rührenden zu machen: Das ist die Aufgabe derer, die den Faschismus in kommerzialisierte Burleske, Schabernack und Narrenposse verwandeln. Dies ist nicht nur eine verbreitete und akzeptierte Einstellung, die sich mit ‚Lasst uns Snobs und sarkastische Zyniker sein‘ beschreiben lässt. Es ist eine systematische Strategie, um den Nazismus zu rechtfertigen und die Russophobie in Europa zu stärken“, sagte Biltschenko auf RT-Anfrage.
Wie war es denn mit Ken Jebsen?
Die Russen können nicht mit Kritik umgehen und wittern überall Russophobie, so lautet oft der übliche Vorwurf an derartige Interpretationen. RT wandte sich mit Fragen direkt an alle Mitwirkenden. Doch sowohl Yuriy Gurzhy als auch das Maxim-Gorki-Theater und selbst der Berliner Senat haben ein Gespräch verweigert.
„Leider ist keiner der beteiligten Künstler bzw. Vertreter des Theaters für ein Interview verfügbar. Das Stück Bandera ist im Übrigen nicht mehr als Wiederaufnahme geplant. Alle Stücke aus der Reihe Mythen der Wirklichkeit wurden im Februar und März zum letzten Mal aufgeführt.“, schrieb uns die Theater-Verwaltung. Auf direkte Anfrage an ihn via Facebook erklärte Yuriy Gurzhy, dass er mit RT grundsätzlich nicht spreche.
Die Berliner Kulturbehörde, die das Projekt finanzierte, reagierte auf den Hinweis über die NS-Vergangenheit des Protagonisten so:
Wir bitten um Verständnis, aber die Senatsverwaltung für Kultur und Europa bewertet das Programm in von uns geförderten Theatern und Einrichtungen grundsätzlich nicht.
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„Kein Ansatz ist ausgeschlossen, solange es darum geht, die Gesellschaft zu hinterfragen und zu verändern“, begründet das Studio R („Studio Я“) seine thematische Reihe. Um welche gesellschaftlichen Veränderungen geht es in diesem Fall? Den Bandera-Kult etwa auch in Deutschland verständlich zu machen und Empathie zu wecken? Darum, gewisse „unzeitgemäße“ Hemmschwellen abzubauen im Umgang mit der Nazi-Vergangenheit? Ein Polit-Theater konnte eine solche Aufführung doch wohl kaum ohne einen politischen Zweck inszenieren.
Wer das Wirken der Berliner Kulturpolitiker kennt, kann sich sehr genau an einen Skandal um die Preisverleihung des Kölner Karlspreises für unabhängigen Journalismus in November 2017 erinnern. Damals wurde die Preisverleihung an den unabhängigen Journalisten Ken Jebsen wegen dessen dafür geplanter Anwesenheit nach direkter Intervention des Kultursenators im legendären Berliner Filmtheater „Babylon“ – gleich gegenüber der ebenfalls legendären (Ost-)Berliner Volksbühne – abgesagt.
Der Preisträger und mehrere an dieser Veranstaltung Beteiligte sind in der Vergangenheit durch offenen, abgründigen Israelhass, die Verbreitung typisch antisemitischer Denkmuster und kruder Verschwörungstheorien in Erscheinung getreten. (…) Ich bin entsetzt, dass ein Kulturort in Berlin diesem Jahrmarkt der Verschwörungsgläubigen und Aluhüte eine Bühne bietet. Vom Geschäftsführer des Kinos Babylon würde ich mir angesichts dessen die Courage wünschen, zu sagen: Als Plattform für diesen Wahnsinn stehen wir nicht zur Verfügung“, schrieb seinerzeit der Kultursenator Klaus Lederer auf Facebook.
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RT Deutsch schrieb damals dazu: „Es blieb nicht nur beim Facebook-Eintrag. Laut der taz intervenierte die Kultursenatsverwaltung auch direkt bei dem vom Senat geförderten Babylon-Kino. Kein Geringerer als Kulturstaatssekretär Torsten Wöhlert soll beim Babylon-Geschäftsführer Timothy Grossman telefonisch durchgeklingelt haben. Während des Telefonats soll Wöhlert seine „deutliche Irritation“ über die Veranstaltung zum Ausdruck gebracht haben.“
(Auch) diese Einmischung des Senats wurde damals im Netz heftig kritisiert, von der Bekämpfung der Meinungsfreiheit war die Rede. Die Befürworter jenes unsäglichen Telefonats erwiderten mit dem Argument, es ginge dem Senat ja gar nicht um die Bekämpfung der Meinungsfreiheit, sondern um den Entzug des öffentlichen Raums für Verbreitung bestimmter Inhalte.
Konstanten der deutschen Politik
Der spielerische, emphatische Umgang auf einer Berliner Bühne mit einem der Anführer der ukrainischen Antisemiten der Nazi-Zeit, die tatsächlich Mord an Abertausenden von Juden zu verantworten haben, stellte für Berliner Kulturpolitiker im Gegenzug zur öffentlichen Präsenz eines angeblichen „Antisemiten“ Ken Jebsen kein Problem dar. Der Leiter des ukrainischen Jüdischen Komitees Eduard Dolinsky twitterte dazu:
Das Berliner Gorki-Theater wird die HipHopera „Bandera“ über den ukrainischen Nationalisten aufführen, dessen Organisation mit den Nazis zusammenarbeitete, an der Ermordung von anderthalb Millionen ukrainischen Juden im Holocaust teilnahm und zwischen 70.000 und 100.000 ethnische Polen in der Ukraine ermordete.
Dolinsky benutzt seinen Twitter-Kanal ausschließlich dazu, um zahlreiche Fälle der Nazi-Verherrlichung in der Ukraine zu dokumentieren. Oft werden in der Westukraine Monumente oder Gedenktafeln für erwiesene Mörder aufgestellt, nur weil sie – laut dem neuen offiziellen Geschichtsbild der Ukraine – Kämpfer für einen ukrainischen Staat waren. Auf dem Twitter-Kanal von Dolinsky landen keine Bagatellen.
Ein anderes Beispiel, wie der öffentliche Raum in Berlin dauerhaft für einseitige politische Propaganda genutzt wird, sind die Aktivitäten am sogenannten „Mauermuseum“, an dem historischen Ort des Kalten Krieges „Checkpoint Charlie“. Dort ist seit nunmehr fünf Jahren am Museumsgebäude auch noch ein riesiges Banner in den Farben der ukrainischen Nationalfahne aufgespannt, mit der „mahnenden“ Text auf Englisch und Russisch:
Wenn wir Freiheit und territoriale Integrität Europas verteidigen möchten, müssen wir die Freiheit und territoriale Integrität der Ukraine verteidigen. Wladimir Putin, beschränken Sie Ihre geopolitischen Ambitionen und geben Sie der ganzen Ukraine die Freiheit zurück.
Das „Mauermuseum“ wird privat geführt. Das Wirken der ukrainischen Nationalisten wird von dessen Direktion als Freiheitsstreben in der altbewährten Manier der westdeutschen Kalten Krieger gewürdigt. Der Missbrauch von einem der meistbesuchten Touristenorte in Berlin für politische Dauerwerbung wird also ebenso vom Berliner Senat zumindest geduldet, wenn nicht gar unterstützt.
Vom ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk bekommen die Berliner Behörden das entsprechende Lob. Im März 2015 twitterte er: „Am Haus Checkpoint Charlie in Berlin ruft ein riesiges Plakat Putin auf, die Aggression gegen die #Ukraine zu stoppen“. An diesem Beispiel ist zu sehen, wie die ukrainische Selbstdarstellung in Opfer-Pose mit willfähriger Unterstützung seitens der Berliner Behörden vor Millionen Berlinern und Gästen der Stadt seine Wirkung zeigen darf.
Im April 2015, also einen Monat nach diesem Tweet, besuchte Andrij Melnyk Banderas Grab in München und legte dort Blumen nieder. Auf Twitter schrieb er auf Ukrainisch: „Mit dem Schwiegersohn Banderas haben wir den Helden der Ukraine mit Gedenken geehrt. Das Grab sollte in Zukunft eingeweiht werden.“ Im Oktober fand die Einweihung mit einem kirchlichen Ritual statt.
In Deutschland wird der bekennende Bandera-Verehrer Melnyk nicht nur geduldet, er mischt hier kräftig in der Politik mit. Immer wieder macht er Schlagzeilen, wenn er gegen das Projekt der Ostsee-Gaspipeline „Nord Stream 2“ hetzt, deutschen Politikern nach ihren Krim-Besuchen die Leviten liest und ihnen oder deutschen Künstlern wie der Techno-Band Scooter dafür mit Strafverfolgung droht. Offenbar stellt für die Berliner Politik seine Einstellung zu nazistischen „Helden“ kein Problem dar. Warum denn auch? Ihr Heldenstatus ist nun mittlerweile eine (wieder) denkbare Option. Ein künstlerisches Engagement des Maxim-Gorki-Theaters machte es möglich.
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Zu Zeiten des Hitlerfaschismus in Deutschland, von den Tätern als „Nationalsozialismus“ verbrämt, haben die später vom Nürnberger Tribunal verurteilten Kriegsverbrecher und Massenmörder die ukrainischen Nationalisten für ihre mörderischen Zwecke eingespannt. Die Unterstützung des ukrainischen Nationalismus aus Berlin und seinerzeit auch aus Wien (in den damaligen Gebieten Österreich-Ungarns) geht auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Diese Allianz trug bereits im Ersten Weltkrieg ihre blutigen Früchte, als im Jahr 1914 bis zu 30.000 Zivilisten aus den Ruthenen (Русины) – Menschen mit einer russischen Identität – ermordet wurden. Diese ethnische Säuberung gilt in Russland als Völkermord.
Die Zusammenarbeit verschiedener Außenmächte mit dem ukrainischen Nationalismus hat im gesamten Osteuropa tiefe, womöglich unheilbare Wunden hinterlassen. Die Zivilgesellschaften in der Ukraine und Russland sind nun untereinander und auch im Inneren gespalten und finden sich entlang der historischen Fragen in einem dauerhaften Bürgerkonflikt wieder.
Heute lässt sich diese Politik vor allem in Form des Geschichtsrevisionismus und der Doppelstandards erkennen. Während in Deutschland und in der Europäischen Union nationalistische Kräfte von den Parteien des Establishments mit heftig geschwungener Nazi-Keule bekämpft werden, tolerieren und verharmlosen die Meinungsführer die Nationalisten in der Ukraine mit klar erkennbaren Nazi-Wurzeln, ebenso wie im Baltikum. Die Feindschaft zu Russland, das zum gemeinsamen Gegner erklärt wird, macht es wieder möglich.