Nicht nur Erdogan sieht in Imamoglu, der die Wahlen in Istanbul gewonnen hatte, als seinen Konkurrenten, sondern viele andere Analysten der Türkei auch. Für Erdogan ist er eine ernsthafte Bedrohung geworden, der den Untergang seiner einleitet. Seine persönliche Zukunft war Erdogan wichtiger, als die Zukunft seiner Partei und die des Landes. Deshalb hat er entschieden, die Wahlen in Istanbul zu annullieren und diese durch die den Wahlbehörde verkünden zu lassen. Mit dieser Entscheidung machte er aus Imamoglu einen ersthaften Konkurrenten. Seine Gefolgschaft sowie die Mitglieder seine AKP sehen den nahenden bitteren Ende entgegen. Sie könnten bei einer Abwahl von Erdogan bei der nächsten -möglicher weise vorgezogenen- Präsidentschaftswahlen in der Türkei glimpflich davon kommen, im Gegensatz zu Erdogan. Es werden mehrere Prozesse, neben den vier, seit Jahren wegen seiner Immunität eingefrorenen Prozesse, gegen ihn und einige seiner Freunde eröffnet. Der Rest der AKP kann ihre Zukunft nicht befürchten. Deshalb werden sie ihre Hand nicht für Erdogan ins Feuer legen.
Die Wahlen am 23.06.2019 in Istanbul wird Erdogan möglicherweise verlieren. Aber auch wenn er gewinnt, wird er in Zukunft ziemlich schlechte Karten haben.
Bei der Eröffnungsrede seiner Wahlkampagne sprach Imamoglu geschickt von 80 millionen Menschen und nicht von 16 millionen Istanbuler. Seine richtete sich nunmehr an die gesamte Bevölkerung der Türkei und nicht nur an die Wähler in Istanbul. Damit bestätigte Imamoglu die Befürchtungen von Erdogan und stellte klar, dass nicht der AKP Kandidat Yildirim bei der Wahl in Istanbul sein Gegner ist, sondern Erdogan selbst. Mit einem erneuten Verlust Istanbuls werden nicht nur Erdogans sondern auch sein bevorzugt korruptes System die Hauptgeldadern geschnitten. Fast ein Drittel (31%) des türkischen Sozialprodukts wird in Istanbul erwirtschaftet. (62% des gesamten türkischen Sozialprodukts werden in Istanbul und in den Städten, die CHP gewonnen hat, erwirtschaftet.) Somit entgleitet Erdogan viel Geld aus der Hand, um weiterhin dreckige Geschäfte zu betreiben. Mit einem Wechsel in Istanbul werden die Karten neu gemischt. Die Auswirkungen werden nicht nur in Istanbul, sondern im ganzen Land zu spüren sein und eine Neuorientierung sowie Neudesign der türkischen Politik wird zwingend.
Erdogan bekam von seinen Partnern im Ausland eine Schonfrist bis Ende der Wahlen. Durch die Annullierung der Wahl in Istanbul bekam er nur ein Nachfrist. Keine wollte Erdogan eine Ausrede für die Schlamassel der Wahlen einräumen. Aber danach wird es für Erdogan heiß, sehr heiß.
Schulden – neue Kredite- müssen her, allein in diesem Jahr müssen 122 Milliarden Dollar Schulden zurück gezahlt werden. Um frisches Geld zu bekommen muss Erdogan Zugeständnisse machen. Aber was er noch anbieten kann, bleibt ungewiss.
Investoren ziehen sich von den Großprojekten wie den Istanbuler Flughafen oder von den Brücken, zurück. Einer nach dem anderen verkaufen sie ihren Anteile. Seit Augst 2019 werden Statt neue Investitionen Milliarden Beträge aus der Türkei abgezogen. Die Dollar Reserven des Central Bank der Türkei betrug im Mai 2019 ca. 27 Milliarden Dollar und verringert sich von Tag zu Tag.
Durch von der Regierung beschlossenen Rettungspakete der Wirtschaft, werden nicht nur die staatlichen Banken geplündert, sondern auch die Reserven des Staates. Trotz aller Bemühungen zeigen diese Rettungspakete keinerlei Wirkung. Sie verpuffen sofort wie Wasser auf heißem Stein. Arbeitslosigkeit und Armut steigt ständig. Verzweifelt werden neue Wege gesucht. Vor einigen Tagen brachte der Finanzminister und Schwiegersohn von Erdogan ein neues Paket heraus. Mit diesem Paket, in Höhe von 30 Milliarden Dollar, soll die importabhängige Wirtschaft unterstütz werden. Anstatt gegen die Arbeitslosigkeit und gegen den Armut Maßnahmen zu treffen, wird mit günstigen Krediten die Schulden der Privatwirtschaft finanziert. Woher das Geld kommen soll und ob das Geld wieder Erwirtschaftet und in die Kassen der Zentralbank fliesen wird, bleibt ungewiss.
Es ist nicht nur der wirtschaftliche Kollaps, Resultat der 17 jährigen Politik Erdogan´s und der AKP Regimes, sondern auch eine Staatskriese, als Folge der komplette Umstrukturierung des türkischen Staatsapparetes. Diese Kiese kann einfach nicht irgendwelchen Rettungspaketen oder von Wahlen gelöst werden. Die Fortführung der neoliberalistischen Ausbeutung des Landes frisst sich durch die Gesellschaft. Die Schere zwischen den Reichen -der neu entstandenen Millionäre- und den Armen geht dermaßen auseinender, dass die Mittelschicht ernsthaft befürchten muss, bei einem Aufstand der Armen, ihre Rest-Privilegien zu verlieren. Deshalb sind die Systemparteien bemüht den “sozialen Frieden“ auf Kosten des ärmsten zu erhalten.
Die Sozialisten und Revolutionäre sollten sicherlich die Opposition unterstützen, um Erdogan zu schwächen, ohne von ihren Weg abzuweichen. Für nachhaltige Politik und Praxis müssen sie sich zuerst von den Systemparteien, die sich nur für die Reparatur und Neuausrichtung des System bzw. Neo- Liberalismus bewerben, distanzieren.
Die Tagespolitik, die sich Wellenartig über das Land verbreitet, hat führt kein Thema mit sich, das die Unzufriedenheit und den Unmut der Bevölkerung aufnimmt. Diese Gelegenheit sollte genutzt werden und darauf die organisatorischen Strukturen aufgebaut werden. Man sollte sich nicht von den Wellen der Tagespolitik treiben lassen, die hauptsächlich von der Mittelschicht getragen wird.
Die Erfahrungen über die revolutionäre Praxis sind vorhanden, die einzige Frage ist die Umsetzung der alternativen revolutionären Politik. Wenn die Menschen sich selbst organisieren und auf die Straße gehen, werden sie sich auch von Revolutionären nix sagen lassen. Wieso auch…
Verfasst für Freiesicht.org