Während Erdogan seine Rolle als Stänkerer spielt, profitiert der MHP Chef Bahceli von der Unsicherheit der AKP Anhänger. Wie ein Puppenspieler hält er im Hintergrund die Fäden in der Hand und bestimmt die Tagespolitik des Bündnisses. Erdogan dagegen erleidet gegenüber seiner Gefolgschaft einen Prestigeverlust ohnegleichen. Mit der Annullierung der Wahlen in Istanbul verstärkte sich dieser Effekt. Denn alle wissen: Anstatt sich auf die Probleme des Landes zu konzentrieren, hat sich Erdogan in ein Abenteuer manövriert, dessen Ausgang seiner Karriere über kurz oder lang einen tödlichen Schlag versetzen wird.
Nach der Niederlage bei den Kommunalwahlen am 31. März wurde nicht nur die Unbesiegbarkeit Erdogans infrage gestellt, sondern auch der Zerfall seiner Partei AKP beschleunigt. Den Verlust in den großen Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Adana, Antalya, Mersin kann die AKP/Erdogan nicht verkraften. Deshalb versuchen sie die Wahlergebnisse anzufechten. Um die Wahlen in Istanbul für ungültig erklären zu lassen, setzten sie sogar die von ihnen eingesetzte Wahlbehörde massiv unter Druck. Am Ende haben sie ihr Ziel erreicht, aber dennoch verloren.
Die Besorgnis, dass er seine Macht verlieren könnte, steht Erdogan ins Gesicht geschrieben. Auch seine Verzweiflung darüber, wo er anfangen soll, ist jedem ersichtlich geworden. Er steht vor einem Scherbenhaufen der Probleme. Einerseits wirtschaftliche Probleme, wie ausgebliebene Kredite, die er dringend braucht, der Krieg in Syrien und die Kurdenpolitik. Andererseits der Zerfall seiner Partei. Vor einem Jahr hatte Erdogan von der “mentalen Müdigkeit“ in seiner Partei gesprochen. Die Funktionäre der Partei nutzen die Macht der Partei, um sich zu bereichern. Das ist nicht abwegig, wenn man Erdogan als Präsidenten hat. Hat er doch die Korruption den anderen jahrelang vorgemacht.
Um die Wirtschaft auf Trab zu bringen, ist er von den Kreditgebern abhängig, die noch zögern und ihn zappeln lassen.
Auch im Syrienkrieg, in dem er eng an die Dschihadisten gebunden ist, gibt es für ihn nicht viel Spielraum.
„Mentale Müdigkeit“ der Mitglieder seiner Partei bedeutet nichts anderes als Korruption, Bestechung und maßlose Gier. Dies alles unter Kontrolle zu bringen, ist heute nicht mehr möglich.
Nun versucht er durch Andeutungen, wie die über neue Friedensgespräche mit den Kurden und die Aufhebung der Isolation von Öcalan, die HDP Anhänger von der Opposition zu trennen, was ihm schwerfallen wird. Vor allem solange sein Bündnispartner MHP/Bahceli mit von der Partie ist.
Erdogans Reaktion auf die Niederlage in Istanbul zeigt, wie verzweifelt er ist. Er hat mit seiner Präsidentschaft die Gewaltenteilung aufgehoben und alle Macht an sich gerissen. Warum beharrt er dennoch nur auf Istanbul und nicht auf alle anderen Großstädte, die er verloren hat?
Sein Untergang begann in Istanbul mit den Gezi Protesten, die damals mithilfe der Gülen Bewegung brutal zerschlagen wurden. Eine Alternative zu ihm könnte in Istanbul keimen und für seine Macht eine Bedrohung darstellen. Er sieht Istanbul mit dem verängstigten Auge einer Diktatur. Er glaubt, wenn Istanbul fällt, sei sein Ende besiegelt. Im Grunde genommen ist es egal, ob er die Neuwahl gewinnt oder verliert. Wenn er gewinnt, verzögert sich nur sein Untergang. Mehr nicht.
Bahceli hingegen ist mit der AKP/Erdogan ein Bündnis eingegangen, aber keine Koalition. Dies lehnte er stets ab. Es besteht also kein „Koalitionsvertrag“, der von beiden Parteien ausgearbeitet und bestätigt wurde. Das ermöglicht der MHP im Hintergrund mit zu regieren und die Alltagspolitik zu gestalten, ohne die Verantwortung zu übernehmen. Diese verlagert sie auf die AKP.
Bei einer Koalition teilen sich die Parteien die Arbeitsgebiete des Landes und jeder macht in seinem Bereich, was er will. Bei einem Bündnis hingegen sind die Grenzen verschwunden. Die MHP kann überall mitmischen und weitere Funktionäre in den Staatsapparat einschleusen. Es ist ein geschickter Schachzug der MHP, wovon sie nur profitieren kann.
Eine Partnerschaft ohne Vertrag zwischen AKP und MHP. Wieso?
Erdogan braucht Bahceli. Als Erdogan das Verfassungsreferendum gewonnen hatte, glaubte er, dass er alle Fäden des tiefen Staates in die Hand bekommt. Die Ereignisse nach den Kommunalwahlen vom 31. März 2019 zeigen, dass dies ein großer Irrtum war.
Als die AKP/Erdogan mit Hilfe der Gülen-Bewegung die Armee aus dem Machtzentrum verdrängte und den Staatsapparat für sich in Anspruch nahm, erfolgte die Übernahme des Tiefen Staates nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Nun muss er bitter erfahren, dass er mit großen Widerständen der Partner innerhalb des Tiefen Staates rechnen muss. Die Partner wollen ihre Interessen nicht kampflos in Erdogans Verwaltung übergeben, sondern vielmehr weiter ausbauen.
In kolonialfaschistischen Ländern, wie der Türkei, ist der “Tiefe Staat“ nicht homogen. Verschiedene Interessengruppen zerren um die Macht, um sich neu zu positionieren. Manchmal gehen sie Kompromisse ein, aber der Kampf geht unter der Oberfläche weiter. Das zeigt sich, wenn sich hin und wieder der ein oder andere nicht so verhält, wie gewohnt.
Eine der Vertreterinnen des Tiefen Staates, die Vorsitzende der IYI Partei (ein Abkömmling der nationalistischen Partei MHP) Aksener, ging mit der CHP ein Bündnis ein. Die Macht dieser Frau darf nicht unterschätzt werden. Sie war diejenige, die in den 90’er Jahren mehr als 5000 Dörfer in Kurdistan dem Erdboden gleich gemacht hat, die Bevölkerung vertrieb und Hunderte Kurden entführen und erschießen ließ. Nun ist sie mit den Sozialdemokraten eins und klopft große Sprüche gegen Erdogan. Obwohl sie nicht einmal Immunität genießt, weil sie keine Abgeordnete ist. Jeder Andere würde mit dieser Aggressivität schon längst im Gefängnis gelandet sein. Sie nicht. Weil eine unsichtbare Schutzhand über ihr schwebt. Nämlich der Tiefe Staat.
Die erste Niederlage hatte Erdogan eigentlich mit den Wahlen im Juni 2015 erlitten, als er die absolute Mehrheit im Parlament verlor. Da fingen die dunklen Kapitel des Erdogan Regimes an. Zuerst die Aufkündigung der Friedensgespräche, die Überfälle auf die kurdischen Städte sowie die Verhaftungen und Einschüchterungen der Oppositionellen. Die wiederholten Wahlen gewann er nur mit Ach und Krach, mit Hilfe von Manipulationen.
Zufrieden war er nicht unbedingt, dann musste der selbst inszenierte Putschversuch her, der im Juli 2017 folgte. Mit Hilfe der MHP (Nationalistische Partei) und CHP (Sozialdemokratische Partei) rief er den Ausnahmezustand aus. Und brachte eine Welle von Verhaftungen in Gang.
Die MHP hat ihn dabei immer unterstützt, aber auch von Seiten der CHP haperte es nicht an Unterstützung. Zum Beispiel bei der Aufhebung der Immunität der HDP Abgeordneten, bei den Operationen in den kurdischen Städten usw. Nun stehen ihm diese Kräfte gegenüber und tun so, als ob sie eine andere Lösung hätten. Sie bieten sich dem Westen als Alternative zu Erdogan an. Ein Konzept, außer der Umsetzung des Neoliberalismus, haben sie jedoch nicht. Insbesondere bezüglich des Kriegs in Syrien und der Kurdenfrage werden keine Antworten gegeben. Die Bündnisse AKP/MHP und CHP/Iyi Partei waren Anti-X (Hauptsache gegen-X) Bündnisse und haben keine Garantie für eine weitere Existenz. Die Türkei verfügt über langjährige Erfahrungen mit Koalitionen unterschiedlichster Parteien, aber kaum über Erfahrungen mit Anti-X Bündnissen. Die aus “taktischen Gründen“ entstandene Ignoranz gegenüber den sechs Millionen kurdischen Stimmen bringt beide Bündnisse an ihren Grenzen und wird in Zukunft der entscheidende Faktor für die Neuausrichtung der Bündnisse sein.
Erdogan weiß, dass jeder austauschbar ist. Nur derjenige, der sich für den Neoliberalismus einbringt und für Stabilität bzw. Autoritarismus sorgen kann, hat eine Chance, in dem von Krisen geschüttelten Land zu überleben. Mit dem Bündnis mit der MHP hat er noch nicht seine letzte Kugel abgefeuert, aber seine Munition ist schon lange feucht, zündet nicht mehr.
Die Geschichte des Faschismus in der Türkei unterscheidet sich von dem europäischen insofern, dass er immer wieder mithilfe von Putschen untermauert (gestützt) wurde und sich je nach Bedarf flexibel erwies. Aber auch das hat seine Grenzen und kann nicht ewig andauern. Kein faschistisches Regime bekommt unbegrenzte Unterstützung von den Massen. Wenn die Umsetzung der neoliberalen Politik in erster Linie die Lebensstandards dieser Massen – besonders von der Mittelschicht – verschlechtert, was nicht anders möglich ist, müssen neue Gesichter her.
Die demokratischen Kräfte und Sozialisten sowie die HDP haben das Bündnis aus CHP/IYI Partei gegen das Bündnis aus AKP/MHP unterstützt und die nachhaltige Niederlage herbei geführt. Nun ist es an der Zeit, sich neu zu formieren und sich auf einen längeren Kampf vorzubereiten. Erdogan kann auf die MHP nicht verzichten, aber die CHP könnte – wenn sie wollte – auf die IYI Partei verzichten und ein Bündnis mit der HDP und den Linken eingehen. Die CHP wird wahrscheinlich den Zustand des Staates eher sanieren. Die enormen Kriegsausgaben sind schon lange ein Dorn im Auge der Neoliberalen. Erdogan könnte, wenn er Bahceli überzeugen kann, neue Friedensgespräche mit den Kurden zu führen, die Unterstützung der CHP durch die Kurden unterbinden. Bahceli wird die AKP jedoch eher zu noch härteren Schritten gegen die Kurden zwingen.
Erdogan wird alles tun, um die Oppositionsparteien zu spalten. Ob es ihm bis zum 23.05 2019 gelingt, ist fraglich.
Verfasst für freiesicht.org