International Die Rechte kaperte in Bolivien den Protest gegen die Regierung
Wer durch Bolivien reist, wird es sicherlich gehört haben: Bolivien ist das Herz Lateinamerikas. Die Wirksamkeit dieser Metapher wird nach einem Blick auf die Landkarte deutlich. Mitten in Südamerika, eher westlich gelegen, ist Bolivien neben Paraguay das einzige Land, das keinen Zugang zum Meer hat. In symbolischer Hinsicht ist Bolivien auch der Ort, an dem die Pulsschläge der indigenen Bevölkerung, die in der Verfassung als ursprüngliche Völker und Nationalitäten anerkannt ist, in Märkten und Ritualen, in Textilien und Musik spürbar sind. Doch jetzt tönen Alarmsignale aus dem bolivianischen Altiplano hinsichtlich der Gesundheit lateinamerikanischer Demokratien und dem Stand der sozialen Gerechtigkeit.
Anders als in Chile oder Ecuador findet man im Kern der bolivianischen Krise nicht die Spuren des IWF und seiner neokolonialen Finanzpolitik für Lateinamerika. Diese Finanzpolitik verspricht riesige Darlehen, erfordert aber den Verzicht auf wirtschaftspolitische Souveränität. Wie aus Griechenland oder Argentinien bereits bekannt ist, sind wachsende Ungleichheit und immer höhere Wohlstandkonzentration das Ergebnis solcher Deals. Die Wirtschaftspolitik des Movimiento al Socialismo (MAS) mit Evo Morales an der Spitze der bolivianischen Regierung folgte solchen Richtlinien nicht. Die makroökonomischen Messungen geben seiner Regierung recht: Bolivien ist das Land in Südamerika, das Armut und extreme Armut am meisten beseitigt hat und wo die größte Umverteilung von Reichtum stattgefunden hat. Dies wird sogar vom IWF und der Weltbank anerkannt. Warum also brach die Krise in Bolivien aus? Um eine Antwort zu finden, muss man die Politik näher betrachten. Nach den Wahlen vom 20. Oktober dieses Jahres, die nicht besonders beispielhaft in Sachen Transparenz und Legitimität waren, kam es an mehreren Orten des Landes zu sozialen Unruhen. Das Hauptmerkmal dieser Unruhen war ihre Heterogenität. Die vielen Gruppen einigten sich unter dem groben und unpräzisen Motto »Verteidigung der Demokratie« und befürchteten, die MAS-Regierung würde für immer an der Macht bleiben wollen. Viele Bürger*innen waren über die Qualität ihrer demokratischen Institutionen und die Intransparenz der herrschenden Partei besorgt und blockierten infolgedessen Straßen in La Paz. In Santa Cruz, dem Epizentrum der rechten Opposition, wurde währenddessen die soziale Unzufriedenheit von Akteuren absorbiert und umgelenkt. Die Akteure hier bedienten sich einer ultrakonservativen, rassistischen und christlich-fundamentalistischen Rhetorik.
Die Antwort der Regierung war Repression: Schon früh beklagten die Protestierenden die ersten zwei Todesfälle. Die Gewalt eskalierte. Polizei und Militär wurden plötzlich politisch aktiv und »empfahlen« dem Präsidenten zurückzutreten. Es ist ein Putsch, der nur schwer zu vertuschen ist. Die privaten Häuser von Anhänger*innen des MAS und von Morales selbst wurden geplündert. Ohne Schutz mussten Morales und zahlreiche Mitglieder der Regierung unter Todesdrohung zurücktreten. Morales und sein Vizepräsident Álvaro García Linera sind daraufhin ins Exil nach Mexiko geflohen.
Die rechte Opposition, unter der sich auch faschistische paramilitärische Gruppen wie die Union Juvenil Cruceñista befanden, sah im entstandenen Machtvakuum die beste Gelegenheit, die Macht zu ergreifen. Jeanine Áñez, als Vertreterin dieser Opposition, rief sich selbst im Namen Gottes und mit der Bibel in der Hand zur Präsidentin aus. Daraufhin begann eine weitere Verschärfung der Repression, diesmal gegen die Anhänger*innen der gestürzten Regierung. Die Áñez-Regierung dekretierte Immunität für die Polizisten und Soldaten, die auf Demonstrant*innen geschossen hatten. Bis Anfang Dezember gab es 33 Todesopfer, 804 Verletzte und 1.511 Festnahmen.
Die jüngsten Ereignisse sind eine Art explosive Zusammenfassung der bolivianischen Politik seit dem Wahlsieg des MAS im Dezember 2005. Der überparteiliche soziale Kampf gegen die Privatisierung der natürlichen Ressourcen beseitigte die Legitimität des Washingtoner Konsenses im Land. (1) Evo Morales zeigte nicht nur, dass eine indigene Person zum ersten Mal Präsident eines mehrheitlich indigenen Landes werden konnte, sondern auch, wie eine postneoliberale Politik aussehen könnte.
Dies geschah im Zusammenhang mit dem Aufstieg des lateinamerikanischen Progressismus zu Beginn unseres jungen Jahrhunderts. Ähnlich wie Hugo Chávez in Venezuela oder Rafael Correa in Ecuador nahm Morales eine antiimperialistische und souveräne Position ein. Die bolivianischen Oligarchien, die mit der US-Außenpolitik für Lateinamerika, der so genannten »Back-Yard-Politik«, im Einklang standen, wurden die Gegner im Diskurs des MAS. So entstand die Polarisierung zwischen einer national-souveränen Position und einer, die pro Washington und neoliberal ist.
Doch langsam begann auch die Kritik von Sektoren zu kommen, die immer weniger von der Regierung gehört wurden und die sich verraten fühlten. Indigene Verbände, Frauenkollektive und ökologische Bewegungen wurden häufig ignoriert, vielfach schlug ihnen Repression und Intoleranz entgegen. Sie kritisierten, dass die Regierung ihre Politik auf die Intensivierung des Extraktivismus stützte, also auf die Vertiefung der Rolle des primären Sektors, hauptsächlich des Bergbaus. Was Erdölexporte für Ecuador und Venezuela bedeuten, sind für Bolivien Metalle und zukünftig Lithium. Die praktische Abhängigkeit vom internationalen Markt der Rohstoffe unterminiert alle möglichen Diskurse über Souveränität. Und das auf Kosten der Rechte der indigenen Völker und der irreversiblen Zerstörung der Natur.
Vom »entweder … oder« zum »weder … noch«
Die einzige Art und Weise, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, besteht darin, vereinfachte und schwarz-weiße Analysen zu vermeiden. Die Regierung Morales wirft anderen linken und progressiven Gruppen vor, sie seien Alliierte der Rechten, wenn sie MAS nicht unkritisch und bedingungslos unterstützten. »Entweder seid ihr mit uns oder seid ihr gegen uns!« Alles ist entweder schwarz oder weiß. Soll die Regierung Morales trotz aller Korruptionsskandale, trotz der Einmischung in den Wahlprüfungsausschuss, trotz der Repression gegen die indigenen Völker, trotz der Gefährdung des Nationalparks TIPNIS und trotz des respektlosen Umgangs mit Frauen unterstützt werden? Nein. Im gleichen Maße muss man trotzdem anerkennen können, dass die Regierung Morales die erfolgreichste in der Geschichte Boliviens gewesen ist, was Reichtumsverteilung und Armutsbekämpfung angeht. Außerdem, und das geht über Evo Morales selbst hinaus, ist seine Präsidentschaft ein symbolischer Wendepunkt für die Aymara-Bevölkerung und die indigenen Völker in ganz Amerika. Die Kraft dieser Wende lässt sich besser im Kulturfeld erkennen, wo beispielsweise die Aymara-Mode oder die Neo-Andine-Architektur Freddy Mamanis ein beispielloser Versuch sind, die eigene Identität in zeitgenössischen, urbanen Zeiten wiederzubeleben.
Während der MAS-Amtszeit ist innerhalb der Zivilgesellschaft eine neue politische Sensibilität entstanden: Sie will weder die unkontrollierte Macht der Progressisten noch die Rückkehr zum Land der Oligarchen. Und vor allem: kein Blutvergießen! Weder im Namen der Mächtigen, die Gerechtigkeit ohne Freiheit anbieten, noch im Namen der Reichen, die Freiheit ohne Gerechtigkeit befürworten. Gerechtigkeit ohne Freiheit mündet in die Repression der Andersdenkenden, eröffnet den Weg in den Autoritarismus und entkoppelt eine immer empfindungslosere und arrogante Machtelite von ihrer sozialen Basis, aus der die einzige demokratische Legitimation letztendlich stammt. Anders herum vertuscht Freiheit ohne Gerechtigkeit die ungleiche Verteilung unter dem Motto des freien Wettbewerbs, verherrlicht den Marktgott und seine unsichtbare Hand, verteufelt alle Praktiken und Lebensformen, die nicht auf Profitmaximierung zielen, und erhebt das Prinzip des Kapitalismus auf den Thron. Letztendlich ist dieses Frei-sein nichts anderes als ein Frei-zum-konsumieren-sein.
Und nun – ¿Y ahora qué?
Ob die Ereignisse des letzten Monats einen Rechtsruck bedeuten, ist noch nicht endgültig geklärt. Die Münze dreht sich weiter in der Luft und das Ergebnis der nächsten Wahlen, die nach der Ernennung eines neuen Wahlprüfungsausschusses innerhalb von 120 Tagen stattfinden sollen, ist schwer vorherzusagen. Wie wir vom Fall Rousseff in Brasilien und Zelaya in Honduras schon lernen konnten, wird die neue Regierung mit allen Mitteln versuchen, MAS und Morales für unfähig zu erklären.
Die rückständigsten und schlimmsten Teile der lateinamerikanischen Bevölkerung, die von den guten alten Kolonialzeiten und der Unterdrückung der Indigenen träumen, haben sich im Gewand der Evangelikalen neu formiert. Sie sind Verteidiger der Familie, ein Euphemismus für Intoleranz und Misogynie. Forderungen wie das Verbot der Abtreibung und der gleichgeschlechtlichen Ehe sind aber nur die sagbare Seite des Unaussprechlichen: gewalttätiger Neoliberalismus, Sparpolitik, Privatisierung und Klimawandelleugnung.
Auf der anderen Seite wird man sehen, ob und wie die Progressiven, die an der Macht waren, in der Lage sind, anderen Gruppen zuzuhören und Kritik anzunehmen. Die Intensivierung des Extraktivismus bringt irreparable Schäden mit sich, die von den nächsten Generationen getragen werden müssen. Ist dies ein verantwortungsvoller Umgang mit den Ressourcen des Landes? Das Versprechen einer Zukunft, in der Fortschritt und Entwicklung endlich angekommen sind, ist nicht neu. Es ist die neue Form eines alten Versprechens: Eines Tages, wenn wir Lateinamerikaner*innen die Erfolgswege des Westens beschreiten, werden auch wir modern sein. Lohnt es sich, unabhängig von den USA zu werden, wenn das nur in eine neue, unbekannte Unterdrückung mündet, zum Beispiel in Partnerschaft mit China? Wird Lateinamerika für immer die Rolle des Exporteurs von primären Ressourcen (Landwirtschaft, Erdöl, Gas oder Bergbau) in der internationalen Arbeitsteilung spielen müssen? Kann man emanzipatorische Bewegungen, die Feminismus und Naturschutz, Demokratie und Besteuerung der reichsten Eliten verteidigen, weiterhin als Feinde betrachten?
Die neue alte Rechte in Lateinamerika zielt darauf ab, die Politik und die Wirtschaft zu privatisieren. Die emanzipatorischen Bewegungen, die sich selbst ermöglichen, von den eigenen Fehlern zu lernen, können darauf zielen, das Private und die Wirtschaft zu politisieren.
Marco Paladines ist Soziologe und Aktivist. Er promoviert an der TU Berlin über die zeitgenössische indigene Architektur in Bolivien.
Anmerkung:
1) Der Washington-Konsens war ein marktliberales Reformpaket für Staaten, das von Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds vorangetrieben wurde.