Das südamerikanische Land ist fest im Griff von Verschuldung und korrupten Eliten.
Siebzehn Jahre nach der Staatspleite 2002 steckt Argentinien erneut in einer wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Krise. Allerdings ist ein Aufstand gegen die politische Klasse wie zu jener Zeit eher unwahrscheinlich. Damals hat der Internationale Währungsfonds (IWF) Argentinien fallen lassen. Heute bekommt die neoliberale Regierung von Mauricio Macri eine außerordentliche Unterstützung (1), so dass die politische Opposition von der teuersten Finanzierungskampagne der Geschichte Argentiniens spricht. Im Oktober sind Präsidentschaftswahlen und ohne die Zugeständnisse vom IWF würde das Land in die Insolvenz geraten.
von Juana Leguizamón
Siebzehn Jahre nach der Staatspleite 2002 steckt Argentinien erneut in einer wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Krise. Allerdings ist ein Aufstand gegen die politische Klasse wie zu jener Zeit eher unwahrscheinlich.
Damals hat der Internationale Währungsfonds (IWF) Argentinien fallen lassen. Heute bekommt die neoliberale Regierung von Mauricio Macri eine außerordentliche Unterstützung (1), so dass die politische Opposition von der teuersten Finanzierungskampagne der Geschichte Argentiniens spricht. Im Oktober sind Präsidentschaftswahlen und ohne die Zugeständnisse vom IWF würde das Land in die Insolvenz geraten.
Obwohl die Zinssätze der argentinischen Währungspolitik für kurzfristige staatliche Schuldentitel aktuell bei etwa 72 Prozent liegen, stieg der US-Dollarpreis für argentinische Pesos (ARS, 2) von 38,83 im Dezember 2018 auf 45.90 ARS am 25. April 2019. Um Wechselkursturbulenzen zu stoppen, hebt jetzt der IWF die vereinbarte Wechselkursbandbreite (3) auf. Dadurch kann die Zentralbank Argentiniens Devisenreserven freier verkaufen, das heißt, dass die staatliche Bank sogar Teile von IWF-Krediten verkaufen darf, was laut IWF-Vorschriften eigentlich verboten ist. So finanziert der IWF die Kapitalflucht (4) mit und trägt dazu bei, die Währungsreserven Argentiniens zu versteigern.
Gewinner dieser Finanzpolitik sind Banken, große Sojaproduzenten, Energie- und Wasserversorger sowie Finanzspekulanten. Währenddessen stieg die Armut im Land auf 32 Prozent. 2018 schlossen in Argentinien täglich 40 kleine und mittlere Unternehmen und im Großraum Buenos Aires etwa 80 Geschäfte (5). Die akkumulierte Inflationsrate seit Ende 2015, seit Macris Regierungsübernahme, beträgt 209,3 Prozent. Die Teuerungen erklären sich zum Teil durch die Preiserhöhung der öffentlichen Dienstleistungen. Seit 2015 sind der Stromtarif um 3.624 Prozent, Gas um etwa 2.401 Prozent und Wasser um circa 1.025 Prozent gestiegen (6) — und das sind tatsächlich Tausender. Die Reallöhne sind um 12 Prozent gesunken. Der IWF selbst schätzt für das Jahr 2019 ein negatives Wachstum von minus 1,2 Prozent.
Korrupte gegen Korruption?
Wie ist es möglich, dass angesichts dieser katastrophalen Lage die regierende Allianz von Propuesta Republicana (PRO) und Unión Cívica Radical (UCR) immer noch Chancen hat, den nächsten Präsidenten oder die nächste Präsidentin zu stellen?
Durch jahrelange Verbreitung von Halbwahrheiten, dreisten Lügen und Geheimdienstoperationen ist es den argentinischen Eliten gelungen, dass traditionell antiperonistische Mitglieder der Mittelschicht Argentiniens die Regierungen der Kirchners — Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner (7) — für die korruptesten aller Zeiten halten. Aber auch konservative Peronisten glauben, dass die kritische Lage des Landes durch die Korruption und die Umverteilungspolitik der vorherigen Regierung zu erklären sei (8).
Ohne Frage gab es Korruptionsfälle in der Ära Kirchner, denn Korruption ist ein strukturelles Problem in Argentinien. Insbesondere im Bausektor sind seit den 1960er Jahren Kartellpraktiken verbreitet, auch wenn die aktuelle Regierung behauptet, dass die Korruption in dieser Branche erst 2003 mit der Regierung von Néstor Kirchner (2003 bis 2007) anfing.
Doch die Expansion der Familienholding des Präsidenten Mauricio Macri ist von vielen Skandalen umgeben: von Verstaatlichung der Unternehmensschulden während der Militärdiktatur 1976 bis 1983 über Verträge mit dem Staat ohne vorgeschriebenes Ausschreibungsverfahren in den 1980er Jahren, illegale Preiszuschläge in den 1990ern bis hin zu 50 Offshorekonten weltweit (9). Die Familie Macri gehört zum argentinischen Baukartell.
Schwer zu glauben, dass der Präsident die Korruptionsbekämpfung an der Wurzel packen wird. In Wirklichkeit werden Funktionäre der Kirchner-Regierungen, andere politische Oppositionelle und auch ausgewählte Unternehmer Argentiniens verfolgt und/oder ins Gefängnis gesteckt — anscheinend, um ihre Firmen zu kaufen (10). Dies entspricht Illegalen „Geschäftspraktiken“ aus der Zeit der Militärdiktatur, deren Unterschied lediglich darin besteht, dass damals die Opfer spurlos verschwanden.
Doch wen wundert das? Die regierende Elite gehört zur Agraroligarchie und zum Finanzkapital Argentiniens, die Raubtier-Kapitalismus betreiben. Diese Elite bildete die zivile Komponente aller Diktaturen, die im vergangenen Jahrhundert mehr als 50 Jahre lang das Land geplagt haben. Die Nobelnamen wiederholen sich fortwährend im Lauf der argentinischen Geschichte. Es handelt sich jetzt um Kinder, Enkel und Urenkel der immer gleichen herrschenden Klasse. Neu ist nur, dass sie 2015 zum ersten Mal durch Wahlen an die Macht gekommen ist.
Hure, Stute, Montonera
Im Macholand Argentinien wird die frühere Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK) besonders angegriffen, Frauen hassen sie oft heftiger als Männer. Ältere Anhängerinnen der regierenden Allianz trugen bei Demos gegen CFK selbstgeschriebene Schilder, die die Worte enthielten: Hure, Stute, Montonera (11).
Cristina Fernández de Kirchner und ihr Mann, der verstorbene Néstor Kirchner, gehören zur Gruppe der Linksperonisten, deren Politik die Gegner innerhalb der Partei als Kirchnerismus bezeichnen, um sie so vom traditionellen Peronismus abzugrenzen.
Das Hassobjekt der argentinischen Elite war schon immer der Peronismus, da die erste Regierung von Juan D. Perón (1946 bis 1952) eine Umverteilungspolitik durchführte und damit einige Privilegien der Oberschicht abschaffte. Dass das damalige Regime zugleich sozialistische und anarchistische Arbeiter verfolgt hat, konnte der argentinischen Elite nur passen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Eva Duarte de Perón, Evita, wurde von der herrschenden Klasse, aber auch von großen Teilen der Mittelschicht gehasst. Als sie 1952 an Krebs starb, konnte man an mehreren Hausmauern in Buenos Aires „Es lebe der Krebs“ lesen.
Alle gegen Cristina
Bei seiner ersten Rede im Parlament begann Mauricio Macri einen Kreuzzug gegen CFK. Mit dem Argument des „schweren Erbes“ hat er von Beginn an die Folgen der geplanten Strukturanpassungsmassnahmen (12) der Kirchnerregierung in die Schuhe geschoben.
Diffamierungskampagnen liefen bereits früher, dabei wurde auch vor der Verbreitung unsinniger Behauptungen nicht zurückgeschreckt. So beschuldigten die damaligen Kandidatinnen — die heute amtierende Ministerin für Sicherheit Patricia Bullrich und Laura Alonso vom Antikorruptionsbüro — CFK kurz vor den Wahlen 2015, dass sie hinter dem Tod von Staatsanwalt Alberto Nisman (13) steckte. Dies erwies sich als haltlos und war nur der Anfang einer Reihe niederträchtiger, effektiver politischer Operationen.
Diese Diffamierungskampagnen sind auch im Ausland effektiv gewesen. Dazu trugen die Geierfonds bei, mit denen die Kirchner-Regierung wegen der Umschuldung in Konflikt geriet. Paul Singer vom Fonds NML Capital gründete 2013 die Lobbyorganisation American Task Force Argentina (ATFA) in Washington, die Schmierenkampagnen gegen CFK und ihre Regierung organisierte.
Hierzulande sind seit 2008 massive Angriffe gegen CFK an der Tagesordnung. Nach dem Wahlsieg von Macri kamen Anklagen (14) unter anderem wegen Korruption, illegaler Vereinigung und sogar Landesverrats dazu. Es kam zu Verletzungen verfassungsmäßiger Rechte und Garantien, offener Verfolgung gegen sie und ihre Familie, Erniedrigungen und Schikanen. Der Bundesrichter Claudio Bonadío erspart CFK nichts. Er führt die Mehrheit der Gerichtsverfahren, die durch Los „zufällig“ immer bei ihm landen. Am 27. Februar 2019 (15) lud er CFK zur gleichzeitigen Befragung in acht Fällen vor.
„Ein Bruttoinlandsprodukt“
Bisher hat man das angeblich aufgrund von Korruption erworbene Geld der Familie Kirchner nicht gefunden, weder in Argentinien noch im Ausland. Die Kirchners waren bereits Millionäre, bevor sie das erste Amt bekleidet haben und alle ihre Geschäfte sind durch Bankbewegungen belegt.
Dennoch wird in Talkshows, in Zeitungen und auf der Straße fortlaufend wiederholt, dass die Kirchner-Regierung „ein Bruttoinlandsprodukt“ Argentiniens gestohlen hätte. Laut dem Soziologen Saúl Feldman konzentriert sich das politische Marketing der neoliberalen Rechten in Argentinien — und darüber hinaus — heute auf das Gefühl, die Wünsche und die Ängste der Menschen. Es installiert einen sozialen Diskurs, der sich auf eine Handvoll Schlagzeilen beschränkt, zum Beispiel „Alles wurde gestohlen“.
So wurde das Image der Präsidentin, die mit circa 49 Prozent Zustimmung 2015 ihre zweite Amtszeit beendete, demontiert.
Heute besteht der dringende Verdacht, dass viele Gerichtsverfahren gegen CFK durch Erpressung und Falschaussagen als Ergebnis von Geheimdienstoperationen zustande kamen. Die Anzeige des Agrarunternehmers Pedro Etchebest wegen Erpressung entpuppt sich gerade nach und nach als der größte Prozess der Geschichte Argentiniens, wenn man von den Prozessen gegen die letzte Militärdiktatur absieht. Vorausgesetzt, man lässt den zuständigen Richter Alejo Ramos Padilla seine Arbeit machen (16). Etchebest, der inzwischen aus Sicherheitsgründen in den USA lebt, hat im Januar 2019 eine Anzeige gegen den angeblichen Anwalt Marcelo D’Alessio (17) eingereicht.
Vorgeblich tauchte Etchebests Name im Korruptionsfall der „Hefte“ (18) auf, angeblicher Korruptionsbeweise gegen die CFK-Regierung. D´Alessio, der bei Unternehmern oft diese Prozedur anwendete, bot Etchebest an, gegen Zahlung von 500.000 US-Dollar seinen Namen aus der Akte löschen zu lassen; die Erpressersumme verlangte er für den Staatsanwalt Carlos Stornelli. Stornelli ist nicht irgendwer, sondern der Kläger gegen die frühere Präsidentin in mehreren Gerichtsverfahren, die der oben genannte Bundesrichter Claudio Bonadío leitet. Stornelli hat beste Kontakte in die oberen Etagen der Macht und ist, wie Bonadío, häufiger Besucher der „Embajada“, der Botschaft der USA.
Hätte Etchebest die geforderte Summe gehabt, hätte er womöglich, wie scheinbar andere Unternehmer in ähnlicher Situation, gezahlt. Etchebest bezahlte nur einen winzigen Teil und bekam es mit der Angst zu tun, als D´Alessio ihm unter anderem Chats mit Stornelli zeigte, um seinen engen Kontakt mit dem mächtigen Staatsanwalt zu demonstrieren. Deshalb entschied sich Etchebest für eine Anzeige und sammelte monatelang Beweise, indem er hauptsächlich die persönlichen Gespräche und Telefonate mit D´Alessio mit dem Handy aufnahm. Dieses Verhalten kann man sich vielleicht dadurch erklären, dass Etchebest das Ausmaß dieses Bestechungsversuches dämmerte.
Er wurde durch den Fall und die monatelange Anspannung krank und erlitt einen Schlaganfall.
Bei einer Durchsuchung von D´Alessios Villa im Februar fanden die Beamten unter anderem modernste Waffen, Luxusautos, Ausweise der US-amerikanischen Drug Enforcement Administration (DEA, 19) und kompromittierende Dokumente. Die Indizien wogen schwer genug, um zuerst D´Alessio und später Staatsanwalt Stornelli als mutmaßliche Mitglieder einer kriminellen Vereinigung zu beschuldigen. D´Alessio sitzt in Untersuchungshaft, Stornelli ist trotz fünf Vorladungen bisher nicht zur Vernehmung erschienen. Der Staatsanwalt, der eine ehemalige Präsidentin ins Gefängnis stecken soll, erscheint selbst nicht vor Gericht.
Lawfare mit südamerikanischem Flair
Allen Indizien nach gibt es eine informelle Allianz zwischen hegemonialen Medien, der Gerichtsgewalt und der wirtschaftlichen Elite, wodurch ein aktives Netz illegaler Spionage, massiver Erpressung und politischer Operationen entstanden ist. Operativ agiert der Geheimdienst oft in Zusammenarbeit mit der Presse. Erpressungsopfer werden in Zeitungsartikeln oder im Fernsehen von immer denselben Journalisten als Korruptionsverdächtige erwähnt, wenn sie sich weigerten, zu zahlen oder CFK persönlich als in Korruptionsfälle verwickelt zu denunzieren. Wie in Spionageromanen sind anscheinend auch ausländische Geheimdienste und Botschaften verwickelt.
Die Einmischung der USA durch ihre Botschaft in Argentinien hat Geschichte. Der Journalist Santiago O’Donnell, der von Julian Assange 2011 etwa 2.500 Kabel mit vertraulichen Informationen über Argentinien bekam, behauptete, dass „Washington die Nisman-Ermittlungen auf den Weg gebracht hat“. Der 2015 unter unklaren Verhältnissen gestorbene Staatsanwalt Alberto Nisman beschuldigte CFK, die Aufklärung des Attentats (20) gegen das jüdische Gemeindezentrum AMIA (21) in Buenos Aires vertuschen zu wollen. Wikileaksdokumente belegen, dass Nisman die US-Botschaft regelmäßig über seine Untersuchung informierte und sogar um Anweisungen bat. So verfolgte Nisman im AMIA-Fall ausschließlich die iranische Spur, was wegen des iranischen Atomprogramms wohl besser ins Konzept der US-Amerikaner und der Israelis damals passte.
Das Ziel rechtfertigt die Mittel
Das sogenannte D´Alessiogate warf neues Licht auf einen früheren Prozess gegen Leonardo Fariña, einen der Geldwäsche und Steuerhinterziehung beschuldigten Finanzier. Fariñas Prozess lief 2017, parallel zu einem Prozess gegen den Bauunternehmer Lázaro Báez. In dessen Verlauf wurden CFK, der 2010 verstorbene Néstor Kirchner und hohe Exfunktionäre angeklagt, Mitglieder einer illegalen Vereinigung zu sein, deren Ziel war, öffentliches Geld ins Ausland zu schaffen. CFK wurde aus Beweismangel im November 2018 freigesprochen (22). Um die Prozesse gegen CFK am Leben zu erhalten, wurde Fariña ins Boot geholt: Wenn er gegen CFK aussagte, würde man ihn frei lassen. Und weil er keine Ahnung von Verfahren im öffentlichen Bau hatte, wurde er — gemäß laufenden Ermittlungen — von einer Expertin in öffentlicher Administration trainiert.
Große Teile seiner Aussage erhielt Fariña vorab fertig geschrieben per E-Mail, anscheinend von Geheimdienstagenten. Die Expertin stellte dem Gericht diese E-Mails zur Verfügung, die sie nach ihrer Aussage vom argentinischen Bundesnachrichtendienst AFI (23) erhalten hatte und die die zentralen Aussagen enthielten, die Fariña lernen musste. Sie lieferte auch ihre eigenen Notizen als Beweis (24).
Ungewisses Ende?
Mindestens drei Faktoren dürften die Wiederwahl der schlechtesten Regierung — in demokratischen Zeiten — ermöglichen. Ein entscheidender Faktor sind die Fake News. Hunderte Titelseiten der Tageszeitungen Clarín und La Nación werden immer noch der angeblichen Korruption von CFK gewidmet.
Die Mainstreampresse ist ein sehr wichtiges Glied in den Dämonisierungskampagnen gegen frühere, progressive Regierungen Lateinamerikas. Populäre politische Führer/innen werden von Teilen der Justizgewalt, der hegemonischen Presse und vom Geheimdienst verfolgt. Gibt es in der Politik Zufälle? Sind es Verschwörungstheorien oder stehen tatsächlich die USA aus geopolitischem Interesse dahinter?
Bei seiner Bewerbung als Botschafter-Kandidat vor dem US-Senat sprach Edward Prado, aktueller US-Botschafter in Argentinien, von seiner Absicht, die argentinische Justiz in Zusammenarbeit mit hiesigen Richtern und Rechtsanwälten verbessern zu wollen, um das Vertrauen in das Justizsystem zu stärken. Er sagte auch, er fühle sich verpflichtet, „Kapazitäten innerhalb der argentinischen Polizei aufzubauen, um die Sicherheit in Argentinien, einem lebenswichtigen regionalenVerbündeten“, zu fördern. Darüber hinaus erklärte er, er wolle „die Chancen für US-Unternehmen in Argentinien erhöhen“ (25).
Der zweite Faktor ist die internationale Unterstützung der neoliberalen Regierung von Mauricio Macri seitens des Establishments von USA, Israel und IWF.
CFK und andere progressive Regierungen Lateinamerikas näherten die Region aus politischen, aber vor allem aus wirtschaftlichen Gründen an China und Russland an. In der Trump-Ära gibt es eine Verschiebung der Figur des Hauptfeindes „Terrorismus“ hin zu allen strategischen Konkurrenten, die den Status der USA als Supermacht bedrohen. Die USA befinden sich im Handelskrieg mit China und in ihrer ewigen Konfrontation mit Russland, diesmal wegen Venezuela, Syrien und Iran. Mag sein, dass Macri ein unfähiger Politiker ist. Er ist jedoch nach 12 Jahren progressiver Kirchner-Regierungen ein willkommener, unterwürfiger Partner der Großmächte, insbesondere der USA, in der Region.
Der dritte Faktor ist die Spaltung der Opposition, insbesondere in mehrere peronistische Flügel, von denen einige für fast alle Gesetze der aktuellen Regierung gestimmt haben. Auch die Zentrale der Gewerkschaft CGT (26), traditionell von peronistischen, männlichen Führern besetzt, ließ die neoliberale Regierung fast ohne Widerstand diverse Arbeiterrechte abschaffen und massenhafte Entlassungen durchführen.
Das Ende der CEOkratie?
Betrachtet man das Politbarometer, hat CFK trotz alledem die höchste Beliebtheit im Lande. Die Werte variieren heute zwischen 35 und 40 Prozent. In der Tat hat sie auch hohe negative Werte bei der antiperonistischen Bevölkerung. Aber niemand in der politischen Opposition kann ihr in diesem Sinne das Wasser reichen.
Nach dem Erfolg bei den Parlamentswahlen von 2017 träumte Macri von seiner Wiederwahl und davon, dass die verhasste CFK im Gefängnis sitzen oder zumindest während der Wahlkampagne als Angeklagte in mehreren Prozessen dastehen würde. An das Scheitern seiner Politik dachte er nicht. Seine Umfragewerte befinden sich jedoch im Tief.
Seitdem CFK am 18. Mai ihre Kandidatur als Vizepräsidentin angekündigt hat, bildet sich eine breitere politische Oppositionsfront, leider ohne linke Kräfte. Präsidentschaftskandidat ist Alberto Fernández — nicht verwandt mit CFK —, der ehemalige Kabinettschef sowohl von Néstor Kirchner als auch der CFK-Regierung. Vorausgesetzt dieses Duo gewinnt die Wahlen, deutet alles darauf hin, dass eine zukünftige Regierung mit Beteiligung des Kirchnerismus nicht einfach dort weitermachen kann, wo sie 2015 aufgehört hat — etwa bei der Umsetzung von Menschenrechten, was einer der besten Aspekte war. Dafür ist die jetzige weltweite politische Situation eine ganz andere und schlussendlich ist der Kirchnerismus keine revolutionäre politische Kraft, sondern ein reformierter und modernerer Peronismus.
Eine leichte Brise der Hoffnung auf Wandel erfasst das Land und lässt ein Ende des neoliberalen Projektes möglich erscheinen — und auch die Wiederherstellung des Rechtstaates, der nur unter den Militärdiktaturen mehr gelitten hatte.
Unabhängig vom Wahlausgang stehen Argentinien nach einer kolossalen Verschuldung und Rückzahlungsverpflichtungen von immensen Summen ab 2020 schwierige Jahre bevor. Macri wird ein wirklich schweres Erbe hinterlassen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Argentinien bekam das größte Darlehen, das jemals an ein Land vergeben wurde. Das Zentrum für Wirtschafts- und Sozialstudien Scalabrini Ortiz erklärt, dass Argentinien 61 Prozent der aktuellen Mittel des Fonds ausmacht, gefolgt von Ägypten mit 13 Prozent und dem Irak mit 6 %.
(2) ARS: argentinische Pesos.
(3) Wechselkursbandbreite: untere Grenze: 1 U$D = 39,75 ARS; obere Grenze: 1 U$D 51,45 ARS. Die argentinische Zentralbank greift aktiv in den Devisenmarkt ein, um den Devisenkurs zu beeinflussen.
(4) Seit der Unterzeichnung des ersten Abkommens mit dem IWF in April 2018 beträgt die Kapitalflucht 12 Mrd. U$D (30 Prozent der bisher ausgezahlten 40 Mrd. U$D des IWF). Andrés Asiain, El préstamo del FMI. Crédito stand bye-bye, Cash, Página 12, 28.04.2019.
(5) Quelle: Versammlung der Kleinen und Mittleren Unternehmen (APYME) und Industrieverband Argentiniens (UIA).
(6) https://www.ambito.com/afirman-que-tarifas-servicios-publicos-llegaran-acumular-mas-3500-la-era-macri-n5009296
(7) Néstor Kirchner 2003-2007; CFK 2007-2011 und 2011-2015.
(8) Der investigative Journalist Horacio Verbitsky erinnert an das weltweite Ranking über die großen Bestechungsfälle im Bausektor von 1981 (Time), bei dem Argentinien den ersten Platz einnahm. Horacio Verbitsky, El juguete rabioso del doctor Glock, El Cohete a la Luna, 19.12.2018
(9) El Destape Web, 26.12.2016.
(10) Das Ölunternehmen OPS reichte 2016 ein Insolvenzverfahren ein, in dessen Verlauf eine Erpressung begann. Im Februar 2018 wurde der Besitzer Cifuentes von zwei Mittelsmännern zu einem Treffen mit dem „Anwalt“ Marcelo D’Alessio geführt, der für die Benennung von Anwälten und Absprachen mit den Richtern 1,2 Mio. U$D verlangte. D’Alessio trieb Cifuentes in die Enge durch Telefonanrufe, WhatsApps und sogar die Drohung, einem seiner Kinder Drogen unterzuschieben, wenn er sich nicht bereit erklärte zu zahlen. Das wichtigste Ziel war jedoch OPS am Ende gegen einen Spotpreis zu kaufen. https://www.pagina12.com.ar/183764-sirenas-armas-y-extorsion
(11) Linker Flügel der peronistischen Bewegung, der sich in den 1970er zur Stadtguerilla-Organisation entwickelte. CFK gehörte zum politischen Flügel der Montoneros.
(12) Die haushaltspolitische Anpassung basiert im Wesentlichen auf einer Reduzierung der Investitionen und der Subventionen sowie der Personaleinstellung im öffentlichen Dienst und dem Einfrieren der Reallöhne. Die Vereinbarungen des IWF-Abkommens wirken sich durch die Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und Massenentlassungen in der Privatwirtschaft rezessiv aus. Der dadurch bedingte Rückgang der Inlandsnachfrage beeinträchtigt die produktiven Investitionen.
(13) Alberto Nisman beschuldigte CFK, die Aufklärung des Attentats gegen die Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) vertuschen zu wollen.
(14) Kirchners Kinder werden nicht verschont. Der Richter Julián Ercolini beschuldigte Florencia Kirchner der illegalen Vereinigung der Familie am 27. Oktober 2010 beigetreten zu sein. Dieser Tag war der Todestag von Néstor Kirchner, wodurch seine Tochter zwangsläufig seine Erbin wurde.
(15) Geburtstag ihres verstorbenen Mannes Néstor Kirchner.
(16) Der Richter wird von Regierungsmitgliedern und der hegemonischen Presse angegriffen. Der Präsident selbst bat öffentlich um einen politischen Prozess gegen den Richter, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen.
(17) Marcelo D´Alessio war bis zu seiner Festnahme ein häufiger Gast der Medien, wo er sich als Sicherheits- und Drogenhandelsexperte ausgab. Gelegentlich behauptete er auch, dass er DEA-Agent ist (Drug Enforcement Administration).
(18) Fotokopien mehrerer nicht vorhandener Notizhefte, dessen angeblicher Autor Oscar Centeno ist — ehemaliger Fahrer des Sekretärs des Ministers für Bundesplanung Julio de Vido (2003-2015). Laut seiner Aussage hätte er fast zwölf Jahre lang in den Notizheften Uhrzeiten, vermutete Geldsummen (die er nie sah) und sogar das Gewicht der Geldtaschen mit Bestechungsgeldern niedergeschrieben.
(19) DEA: Drug Enforcement Administration ist eine US-amerikanische, dem Justizministerium der Vereinigten Staaten unterstellte Strafverfolgungsbehörde mit Hauptsitz in Arlington, Virginia deren Ziel es ist, die illegale Herstellung von Drogen und den Drogenhandel in den USA zu unterbinden.
(20) Bei dem Bombenanschlag auf die AMIA waren 1994 85 Personen getötet und über 300 verletzt worden
(21) Asociación Mutual Israelita Argentina.
(22) Am 21. März 2019 hat der Bundesgerichtshof von Buenos Aires das Urteil von Sebastián Casanello bestätigt.
(23) Agencia Federal de Inteligencia (Bundesnachrichtendienst).
(24) Laut dem Richter Ramos Padilla scheint es, dass Guijo [die Expertin] unter möglicher Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes wesentliche Beiträge zum illegalen Spionagemanöver geleistet hat, um die Aussagen von Fariña mit dem Ziel zu konstruieren, verschiedene Exfunktionäre vermeintlich in Straftaten zu verwickeln. https://noticias.perfil.com/2019/05/06/caso-dalessio-ramos-padilla-llamo-a-indagatoria-a-los-ex-abogados-de-leonardo-farina/
(25) Prado ist, laut ihm, ein Freund des aktuellen Justizministers Germán Garavano, der Ministerin des Obersten Gerichtshofs Elena Highton und des Bundesrichters Julián Ercolini, eines weiteren Richters, der Fälle gegen CFK bearbeitet. Er kennt sie alle seit er Fortbildungsseminare hierzulande gab, um die argentinische Justiz an die amerikanische anzupassen. Mit dem Programm „Justice in Change“ (2002-2012) sollten Instrumente aus den Justizsystem der USA auf Argentinien übertragen werden. Im Wahlkampf 2015 kündigte Macri an, dass er die rechtliche Figur des Kronzeugen in Korruptionsfällen einführen würde, was im Oktober 2016 geschah, ein in den USA übliches Instrument.
(26) Confederación General de Trabajadores.
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Quelle: https://www.rubikon.news/artikel/weinen-um-argentinien