Redebeitrag der Kampagne „Justice für Mohamed“ | Demo 15.08.2020
Hallo! Viele von euch/viele von Ihnen, haben vermutlich gehört, dass Mohammed Idrissi am 18.06. in Gröpelingen durch die Polizei erschossen wurde. Vielen von euch/von Ihnen haben vielleicht schon mitbekommen, dass wir die Kampagne „Justice for Mohamed“ gegründet haben, um den Mord an Mohamed Idrissi anzuklagen. Wir sind ein Zusammenschluss aus unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen, rassismus-kritischen Gruppen und den Angehörigen von Mohamed Idrissi. Aber vielleicht wisst ihr/wissen Sie, nicht genau, warum wir diese Kampagne ins Leben gerufen haben. Deshalb möchten wir heute erklären, warum wir darauf bestehen, dass die Wahrheit über das, was am 18. Juni in Gröpelingen geschehen ist, ans Licht kommt. Und: Wir möchten dafür werben, dass auch andere sich unserer Kampagne anschließen. Auf zwei Fragen möchten wir deshalb heute antworten: Warum sprechen wir von Gerechtigkeit? Und: Warum seid ihr unsere Adressat*innen? Als Kampagne „Justice for Mohamed“ haben wir uns zwei grundsätzliche Ziele gesetzt: Erstens wollen wir Gerechtigkeit. Und zweitens wollen wir sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiert – dass nie wieder eine Person durch die Polizei ermordet wird. Und beides – also Gerechtigkeit und ein „Nie wieder!“ – hängen unmittelbar zusammen. Denn wir erreichen keine Gerechtigkeit, wenn wir nicht aufklären können, wie es zu den polizeilichen Todesschüssen gekommen ist. Wir erreichen keine Gerechtigkeit, wenn wir nicht die Wahrheit ans Licht bringen, wenn wir uns nicht bewusst machen, worin das Problem liegt. Und um es vorweg zu nehmen: Das Problem liegt nicht nur darin, dass vier Polizist*innen Mohamed in seinem Hinterhof in Gröpelingen die Enge getrieben, die Situation komplett eskaliert und ihn am Ende erschossen haben. Der Fehler liegt – wie so oft – in den staatlichen Strukturen und den gesellschaftlichen Mechanismen, die diese Tötung erst möglich gemacht haben. Aber das führt auch dazu, dass viele Menschen oft die Augen vor diesen gewaltvollen Strukturen und deren Folgen verschließen. Mohameds Tod steht in einer tragischen Reihe von über 160 migrantischen Menschen, von People of Color, von Schwarzen Menschen, die von der deutschen Polizei seit 1990 auf die eine oder andere Weise zu Tode gebracht worden sind. Nur das öffentliche Aussprechen dieser Wahrheit und die Aufklärung dieser Morde kann uns eine Garantie dafür geben, dass so etwas nie wieder passiert. Nur so können wir Gerechtigkeit schaffen. Wenn wir von „Mord“ sprechen, meinen wir damit natürlich nicht, dass wir simple „Rache „wollen.
Wir wissen: Weder die – wenig wahrscheinliche – Verurteilung von den Polizeibeamt*innen, die für Mohameds Tod verantwortlich sind, noch deren bis heute an keiner Stelle erfolgte öffentliche Verantwortungsübernahme –, bringt Mohamed wieder ins Leben zurück. Aber wir wissen auch: Es sind die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in denen ein Leben wie das von Mohamed Idrissi nicht den gleichen Wert hat wie das anderer Menschen. Verhältnisse, in denen die Menschenwürde der einen nicht in gleichem Maße geachtet wird wie die Würde anderer. Diese Bedingungen wollen wir ihrer Unsichtbarkeit entreißen, auf diese Bedingungen zeigen wir mit dem Finger – diese Normalität der gewaltvollen Verhältnisse klagen wir an! Mohamed war vor vielen Jahren nach Bremen migriert, er war erwerbslos, er lebte in einem „armen“ Stadtviertel, er war nicht mehr jung und er war psychisch erkrankt. Auf viele der 160 Menschen, die in den letzten dreißig Jahren in Deutschland von der Polizei getötet wurden, treffen mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls einiger dieser Faktoren zu. Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele Menschen auf unterschiedlichste Weise diskriminiert werden. Alltags-Rassismus und institutioneller Rassismus ist eine davon. Viele Menschen werden an den Rand der Gesellschaft getrieben und sind gezwungen, unter schlechten, unter unwürdigen Bedingungen zu leben. So werden Probleme geschaffen, so werden bereits bestehende Probleme weiter verschärft. Viele Menschen haben weder die Möglichkeiten noch die Privilegien derjenigen, die zur weißen Mehrheitsgesellschaft gezählt werden. Viele Marginalisierte, also Menschen „am Rand“, sind daher einer besonderen Gefährdung ausgesetzt – sei es durch die gewaltvolle Normalität der Verhältnisse, sei es, dass ihr Leben als weniger wert gilt, sei es, dass sie zum Ziel von Polizeigewalt oder gar polizeilichen Todesschüssen werden. Und oft genug wird selbst nach ihrem Tod ihr Leben als „nicht gleichwertig“, ihre Tötung als „unwichtig“ erachtet – oder sie gerät sogar in Vergessenheit. Aber wir wollen und wir werden nicht vergessen, wie es die Mehrheit in diesem Land tut. Wir wollen, dass jede Person in Freiheit und in Würde und mit den gleichen Rechten in dieser Gesellschaft leben kann – das ist der Ausgangspunkt unserer Kampagne „Gerechtigkeit für Mohamed“!
Nun zur zweiten Frage: Warum seid ihr unsere Adressat*innen, wieso sprechen wir euch an? Ihr seid unser Adressat*innen, weil wir nicht der Meinung sind, dass der Staat, dass die staatlichen Institutionen unsere Hauptansprechpartner*innen sind. Denn die Hauptaufgabe staatlicher Institutionen ist es, die bestehende Ordnung zu „schützen“. Staatliche Strukturen wie Parlamente, Polizeien, Justiz, Verwaltung – sie haben alle zum Ziel, die beschriebenen Gewaltverhältnisse aufrechtzuerhalten. Sie aufrechtzuerhalten mit all den Diskriminierungen, Entrechtungen und der Unterdrückung, einschließlich brutaler Polizeigewalt – und das im Endeffekt um jeden Preis. Damit sind diejenigen Menschen die Hauptzielgruppe unserer Kampagne, die ein freiheitliches Bewusstsein haben und für die Würde aller Menschen eintreten. Dabei beziehen wir uns vor allem auf diejenigen, die – aus unterschiedlichen Gründen – an die Ränder der Gesellschaft gedrängt werden oder davon bedroht sind. Wir beziehen uns auf diejenigen, die durch die gewaltvollen Verhältnisse gefährdet sind, auf diejenigen, die den Folgen von Diskriminierung und struktureller Gewalt am meisten ausgesetzt sind. Denn sie sind, wir sind, diejenigen, die gute Gründe haben, sich gegen alle Formen der Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen – weil sie, weil wir, von der Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nur profitieren können. Und selbstverständlich beziehen wir uns auch auf diejenigen aus der Mehrheitsgesellschaft, die sich ihrer unberechtigten Privilegien bewusst sind. Auf diejenigen, die wissen, dass „Freiheit“ nur die Freiheit aller bedeuten kann. Auf diejenigen, die wissen, dass die Verteidigung dieser Freiheit bedeutet, für die Freiheit aller Menschen zu kämpfen. Deshalb laden wir als Kampagne alle in diesem Sinne frei denkenden Menschen und besonders die von Diskriminierung und Unterdrückung Betroffenen, ein, sich nicht mit weniger als der Wahrheit zufrieden zu geben. Wir laden euch ein, für Gerechtigkeit, Freiheit und gleiche Rechte zu kämpfen. Denn das sind die wichtigsten Elemente einer Gesellschaft – und sie werden uns nicht geschenkt, sondern sie müssen in einem gemeinsamen Prozess erstritten werden. Die Kampagne für Gerechtigkeit für Mohammed Idrissi ist Teil dieses Kampfes. Euer Platz ist deshalb nicht auf der Seite derjenigen, die die bestehenden Gewaltverhältnisse „schützen“ und verwalten. Euer Platz ist hier bei uns !!Denn einen Finger können sie brechen – aber eine Faust nicht!
Foto: freiesicht.org