Neuer Nationalismus und der Hass auf den Westen sind logische Folgen von Jahrzehnten imperialer Kriegs- und Ausplünderungspolitik.
Der chinesische Außenminister Wang Yi betonte auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom 15. Februar die dringende Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit, „um eine gemeinsame Zukunft aufzubauen“. Er forderte den Westen auf, von seiner Überlegenheits-Attitüde Abstand zu nehmen und seine Voreingenommenheit gegenüber China aufzugeben. Da dürfte er angesichts der personellen Zusammensetzung der Konferenz vergebens hoffen. Die Vertreter der USA und ihrer Verbündeten träumen noch immer davon, weiter auf der Welle der Imperialismus-Euphorie des späten 20. Jahrhunderts surfen und auf den Rest der Welt wie auf einen riesigen Hinterhof hinabsehen zu können. Der Begriff „Westlessness“, der in der Folge des zunehmenden Bedeutungsverlusts des US-Imperiums aufkam, ist nur das Symptom einer langen, selbstverschuldeten Entwicklung.
Der chinesische Außenminister Wang Yi hielt am 15. Februar 2020 auf der 56. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) eine Rede.
Es war sehr aufschlussreich, Mimik und Gestik der, meist westlichen, sogenannten „internationalen Entscheidungsträger“ zu betrachten, während sie mit einem Anflug von Melodramatik, Widerwillen oder Nostalgie über die sogenannte „Westlessness“ (deutsch etwa „Verlust des Westens“, Anmerkung der Übersetzerin, (1)) diskutierten.
„Westlessness“ klingt wie eines dieser verkrampften Konzepte, die einer Katerstimmung nach einer durchzechten Nacht im Pariser Künstlerviertel der 70er Jahre entsprungen scheinen. In der Theorie — aber nicht in der französischen Theorie — soll „Westlessness“ im Zeitalter von WhatsApp ein Defizit an überparteilicher Zusammenarbeit bedeuten, um den drängendsten Bedrohungen der „internationalen Ordnung“ — oder (Un-)Ordnung — zu begegnen, während zugleich der Nationalismus, der als engstirnige populistische Bewegung verspottet wird, vorherrsche.
Doch was München tatsächlich offenlegte, war die tiefe — westliche — Sehnsucht nach jenen überschäumenden Tagen des humanitären Imperialismus, in denen der Nationalismus in all seinen Facetten als der Schurke dargestellt werden konnte, der den unerbittlichen Vormarsch der profitablen, neokolonialen ewigen Kriege behindere.
Die Organisatoren der MSC — ein mächtiger atlantischer Zusammenschluss — strengten sich sehr an, die Diskussionen durch Betonung der Notwendigkeit des Multilateralismus zu manipulieren, so dass sie eine ganze Latte von Missständen — von der unkontrollierten Migration bis zum „Hirntod“ der NATO — als direkte Folge „des Aufstiegs eines illiberalen und nationalistischen Lagers in der westlichen Welt“ verbuchen konnten. So, als ob dies ein Amoklauf wäre, der von einer allmächtigen Hydra mit den Köpfen von Bannon, Bolsonaro und Orban verübt würde.
Der Mut, sich einzugestehen, dass verschiedene nationalistische Gegenschläge auch als Reaktion auf die gnadenlose westliche Ausplünderung des globalen Südens durch heiße und kalte Kriege sowie durch finanzielle und unternehmerische Ausbeutung angesehen werden können, liegt diesen, den Westen für das Beste haltenden Köpfen in München fern.
Wie auch immer, hier ist der Link zum MSC-Bericht. Nur zwei Sätze darin reichen schon aus, um das MSC-Spiel zu durchschauen:
„In der Ära nach dem Kalten Krieg stand es den westlich geführten Koalitionen frei, fast überall einzugreifen. Die meiste Zeit gab es Unterstützung im UN-Sicherheitsrat, und wann immer eine militärische Intervention eingeleitet wurde, genoss der Westen fast unangefochtene Bewegungsfreiheit für das Militär.“
Da haben wir’s. Das waren die Tage, an denen die NATO völlig ungestraft Serbien bombardieren, einen Krieg gegen Afghanistan kläglich verlieren, Libyen in eine Milizenhölle verwandeln und unzählige Interventionen im gesamten Süden der Erde planen konnte. Und natürlich hatte das nichts damit zu tun, dass die Bombardierten und Angegriffenen gezwungen waren, als Flüchtlinge in Europa Zuflucht zu suchen.
Der Westen ist besser
In München kam die südkoreanische Außenministerin Kang Kyung-wha diesem Punkt ziemlich nahe, als sie sagte, sie finde „Westlessness“ als Thema recht marginal. Sie betonte, dass der Multilateralismus ein asiatisches Merkmal sei, womit sie das Thema auf die ASEAN-Staaten (den Verband Südostasiatischer Nationen) ausweitete.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow war mit seiner gewohnten Finesse schärfer und bemerkte, wie „die Struktur der Rivalität des Kalten Krieges in Europa neu geschaffen wird.“ Lawrow war ein Meister des Euphemismus, als er feststellte, wie „eskalierende Spannungen, die nach Osten vorrückende militärische Infrastruktur der NATO, Militärübungen von beispielloser Tragweite nahe der russischen Grenze und das übermäßige Aufblähen der Verteidigungsbudgets alle zusammen vor allem Unvorhersehbarkeit erzeugen.“
Doch es war der chinesische Staatskommissar und Außenminister Wang Yi, der die Sache wirklich auf den Punkt brachte. Wang Yi betonte, dass „die Stärkung der globalen Governance und der internationalen Koordination gerade jetzt dringend erforderlich ist“, und sagte:
„Wir müssen die Spaltung zwischen Ost und West überwinden und über den Unterschied zwischen dem Süden und dem Norden hinausgehen, um eine Weltgemeinschaft mit gemeinsamer Zukunft für die Menschheit aufzubauen.“
„Weltgemeinschaft mit gemeinsamer Zukunft“ mag zwar die Standardterminologie von Peking sein, aber sie hat eine grundlegende Bedeutung, da sie das chinesische Konzept des Multilateralismus verkörpert, das besagt, dass kein einzelner Staat Vorrang hat und alle Nationen die gleichen Rechte haben.
Wang ging noch weiter: Der Westen — mit oder ohne „Westlessness“ — sollte sich von seiner unbewussten Mentalität der zivilisatorischen Überlegenheit befreien, seine Voreingenommenheit gegenüber China aufgeben und „die Entwicklung und Wiederbelebung einer Nation aus dem Osten mit einem anderen System als dem des Westens akzeptieren und begrüßen.“ Wang ist als Diplomat natürlich erfahren genug, um zu wissen, dass dies nicht passieren wird.
Wang gelang es auch, die Augenbrauen der „Westlessness“-Zuhörer auf geradezu alarmierende Höhen zu heben, als er noch einmal betonte, dass die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China vertieft werden würde — neben dem Ausloten von „Wegen der friedlichen Koexistenz“ mit den USA und der vertieften Zusammenarbeit mit Europa.
Was von dem so genannten „Systemführer“ in München zu erwarten war, war durchaus vorhersehbar. Und es wurde vom derzeitigen Chef des Pentagon, Mark Esper, einem weiteren Washingtoner Drehtür-Praktiker, auch skriptgetreu vorgetragen.
Die Bedrohung des 21. Jahrhunderts
Alles, worüber das Pentagon gerne spricht und diskutiert, wurde offengelegt. China sei nichts anderes als eine wachsende Bedrohung für die Weltordnung — die von Washington diktierte „Weltordnung“. China stehle westliches Know-how, schüchtere alle seine kleineren und schwächeren Nachbarn ein, suche seinen „Vorteil mit allen Mitteln und um jeden Preis.“
Als ob es einer Erinnerung für dieses gut informierte Publikum bedurft hätte, wurde China erneut an die Spitze der „Bedrohungen“ des Pentagon gesetzt, gefolgt von Russland, den „Schurkenstaaten“ Iran und Nordkorea und „extremistischen Gruppen.“ Niemand fragte, ob Al Kaida in Syrien auch Teil dieser Liste ist.
Die „Kommunistische Partei und ihre angeschlossenen Organe, einschließlich der Volksbefreiungsarmee“ wurden beschuldigt, „zunehmend an Schauplätzen außerhalb der Grenzen Chinas, auch in Europa, zu operieren.“ Dabei weiß doch jeder, dass nur eine „unentbehrliche Nation“ befugt ist, „an Schauplätzen außerhalb ihrer Grenzen“ zu operieren, um andere in die Demokratie zu bombardieren.
Kein Wunder, dass Wang gezwungen war, all dies als „Lüge“ zu bezeichnen:
„Die Grundursache all dieser Probleme und Fragen ist, dass die USA die rasche Entwicklung und Verjüngung Chinas nicht sehen wollen, und noch weniger würden sie den Erfolg eines sozialistischen Landes akzeptieren wollen.“
Am Ende ist München also in den Zickenkrieg zerfallen, der den Rest des Jahrhunderts beherrschen wird. Da Europa de facto irrelevant und die EU den Konzepten der NATO untergeordnet ist, ist die „Westlessness“ in der Tat nur ein leeres, verkrampftes Konzept: Die gesamte Realität ist durch die toxische Dynamik des Aufstiegs Chinas und des Niedergangs der USA bedingt.
Die unbezähmbare Maria Sacharowa (Anmerkung der Übersetzerin: die Sprecherin des russischen Außenministeriums) hat es wieder einmal auf den Punkt gebracht:
„Sie sprachen von diesem Land (China) als einer Bedrohung für die ganze Menschheit. Sie sagten, Chinas Politik sei die Bedrohung des 21. Jahrhunderts. Ich habe hingegen das Gefühl, dass wir insbesondere durch die Reden auf der Münchner Konferenz die Wiederbelebung neuer kolonialer Ansätze erleben, als ob der Westen es nicht mehr für eine Schande hält, den Geist des Kolonialismus durch die Spaltung von Menschen, Nationen und Ländern wieder wachzurufen.“
Ein absoluter Höhepunkt der MSC war, als die Diplomatin Fu Ying, die Vorsitzende für auswärtige Angelegenheiten des Nationalen Volkskongresses, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, mit einer einfachen Frage demaskierte:
„Glauben Sie wirklich, dass das demokratische System so zerbrechlich ist, dass es durch Huawei bedroht werden kann?“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Anmerkung der Übersetzerin: Das wurde ja wirklich unter diesem Begriff (oder auch „verlorener Westen“) diskutiert, siehe https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/westlessness-muenchner-sicherheitskonferenz-china-europa-usa-100.html und https://www.tagesspiegel.de/politik/muenchener-sicherheitskonferenz-auf-der-suche-nach-dem-verlorenen-westen/25548580.html
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Munich conference reveals East-West divide“. Er wurde von Angelika Eberl aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
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