Einerseits sind die Gewehrläufe heiß, andererseits läuft die diplomatische Hetzjagd auf Syrien wieder auf Hochtouren. Der Sonderbeauftragte der USA für Syrien, James Jeffrey besuchte im Februar 2020 mehrere Male die Türkei und sprach sich für die Unterstützung der Türkei im Idlib-Konflikt aus. Er redete von der Möglichkeit die Al Nusra und den Al Qaida-Ableger, Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) aus der Liste der Terror-Organisationen herauszunehmen. Darüber, dass die HTS vom IS abstammt, verliert er kein Wort. Der Chef der HTS, Mohammed al- Julani wurde ursprünglich vom IS nach Idlib geschickt, schloss sich dort zunächst der Al Nusra an und gründete schließlich die HTS. Als er im Februar 2019 bei einem Angriff verletzt wurde, brachte man ihn in die Türkei, um ihn dort wieder zusammen zu flicken.
Nach dem letzten Besuch von James Jeffrey drohte Erdogan mit härterem Vorgehen gegen die syrische Armee. Der Verteidigungsminister der Türkei rief Nato und EU zur Unterstützung der Türkei auf. Die Aussagen seitens Nato und USA, sich hinter die Türkei zu stellen, bleiben zunächst auf der politischen Ebene, auf eine militärische Unterstützung durch die NATO kann die Türkei nicht hoffen.
Aber dann und wann lassen die USA mal die Sau raus und gehen auf Provokation. Der 12. Februar 2020 war so ein Fall, dem die westlichen Medien jedoch keine Aufmerksamkeit schenkte. In Qamischli in Nord-Syrien wich eine US-Patrouille von ihrer Route ab und versuchte einen Kontrollposten der syrischen Armee zu passieren. Die US-Soldaten wurden an der Weiterfahrt gehindert. Während der darauf folgenden Auseinandersetzung zwischen US- und syrischen Soldaten, bildete sich eine Menschenmenge der lokalen Bevölkerung und beschimpfte die US Soldaten „was wollt ihr hier, haut ab in eure Heimat“. Die Situation eskalierte, Steine flogen auf die US-Fahrzeuge und schließlich eröffneten die US-Soldaten das Feuer. Ein Zivilist starb vor Ort und ein weiterer wurde schwer verletzt. Eine russische Patrouille kam schließlich zur Hilfe und beruhigte die Beteiligten. Die Amerikaner zogen unter dem Schutz der russischen Patrouille ab.
Dies war kein zufälliges Ereignis, die USA wollten damit den im Syrienkrieg Beteiligten zeigen, dass sie noch mitten im Geschehen sind. Dieser Vorfall ereignete sich am ersten Tag des Treffens der NATO-Verteidigungsminister vom 12./13. Februar in Brüssel. Dort erhielt die Türkei nicht die gewünschte Unterstützung der NATO-Staaten.
Die USA ist weit weg, die EU auch nicht in Sicht, die Türkei steht allein…
Erdogan wiederholte am 14.02.20 seine Drohungen gegen Syrien. Dieses Mal sagte er “wir können nicht ruhig schlafen bis wir Syrien von den terroristischen Organisationen und dem syrischen Regime befreit haben“. Sein Partner von der nationalistischen Partei MHP geht noch einen Schritt weiter und verlangt die Übernahme von Damaskus. Und die Chefin des MHP-Ablegers, Iyi-Partei rief Erdogan dazu auf “nicht so viel zu reden, sondern endlich zu handeln“. Der Rest der Opposition, wie z.B. die Sozialdemokraten schwiegen zunächst.
Der tiefe Staat, den Erdogan vergeblich unter seine Kontrolle bringen wollte, was jedoch scheiterte, sitzt ihm nun im Nacken. Seitdem der Bericht der amerikanischen Denkfabrik Rand Corporation für das Pentagon veröffentlicht wurde, gibt es Gerüchte über einen möglichen Militärputsch in der Türkei. Die Rand Corporation berichtet von der in der türkischen Armee herrschenden Unzufriedenheit der Offiziere. Dieser Zustand der Armee ist schon seit längerem bekannt, nach der “Bereinigung“, also der Verhaftung von tausenden Offizieren und Soldaten mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung, gibt es personelle Engpässe. Dies ist den USA offenbar zu spät aufgefallen. Es gibt genügend Anzeichen dafür, dass der Tiefe Staat die Armee unter Kontrolle hat, ein Putsch zu diesem Zeitpunkt also niemandem nützt. Erdogan wird damit unter Druck gesetzt und aus der Ferne gelenkt. Offensichtlich klappt es auch. Der tiefe Staat zwingt Erdogan sich für die USA und die Nato zu entscheiden. Es ist aber nicht einfach, egal für welche “Seite“ sich Erdogan entscheidet, er muss die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen tragen, abgesehen von den militärischen. Bei einer militärischen Eskalation in Idlib mit Beteiligung der großen Akteure, ist der Krisenherd weit weg von deren Heimat, aber direkt vor der Tür der Türkei.
Erdogan hätte spätestens als Obama die Ausbildung und Bewaffnung der Dschihadisten in der Türkei verwarf und alle Gelder strich, klar sein müssen, dass die USA nur noch einen Stellvertreter Krieg in Syrien führen würden. Die gut ausgebildeten und mit modernen Waffen ausgestatteten Dschihadisten liefen damals zur Al Nusra, der jetzigen HTS, über.
Die Türkei hat seit 2018 Beobachtungsposten in Idlib errichtet, die nach dem Vormarsch der syrischen Armee nun teilweise hinter den Frontlinien liegen. Was wollen sie dort beobachten? Und auch folgende Punkte sind zu beachten:
Erstens; warum hat die türkische Armee die terroristischen Organisationen, wie von Erdogan angekündigt, bislang nicht bekämpft? Stattdessen werden diese Gruppen weiterhin mit allen Mittel unterstützt.
Zweitens; Erdogan hat immer noch keine plausible Begründung für seine Forderung, die syrische Armee solle sich hinter die türkischen Beobachtungsposten zurückziehen, abgegeben. Diese Gebiete sind mittlerweile von allen dschihadistischen Gruppen befreit.
Drittens; wieso kümmert sich die türkische Armee nicht darum die von den HTS-Dschihadisten blockierten humanitären Korridore zur Evakuierung der Zivilbevölkerung zu öffnen, wenn es doch angeblich um den Schutz der Flüchtlinge geht?
Viertens; die Verlegung dschihadistischer Gruppen nach Libyen erwies sich als schwieriger als zunächst angenommen. Zumal die HTS-Dschihadisten sich nicht alles vorschreiben lassen und der Westen dieses Vorhaben blockiert und sogar mit einer Klage vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag droht.
Fünftens; der militärisch-industrielle Komplex der Türkei braucht einen Krieg, und Syrien wäre geeignet, um ihre Waffen zu testen und Werbung zu betreiben.
Sechstens; man muss sich darüber klar sein, dass die Türkei unabhängig von den westlichen imperialen Mächten nicht handeln kann. Einige Ausrutscher werden geduldet bzw. erlaubt, wie z.B. die Annährung an Russland mit dem Kauf von S400 Abwehrsystemen oder der Bau der Turk-Stream-Pipeline. Dies sind nur kurzzeitige taktische und strategische Partnerschaften. Aber im Ganzen stimmt die Harmonie zwischen der Türkei und den USA und der NATO. Der Verkauf türkischer Waffen und von der Türkei geführte Kriege gefährden die Beziehungen mit diesen Mächten kaum.
Die sogenannte Partnerschaft der Türkei mit Russland bezog sich nur auf kurzfristige Tagespolitik, beide Parteien wissen, dass Russland die Interessen des Staats Syrien garantiert und Erdogan die Interessen der Dschihadisten vertritt. Die Russen haben langfristige Pläne und setzen diese in Idlib nun um. Erdogan wusste das und tut jetzt so als ob dies unerwartet käme. Nun die USA und die Nato zur Hilfe zu rufen ist sinnlos, hier hat er sich verkalkuliert. Erdogans Plan für Idlib war klar. Bei einer Befriedung Syriens hat er ein Problem, was soll er mit den Dschihadisten anfangen? Sie werden alle in die Türkei geschoben werden. Ein Krieg zwischen der Türkei und Syrien ist riskant. Sein russischer “Noch-Partner“ unterstützt Syrien und hat die Lufthoheit über das Gebiet. Nach den Erklärungen der russischen Seite wird der Kampf gegen die Dschihadisten mit aller Härte fortgeführt. Ob Erdogan sein Vorhaben, die Dschihadisten in Idlib zu halten, trotzdem verwirklichen kann ist ungewiss. Bislang sind 11 türkische Beobachtungsposten umzingelt, was wird mit den dort stationierten Soldaten? Werden sie im Falle eines Krieges als potenzielle Kriegsgefangene ihrem Schicksal überlassen?
Ein Krieg scheint unausweichlich zu sein. Die Türkei muss entweder gegen Syrien in den Krieg ziehen oder die Dschihadisten bekämpfen und ihre Grenzen dicht machen, was hieße, dass die Dschihadisten von beiden Seiten umzingelt wären. Dies würde wiederum den in der Türkei lebenden dschihadistischen Kämpfern gar nicht gefallen.
Eine andere Möglichkeit wäre es, wenn sich die, auf der Liste der terroristischen Organisationen stehende, HTS auflösen würde und die Kämpfer sich Erdogans “syrisch nationaler Armee“ anschließen würden. Die Türkei versucht schon seit längerem den HTS “umzuwandeln“: einfach den Namen ändern und weiter kämpfen. Vielleicht lässt sich dies nach der letzten Eskalation mit Russland realisieren.
Es gab bereits entsprechende Gespräche zwischen dem türkischen Geheimdienst (MIT), der HTS und der von der Türkei gegründete syrischen nationale Armee (SNA). Die Türkei schlug dem HTS vor, sich aufzulösen und an die SNA anzuschließen. Die hohen Funktionäre sowie der Chef der Organisation Mohammed al- Julani sollten nach Afrin ziehen und unter der Schirmherrschaft des türkischen Staates weiter kämpfen.
Mit diesem Schachzug wollte die Türkei Russland austricksen, wäre sie doch so Russlands Forderungen des Sotchi-Abkommens – “Bekämpfung des Terrors“ und Trennung der radikalen von den “gemäßigten“ Gruppen – nachgekommen. Gut gedacht, aber die HTS lehnte ab. Ob es funktioniert hätte ist eine andere Frage.
Erdogan drohte der HTS daraufhin und ließ durch seinen Verteidigungsminister Hulusi Akar verkünden „Es wird hart gegen diejenigen vorgegangen, die den Waffenstillstand nicht einhalten…“. Nur wird er die Drohung nicht umsetzen können. Die Türkei hat 7.000 Soldaten in Idlib während ein Vielfaches an HTS-Kämpfern vor Ort ist, die sich zudem in der Region besser auskennen; und welche Waffen ihnen zur Verfügung stehen, weiß die Türkei am besten, schließlich wurden die HTS-Dschihadisten ja von der Türkei mit Waffen ausgestattet. Vielleicht gelingt es der Türkei die ein oder andere kleinere Dschihadisten-Gruppe, die sich in den vergangenen Jahren der HTS angeschlossen hat, von dieser zu trennen, und die “Arbeit“ von den Russen oder der syrischen Armee “erledigen“ lassen.
Andere Dschihadisten-Ableger der Al-Qaida scheinen unter der Kontrolle des türkischen Geheimdiensts MIT zu stehen, dessen Befehle sofort umgesetzt werden. Nach den ermunternden Aussagen von USA, England und der BRD sprach auch Erdogan erneut Drohungen aus „Eines Nachts marschieren wir in Idlib ein“, woraufhin syrische Stellungen an mehreren Orten von unter Führung des HTS stehenden dschihadistischen Gruppen mit Artillerie-Unterstützung der Türkei angegriffen wurden. Und auch russische Stellungen wurden unter Beschuss genommen. Drohnen- und Raketen-Angriffe auf die Zivilbevölkerung konnten größtenteils von der syrischen Flugabwehr abgefangen werden. Dieses, vom Westen ignorierte, Kriegsverbrechen der Allianz der Dschihadisten, lief nach dem Motto “solange das Verbrechen unsere westlichen Ziele verfolgt, habt ihr nichts zu befürchten“.
Ähnlich verhält es sich mit Festnahmen und dann Freilassung von IS-Funktionären in der Türkei. Am 17.02.2020 wurde in Bursa der Henker des IS festgenommen, er war in mehreren Hinrichtungsvideos des IS zu sehen. Wie auch bei allen anderen Fällen, fragt niemand wie es sein kann, dass dieser Mann seit Jahren in der Türkei lebte und bei einem kommunalen Gaswerk angestellt war. Wenn er nicht lange festgehalten bzw. inhaftiert wird, wäre dies keine Überraschung. Dieser Mann war 2016 Henker in Dair ez Zor, bis die syrische Armee das Gebiet befreite. Das sagt alles, schließlich haben die Amerikaner den Dschihadisten nicht nur freies Geleit gewährt, sondern auch viele von ihnen ausgeflogen. Nun tauchen sie wieder auf, wie in Afrin und Nord Syrien bei der freien syrischen Armee “der Türkei“.
Die vom Westen angeprangerte humanitäre Katastrophe fand in den Jahren 2011 bis 2015 statt, damals wie heute gehen die Verbrechen der nach wie vor als “Rebellen“ bezeichneten Dschihadisten weiter. Im Westen hört man nur, dass Tausende Flüchtlinge in die Türkei fliehen. Wie viele davon Syrer sind bzw. von woher sie nach Syrien gekommen sind, wird nicht erwähnt, ebenso wenig wie die Blockade von mittlerweile 6 humanitären Korridoren durch Dschihadisten.
Die USA zwingen die Türkei den Krieg in Syrien so lange wie möglich aufrecht zu erhalten, damit sie ihr Ziel Syrien ökonomisch zu vernichten, politisch zu teilen und leichter beherrschbar zu machen doch noch erreichen.
Update:
Inzwischen wurden auf mehrere Stellungen von Dschihadisten und der türkischen Armee Luftangriffe geflogen. Zwei türkische Soldaten sind gestorben und fünf wurden verletzt. Die Türkei hat die USA um Stationierung von Patriot Raketen gebeten, was abgelehnt wurde.
Auch haben sich die Sozialdemokraten CHP nun zu Idlib geäußert. In einer Erklärung heißt es; “die türkische Bevölkerung ist gegen den Krieg in Syrien, wir glauben, dass Frieden mit Syrien immer noch möglich ist. Wir müssen die Souveränität von Syrien anerkennen und ihnen helfen ihr Land von den Terroristen zu befreien. Die Türkei soll von einem Regime Change absehen.“
Der Außenminister der Türkei Cavusoglu bestätigte, dass Russland der Türkei eine Landkarte vorgelegt habe, wie es in Idlib weiter gehen soll. Die Landkarte sieht nur einen schmalen Korridor entlang der türkischen Grenze vor, in den sich die türkische Armee und die Dschihadisten zurückziehen sollen. Die Türkei lehnte dies ab.
Fast täglich fordert Russland die Türkei auf, die Angriffe auf Syrien und die Unterstützung sowie Bewaffnung der Dschihadisten zu unterlassen. Die Türkei liefert den Dschihadisten Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und hunderte Lastwagen mit Munition. Unzählige Fotos von den Fahrzeugen und der Munition mit der Aufschrift “Made in Turkey“ werden von den Dschihadisten in den sozialen Medien veröffentlicht.
Verfasst für freiesicht.org