Der HintergrundVor ein paar Wochen hat in der Stadt Bremen eine Demonstration gegen die rassistischen Morde in Hanau stattgefunden, welche von der Gruppe Migrantifa organisiert wurde. Kurz vor dem Ende der Demo gab es einen Redebeitrag, in welchem die Sprecherin den Versuch der Linkspartei Bremen kritisierte, die Veranstaltung auf Twitter für sich zu vereinnahmen. Dabei rief die Sprecherin zwei Mitglieder der Partei dazu auf, sich auf der Bühne für das Verhalten ihrer Partei verantwortlich zu erklären. Als sie dies verweigerten, wurden sie von der Sprecherin und einigen Teilnehmer*innen der Demo als Feiglinge beschimpft und die Rufe auch von einigen der Organisator*innen beklatscht. Nach diesem Vorfall wurde die organisierende Gruppe von einigen linken Aktivist*innen dafür kritisiert, nicht nur keinen Versuch zur Moderation der Eskalation gemacht zu haben, sondern durch das eigene Verhalten dem Geschehenen zuzustimmen. Es entstand eine Erwartungshaltung an die Gruppe Migrantifa den Vorfall zu erklären und sich klar zu positionieren. Daraufhin veröffentlichte die Gruppe eine Stellungnahme, in welcher sie eine eigene Perspektive auf den Vorfall gab und sowohl den Vorfall selbst, als auch die eigene Haltung dazu verteidigte. (Link zur Stellungnahme[2])
Dieser Artikel befasst sich mit einer Kritik dieser Stellungnahme und versucht dabei die diskursiven und theoretischen Grundlagen solcher Rechtfertigungen ans Licht zu bringen und sie herauszufordern. Obwohl die Behandlung dieses Vorfalls wie eine weitere vergebliche Streitigkeit innerhalb der linksradikalen Szene erscheinen mag, geht die Motivation für dieses Papier jedoch über eine Kritik des konkreten Vorfalls hinaus. Das Ziel ist, einen politischen und diskursiven Ansatz („Identitätspolitik“) zu kritisieren, dessen Entwicklung meines Erachtens nach das Potenzial für die Bildung unabhängiger Bewegungen und Organisationen von Immigrant*innen und POCs in dieser Gesellschaft untergraben kann. Und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der die historische Notwendigkeit solcher Organisierungen offensichtlicher ist denn je und ihre Etablierung materiell und intellektuell möglicher ist als in der Vergangenheit. Mit diesem Text möchte ich daher einen Beitrag zum kritischen Dialog zwischen Immigrant*innen über ihre politische Präsenz in dieser Gesellschaft leisten.
Erläuterung: Zur Vereinfachung werden in diesem Text die Worte Immigrant*innen, Asylsuchenden, Geflüchtete, Schwarze, POCs usw. schlicht mit Immigrant*innen oder POCs bezeichnet, obwohl durch diese Gleichsetzung viele Aspekte leider vernachlässigt werden.
1. Die Position der Immigrant*in
Was Machtkritik aus der Sicht einer Immigrant*in relevant und wichtig macht, ist nicht seine*ihre minderwertige Position oder seine*ihre inhärente Subjektivität innerhalb der rassistischen Verhältnisse. Die Relevanz beruht viel mehr auf der Tatsache, dass Immigrant*innen in solchen strukturellen Verhältnissen einen „Standpunkt“ entwickeln können, welcher ein kritisches Verständnis sowie eine Sensibilität gegenüber der rassistischen Unterdrückungen und Diskriminierung mit sich bringt. Dieser Standpunkt, der für den Kampf gegen Rassismus von großer Bedeutung ist, ist bei Immigrant*innen viel eher und ausgeprägter zu erwarten als bei anderen.[3] Die mögliche (und nicht notwendige) Entstehung dieses kritischen Standpunktes beruht auf der Existenz und dem ununterbrochenen Funktionieren der vorherrschenden Mechanismen, die die Immigrant*innen in eine bestimmte soziale und gesellschaftliche Position bringen und sie dadurch bestimmten Lebenserfahrungen von Diskriminierung und Unterdrückung aussetzen. Diese soziale Position allein garantiert jedoch noch weder die endgültige Entfaltung und Manifestation der beschriebenen kritischen Sensibilität, noch die Richtigkeit der Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen und praktischen Orientierungen, die sich aus dieser kritischen Sensibilität ergeben. Mit anderen Worten: Die soziale Position von Immigrant*innen kann zwar helfen die Wahrheit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen, führt aber nicht notwendigerweise zur Verwirklichung einer wahrheitstragenden Perspektive und eines befreienden politischen Subjekts. In der Tat werden die Qualität des Standpunkts (Beziehung zur Wahrheit), sowie die politische Subjektivität von Immigrant*innen durch ihrer sozialen- und Klassenposition, ihren Lebensgeschichten, ihren Beziehungen zu bestehenden Machtverhältnissen und ihren bewussten (oder auferlegten) politischen und ideologischen Entscheidungen bestimmt.
Die Tatsache, dass die Zugehörigkeit einer Immigrant*in zu einer machtorientierten politischen Partei mit verborgenen rassistischen Tendenzen, ihr befreiendes politisches Potenzial untergräbt, bedeutet nicht, dass die Kritik, welche von außerparlamentarisch agierenden Immigrant*innen bezüglich rassistischer Herrschaft geäußert wird, automatisch korrekt ist. Sich in der Situation der Unterdrückten (u.a. Gegenstand rassistischer Unterdrückung) zu befinden, ermöglicht es uns prinzipiell (aber nicht unbedingt) einige strukturelle Mechanismen besser zu verstehen. Gleichzeitig fordert es uns insbesondere dazu auf, eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung dieser rassistischen Mechanismen zu übernehmen oder zumindest die Stimme und Sprache unserer Situation und Forderungen zu sein. All dies versetzt uns aber weder in die Position des Wahrheitsmonopols oder der unbedingten Legitimität unserer politischen Praxen, noch versetzt es die anderen in die Position potenzieller Feinde oder Wahrheitsfremden.
2. Personalisierung der Kritik statt Kritik an Strukturen
Im Zusammenhang mit diesem Thema stoßen wir bei diesem konkreten Vorfall auf zwei Arten der Kritik: Die Kritik der Organisator*innen der Demo an dem Vereinnahmungsversuch der Linkspartei (eine langjährige Tendenz, der viele linke Aktivist*innen zu Recht entgegenwirken wollen) und die Kritik der Sprecherin und einiger Demo-Teilnehmer*innen an den sich auf der Demonstration befindenden Mitgliedern der Linkspartei, die ich als „Personalisierung der Strukturkritik“ bezeichne (und welche – wie sich herausstellte – nicht weit von Rufmord und der öffentlichen Zerstörung der Person entfernt ist). Diese zweite Art von Kritik, wurde wiederum von einigen Aktivist*innen kritisiert, worauf die Migrantifa-Bremen durch ihre Stellungnahme reagiert hat.
Ein Großteil der Stellungnahme weicht vom Hauptthema der Kritik an der Haltung und Handlung der Gruppe während der Demonstration ab und konzentriert sich auf die Kritik an dem autoritären und monopolistischen Verhalten der Linkspartei. Meiner Meinung nach wird damit versucht, eine Deckung zu schaffen, um die eigenen ungerechten Handlungen zu rechtfertigen, da ein großer Teil der Leser*innen (linksradikale Aktivist*innen) diesem Teil der Aussage sowieso zustimmen werden. Die Kritik an den monopolistischen Praxen der Linkspartei ist jedoch nicht spezifisch für eine bestimmte Strömung innerhalb der außerparlamentarischen Linken [4]. Beziehungsweise, um die Problematik dieses Verhaltens zu sehen und zu kritisieren, ist die antirassistische Perspektive von Immigrant*innen nicht die einzig mögliche und notwendige Perspektive. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, könnte die Notwendigkeit einer kritischen Konfrontation mit der monopolistischen Haltung der Linkspartei aus antirassistischer Sicht den Ansatz einer Personalisierung dieser Konfrontation im öffentlichen Raum nicht rechtfertigen.[5]
In einem Abschnitt der Stellungnahme wird erklärt, dass die Benennung der Parteimitglieder mit Namen nur mit ihrer politischen Person zu tun hätte. Diejenige, die mitten in der Demonstration stehend beim Namen genannt, vor der Öffentlichkeit herausgefordert und (gewollt oder ungewollt) verachtet und gedemütigt wird, ist jedoch nicht der reine Körper ihrer Parteipersönlichkeit, als ob dieser von der Gesamtheit ihrer Persönlichkeit, ihren Gefühlen und Emotionen abstrahierbar wäre. Sie ist viel mehr ein Mensch mit all den emotionalen, psychologischen und politischen Verstrickungen, die sie dazu gebracht haben, ihre Solidarität mit dieser Demonstration auszudrücken (obwohl die einfachste Interpretation darin bestehen könnte, diese Präsenz auf eine bloße scheinheilige Solidaritätsbekundung zu reduzieren). Zu sagen, dass man sich mit dem politischen Charakter dieser Person befasst[6], impliziert, falls es nicht nur ein Spiel mit Worten ist, ein höchst formalistisches Verständnis von und Herangehensweise an den politischen Kampf.
Lasst uns zur Verdeutlichung einen einfachen Vergleich anstellen: Während einer Protestaktion wird die Leiterin einer Regierungsbehörde vor ihrem Bürogebäude, unter Nennung ihres Namens, kritisiert. Ist das nicht ein typisches Beispiel für eine Personalisierung der Kritik (des Kampfes)? Meiner Meinung nach nein. Denn gemäß des Inhalts und des Plans der Protestaktion war bereits allen, einschließlich der zuständigen Beamtin, bekannt, dass die unter ihrer Aufsicht stehende Institution an diesem Tag auf die Demonstrant*innen reagieren muss. Diese Adressierung wird zu einer symbolischen Tat gegen die Institution, weil diese Adressierung vor einem institutionellen Gebäude stattfindet, in welchem die kritisierten Richtlinien umgesetzt wurden und weil die Leiterin der Behörde in ihrer Funktion für die von ihr ausgehenden Richtlinien verantwortlich ist. Auf der anderen Seite passiert folgendes: Eine Person, welche Mitglied der Linkspartei ist und sich aus welchem Grund auch immer solidarisch mit der Demonstration zeigt, wird unter Nennung ihres Namens (von der Bühne, nicht auf Augenhöhe) auf die Bühne gerufen und es wird darauf bestanden, dass diese Person auf die gegen ihre Partei erhobenen Vorwürfe reagiert. Auf ihre verzweifelte Verweigerung wird von einigen mit dem Schimpfwort „Feigling“ reagiert, während andere das Geschehen klatschend begleiten. All das sieht mehr aus wie eine Szene aus einem gewalttätigen Film, als eine befreiende politische Kritik oder Haltung. (Trotz dessen bleibt die Organisator*innen-Gruppe still und versucht darüber hinaus später das Geschehene durch eine Stellungnahme zu rechtfertigen.) Hier geht es nicht nur um einen Rufmord, sondern um die emotionale und psychologische Zerstörung eines Menschen, indem sie vor vielen Menschen in eine Position der Verzweiflung und Hilflosigkeit versetzt wird[7].
Das Ignorieren bzw. das Übersehen dieses Unterschieds in den menschlichen Aspekten des Themas kann zu einem politischen Formalismus führen (oder darin verwurzelt sein), dessen Gefahren hinter der Attraktivität seiner Radikalität verborgen werden[8]. Solche Tendenzen, besonders wenn sie von einem einseitigen Bestehen auf die eigene Legitimität begleitet werden, können gegenüber den Konsequenzen des eigenen Handelns unsensibel machen und in Extremfällen die aus den Handlungen resultierende Gewalt normalisieren oder sogar glorifizieren. Dementsprechend ist die Grundlage für diese Kritik an dem Vorfall nicht nur die Tatsache, dass die geschädigte Person selbst eine Frau oder selbst eine Immigrantin ist (was natürlich auch wichtige und kritische Faktoren darstellen). Die Hauptbasis dieser Kritik ist vielmehr eine Kritik an der Gewalt, die hinter diesem Verhalten steckt, sowie an der neuen fragwürdigen Rechtfertigung[9], die zur Normalisierung und Verallgemeinerung dieses Ansatzes führen kann.
3. Politische Identität oder Identitätspolitik?
Die Frage ist hier, was die Gruppe wirklich daran hinderte, den Personalisierungsansatz in ihrer kritischen Konfrontation mit der Linkspartei problematisch zu sehen? (In der Tat ging sie einen Schritt weiter und verteidigte diese Aktion vollständig.) Auf den ersten Blick tendiert man dazu anzunehmen, dass die Weigerung, Kritik anzunehmen, auf die emotionale Reaktion und die hintergründigen Spannungen zurückzuführen wäre oder mit dem üblichen Phänomen des Gruppenegoismus zusammenhängt. Ich glaube jedoch nicht, dass diese Elemente hier entscheidend waren, denn die zur Verteidigung abgegebene Stellungnahme enthält diskursive und theoretische Elemente, die dafür sprechen, dass die Hintergründe des Vorfalls und der Stellungnahme über einen Zufall und Sturheit beim Eingestehen eines Fehlers hinausgehen. Diese Erklärung spiegelt meines Erachtens einige der Grundüberzeugungen der Identitätspolitik wieder, auf deren Grundlagen die Gruppe vermutlich gegründet worden ist.
Die Verbindung zwischen diesem Ansatz und dem diskutierten Vorfall besteht darin, dass Identitätspolitik bezüglich ihrer Grundlagen und Ursprünge tiefgreifend auf der Formalisierung des politischen Verständnisses und Personalisierung des politischen Handelns beruht. Eine ausführliche Darstellung des Entstehungskontextes und der Ursprünge identitätspolitischer Ansätze würde über den Rahmen dieses Artikels hinaus gehen. Ich möchte nur kurz einige Eckpunkte nennen, die meines Erachtens eine wichtige Rolle in der Entstehung und Entwicklung identitätspolitischer Ansätze gespielt haben.
Identitätspolitik ist ein historisches Produkt des Übergangs von fordistischen Massengesellschaften zum Zeitalter der postfordistischen Ökonomie. Mit dem Aufstieg der neoliberalen Ideologie und ihrer politischen und kulturellen Mechanismen und dem Niedergang von massenorientierten (und homogenen) politischen Organisationen, sozialistischer Utopie und politischem Kollektivismus wurde das (von Massenbindungen und makrosozialen Kontexten losgelöste) Individuum ins Zentrum der politischen Sphäre gesetzt. Dies zeigt sich u.a. durch die Artikulierung des Slogans „consumer sovereignity“ mit der herrschenden Vision der „individueller Auswahl“. Identitätspolitik ist in diesem Sinne eine ideologische Reaktion auf einige Entwicklungen innerhalb und zwischen den spät-kapitalistischen Gesellschaften[10], aus denen letztendlich das Zeitalter des Neoliberalismus entstanden und weitgehend etabiliert worden ist. In diesem Zeitalter wird die Individualisierung des Politischen und Sozialen zunehmend mit einer systematischen Entpolitisierung der Öffentlichkeit durchgesetzt.
Da der Neoliberalismus in Bezug auf einige ideologische Grundlagen (insbesondere die Behauptung der unersetzbaren Position des Individuums) erhebliche Überschneidungen mit postmodernistischen und poststrukturalistischen Lehren aufweist[11], leitet der linke Aktivismus seine sprachlichen Werkzeuge und politische Theorie aus mehr oder weniger denselben Quellen ab. Zumal das historische Versagen der traditionellen sozialistischen Ideologie und ihrer autoritären Organisationen und Herangehensweisen zu einer Hegemonie der postmodernistischen und poststrukturalistischen Lehren geführt hat. So wird das Politische im Wesentlichen auf der Grundlage der Differenz (zwischen individuellen Akteuren) gebildet, während der Begriff Mikropolitik seine materielle Übersetzung in der Politik der ersten Person findet. Auf der anderen Seite stärken und füttern die positivistischen Grundannahmen des Neoliberalismus all diejenigen Tendenzen, die die soziale Realität als getrennte Fakten und Bereiche betrachten. Dies führt dazu, dass Ereignisse getrennt von den möglichen Wurzeln (also strukturellen Ursachen) vorwiegend auf der Ebene der „Phänomene“ betrachtet und behandelt werden. Daraus ist in der politischen Sphäre u.a. auch ein Verständnis und eine Herangehensweise der „Politik der Unmittelbarkeit“ entstanden, die wiederum mit den Personen-zentrierten Ansätzen zusammenhängt.
Mittlerweile haben die Auswirkungen technologischer Innovation im Bereich Konsum und individuellem Leben und insbesondere die Verbreitung der digitalen Kommunikation im Cyberspace beispiellose Möglichkeiten für individuellen Aktivismus und sogar individuelle Repräsentation (darunter auch Selbstdarstellung) geschaffen und dadurch auch mehr materiellen Boden für Identitätspolitik zur Verfügung gestellt. So wie in der vorherrschenden Ideologie Erfolg oder Misserfolg nur individuelle Angelegenheiten sind, ist der politische Kampf im Kontext identitätspolitischer Ansätze ganz individuell oder personenorientiert und legt den Schwerpunkt auf die Differenzen, die ein Individuum vom anderen unterscheiden.
Deshalb werden in der Identitätspolitik einerseits sprachliche und symbolische Elemente und Handlungen als äußerst wichtig betrachtet und andererseits steht der*die Einzelne im Zentrum der Politik (wobei seine*ihre Unterschiede in den Vordergrund gerückt werden). Aus diesen Gründen wird die Hermeneutik der symbolischen Handlungen zum wichtigsten Mittel der politischen Interpretation und Orientierung und alternatives politisches Handeln fokussiert sich auf das sprachliche Verhalten und wird oft auf „Political Correctness“[12] reduziert. Gleichzeitig werden direkte individuelle Reaktionen oder auf das Individuum zentrierte Handlungen als alternative Politik glorifiziert. Selbst wenn im diskursiven Rahmen der Identitätspolitik die Notwendigkeit der Bekämpfung des strukturellen Rassismus benannt wird, besteht die Praxis in der Haupttendez aus personenzentrierten Konfrontationen, d.h. der Platzierung von Individuen als Vertreter*innen von Strukturen. Dies kann nicht zufällig sein, da sich die Identitätspolitik unweigerlich von der Opposition gegen die „Anderen“ ernährt und der*die Andere deshalb (um ausreichend zur Reaktion anzuregen) so greifbar und menschlich wie möglich sein muss. Daher müssen die Anderen Absicht und Emotionalität besitzen, welche bei den Strukturen aufgrund ihrer Abstraktheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschen fehlen. Aus diesem Grund ist in denjenigen antirassistischen Ansätzen, welche auf identitätspolitische Grundsätze aufbauen[13] auch kaum von Klasse und Klassenpolitik die Rede. Obwohl seit dem Aufkommen des schwarzen Feminismus die Verflechtung von Unterdrückungen aufgrund von gender, class und race zunehmend innerhalb der fortschrittlichen sozialen Bewegung bekannt geworden ist.
Es ist klar, dass die Suche nach einer Identität oder der Wunsch nach ihrer sozialen Anerkennung ein starker Impuls für individuelle und kollektive Entwicklungen ist und in der Tat ein unvermeidlicher Teil der Entwicklung eines politischen Bewusstseins und des Empowerments einer Person oder einer Gruppe. In diesem Sinne ist die Suche nach einer Identität ein notwendiger Ausgangspunkt für die kollektive Interaktion und Mobilisierung, sowie für die politische Organisierung und es gibt im Grunde kein Entrinnen davon. Was wir jedoch Identitätspolitik nennen, ist insofern problematisch und destruktiv, als dass sie nicht auf eine Perspektive abzielt, die über diese soziale Anerkennung der Identität hinausgeht. Und so beschränkt sie ihre politischen Kämpfe auf die Stärkung und Festigung eigener Identität, ohne die notwendigen Implikationen des Universalismus für die Überwindung der Engpässe der “Identität-Isolation” anzuerkennen und in ihren Ansatz einzubeziehen. Deshalb, in Abwesenheit dialektischer Verhältnisse zwischen Partikularismus und Universalismus, kann die Identitätspolitik letztendlich die Kampfpotentiale bestimmter Gruppen der Unterdrückten untergraben und sogar die bestehenden Klüfte innerhalb der Unterdrückten sowie ihrer politischen Subjekten vergrößern/vertiefen. Identitätspolitik kultiviert kaum eine kritische Herangehensweise an das ganze System, das die Identitätskonflikte oder die hierarchischen Identitätsverhältnisse und die entsprechenden Unterdrückungen und Diskriminierungen reproduziert. Das lässt sich auf die postmodernistischen und poststrukturalistischen theoretischen Grundlagen (sowie die verborgenen positivistischen Vorannahmen) dieses Ansatzes zurückführen, in denen es keine solche Allgemeinheit („Totality“), bzw. kein solches Gesamtsystem gibt. Die soziale Welt ist vielmehr nur das Produkt der zufälligen Handlungen von verstreuten (und oft nicht miteinander verbundenen) historischen Mechanismen und Faktoren. Folglich konzentriert sich die politische Handlung auf die Mikropolitik in die verstreuten Teilbereichskämpfe. Identitätspolitik kann daher keine Antwort auf den strukturellen Rassismus sein, der mit den heutigen kapitalistischen Verhältnissen verwoben ist[14]. Zumal er selbst ein historisches Produkt der zunehmenden Entfremdung, Entpolitisierung und Individualisierung ist, die die Entwicklung des Kapitalismus den Gesellschaften im Zeitalter neoliberaler Herrschaft auferlegt hat.
Schlussbemerkungen
Ich bin der Überzeugung, dass Kritik inhaltlich keine Grenzen kennt, aber methodisch sicherlich Grenzen hat, von denen eine der wichtigsten die persönliche Zerstörung eines kritisierten Menschens in der Öffentlichkeit ist[15]. Die Personalisierung der politischen Kritik, die aus einem formalistischen Verständnis des politischen Handelns resultiert, erkennt diese Grenze nicht an. Die Herausforderung bei diesem Problem besteht also in der Analyse der theoretischen Ursprünge und diskursiven Bestandteile, die diesen Formalismus formen und reproduzieren. Neben einer Art des Formalismus, der in der bürgerlichen Politik zu finden ist, gibt es auch im Bereich der linken Politik eine klare Tendez zum Formalismus. Sie zeigt sich häufig in identitätspolitischen Ansätzen, deren Entstehung und Erweiterung wiederum in einigen historischen Zusammenhängen begründet ist, welche in diesem Artikel kurz dargelegt wurden.
Als linker Immigrant und POC habe ich keine Zweifel daran, dass die außerparlamentarische Organisierung der Immigrant*innen eine notwendige Vorraussetzung zum Kampf gegen die Mechanismen der Herrschaft und Unterdrückung in dieser Gesellschaft ist. Aber gleichzeitig sehe ich im politischen Formalismus und in der Identitätspolitik nicht den richtigen Weg zum Aufbau dieses Kampfes (deshalb ist meine Position bezüglich des Vorfalls auf der genannten Demonstration eine völlig andere, als die in der Stellungnahme der Organisator*innen-Gruppe Migrantifa formulierte). Diese kritische Positionierung reicht neben den anderen aus der Sicht von POCs geäußerten/veröffentlichten Kritikpunkten[16] aus, um der am Ende der Stellungnahme stehenden Behauptung zu widersprechen, dass „wir die Antwort auf ihren Rassismus sind“. Nein! Ihr seid nur eine der möglichen Reaktionen auf das strukturelle und komplexe Problem des Rassismus, nicht die endgültige Antwort. Auch wenn diese Art von Reaktion – im historischen Kontext des Höhepunktes der Identitätspolitik – derzeit viele junge Immigrant*innen und POCs anspricht und für sie legitim und attraktiv aussieht.
Sicher muss man die Bildung solcher kollektiver Bemühungen willkommen heißen, besonders weil ein kollektiver und bewusster politischer Prozess eine dialektisch „aufhebende“ Dynamik haben oder bekommen kann. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die kämpferische Auseinandersetzung mit dem strukturellen Rassismus eine weitaus komplexere, umfassendere und kohärentere Lösung erfordert als solche, welche die identitätspolitischen Ansätze anbieten können. Denn der heutige Gastgeber des Rassismus, bzw. der Kapitalismus ist zwangsläufig vielfältig verflochten, komplex und hochgradig organisiert.
* * *
[1] Der Titel verwiest auf den Titel des
berühmten Artikel von Heidi Hartmann (1979):
The Unhappy
Marriage of Marxism and Feminism: Towards a more Progressive
Union.
[2]https://twitter.com/moin_migrantifa/status/1298598005818511360
[3]Der Begriff „Standpunkt“ (Standpoint) wurde hauptsächlich von feministischen Standpunkttheoretiker*innen (Standpoint Theorists) parallel zu den politisch-theoretischen Entwicklungen der zweiten Welle der feministischen Bewegung konzipiert und entwickelt.
[4]Gleichzeitig hätte die – aus einer außerparlamentarischen Sicht geübte – Kritik der Gruppe Migrantifa an der Linkspartei akzeptabler gewirkt, wenn einige ihrer Aktivist*innen selbst keine Parteimitglieder gewesen wären.
[5]In der Sphäre der deutschen Linken herrscht eine Art extreme Passivität und Vorsicht gegenüber den diskursiven Debatten und Konflikten um Rassismus, die mit der Hegemonie des Diskurses um „Political Correctness“ zusammenhängt. Daher versuchen z.B. die weißen linken Aktivist*innen sich vorsichtigerweise so weit wie möglich aus allen Debatten und Gelegenheiten herauszuhalten, die potenziell den Vorwurf von „weiße-Deutsche“ mitbringen könnten. „Political Correctness“ als eine Praxis zielt auf der individuellen Ebene darauf hin, kritischer und bewusster gegenüber dem eigenen Verhalten auf der einen und dem herrschenden Verhalten auf der anderen Seite zu sein und auf der politischen Ebene Diskriminierte anzuerkennen und Herrschaftsmechanismen sichtbar zu machen. Allerdings führt „Political Correctness“ als Selbstzweck in diesem Kontext oft zu einer Art von unbedingter/unkritischer Akzeptanz von politischen Aussagen und Taten der Diskriminierten, um das schlechte Gewissen vom privilegiert-sein los zu werden. Es gibt auch oft übertriebene Haltungen in diese Richtung, als ob man emanzipierter wäre, je mehr unkritische Akzeptanz man zeigt. Die Autor*innen der Stellungnahme scheinen diesen vorherrschenden psycho-kulturellen Hintergrund in der linken Szene implizit zu nutzen, um die konkrete Kritik ihrer Handlung (auf der Demonstration) der weißen Vorherrschaft zuzuschreiben und sie herauszufordern. Das heißt, sie versuchen die gesellschaftliche Position, politische Kompetenz und Absichten ihrer Kritiker*innen implizit in Frage zu stellen, um den Inhalt ihrer Kritik zur Seite zu schieben. Beispielsweise wurden die Kritiker*innen in der Stellungnahme der Migrantifa als „das soziale Umfeld der Ko-Fraktionsvorsitzenden der Linken in der Bremer Bürgerschaft“ bezeichnet. Auch wurde der Inhalt der Kritik so karikaturisiert: „Es wurde von uns erwartet und so kommuniziert, der einzigen Sintezza Aktivistin unter den Redner*innen … die Bühne zu nehmen, ihr das Mikro wegzunehmen, weil sie es gewagt hat, die Fehler der Regierungspartei sichtbar zu machen“. Bei dieser Art von Ansatz (der eine Form der Einschüchterung darstellt) gibt es einen Autoritätsmechanismus, mit dem man sich auseinandersetzen sollte. Diese Auseinandersetzung ist heute besonders wichtig, weil sowohl der Staat als auch viele macht-orientierte Strömungen oder Akteure versuchen, durch dieselbe Logik die Kritiker*innen zum Schweigen erzwingen.
[6]Aus der Stellungnahme der Migranifa: „Sie wurde wortwörtlich in einer Funktion als Mitgliedes Landesvorstands (sic!), nach vorne gebeten und das nicht als einzige Person“.
[7]Nach diesem Vorfall akzeptierten einzelne Demo-Organisator*innen nicht die an sie gerichtete Aufforderung des genannten Mitglieds der Linkspartei, im Rahmen früherer persönlicher Beziehungen ihre eigene explizite oder implizite Begleitung des Vorfalls einzeln zu erklären. Diese Aufforderung wurde später sogar als ein Druckausübung aus einer Machtposition bezeichnet. Sie weigerten sich, ihr eigenes Verhalten auch auf dieser privaten und informellen Ebene zu erklären und argumentierten, dass dies eine vorherige Zusammenarbeit mit ihrer Gruppe erfordern würde. Sie selbst behaupten jedoch später in ihrer Stellungsnahme, dass die individuelle und politische Persönlichkeit eines Menschen getrennt werden könnte und dass die „politische Persönlichkeit“ jederzeit und in jedem Raum bereit sein muss, für die Leistung der eigenen politischen Organisation zu antworten.
[8]In der Stellungsnahme der Migrantifa u.a. steht: „Kritik muss nicht leise und freundlich hervorgebracht werden, um als legitim anerkannt zu werden“.
[9]Es ist verständlich, dass die Spontanität der an diesem Tag erwähnten Ereignisse der Organisationsgruppe nicht ermöglichte, gleichzeitig eine angemessene kollektive Antwort zu finden. Wenn das Thema auf diesem Niveau bleiben würde, wäre es vielleicht nicht erforderlich, diese Kritik zu schreiben. Nach diesem Vorfall wurde jedoch eine Erklärung zur Rechtfertigung und Verteidigung dieses Vorfalls verfasst.
[10]Dazu zählen unter anderem: Die zunehmenden Auswirkungen der Entfremdungs-Mechanismen; Das Wachstum der inneren Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaften (u.a. aufgrund der zunehmenden Migration/Flucht); Die Zunehme der widersprüchlichen Folgen des modernen „Nation-States“ oder die krisenhaften Folgen der nationalistischen Projekte zur Homogenisierung der Bevölkerungen, besonders in den Südlichen Ländern, nach dem Zusammenbruch der Modernisierungsprojekte der autoritären Staate; Imperialistischer Neokolonialismus im Zeitalter des Kalten Krieg und das Versagen der nationalen Befreiungsbewegungen, dessen Ausbreitung einzudämmen; Das Auftreten und die ständige Anwesenheit verschiedener Krisen und deren Auswirkungen auf die Destabilisierung des individuellen Lebens; Die existenzielle Angst vorm Leben in einem Zustand der Unsicherheit und Prekarität (insbesondere mit der Ausbreitung der Folgen neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik) und folglich die Zunahme von Unsicherheit und Misstrauen in den menschlichen und sozialen Beziehungen und folglich die Zunahme nationalistischer und chauvinistischer rechter Tendenzen; Die Zerstörung linker kollektiver Traditionen und organisierter Kämpfe/Bewegungen usw. All diese Faktoren haben dazu geführt, dass sich ein Individuum gegenüber der zunehmenden Aggression der Welt je mehr allein und machtlos fühlt. In diesem Sinne bildet sich die Identitätspolitik als eine politische Reaktion (auf die oben genannten Entwicklungen), die wie viele anderen von der Suche nach Schutz geprägt ist. Was in dieser Form der Reaktion jedoch besonders ist, ist die Suche nach (und Kampf für) soziale Anerkennung, die als ihre zentrale Antriebskraft funktioniert; weil es auch innerhalb der Unterdrückten die Hierarchie-Strukturen gibt. Allerdings basiert sich die Identitätspolitik in ihrer Praxis widersprüchlicherweise nur auf Festigung eigener Identität, wofür bestimmte Herangehensweisen und Theoriansätze üblicherweise verwendet werden.
[11]Laut Fredric Jameson ist die „Theorie der Postmoderne“ die „späte kulturelle Logik des Kapitalismus“, die das politische Unterbewusstsein der Gesellschaft prägt.
[12]Das „Political Correctness“ ist einer der moralischen Reaktionen auf eine verrückte ungerechte Welt, die je mehr zur Individualisierung der Gesellschaft und Machtlosigkeit der Menschen tendiert; Auf diesem Kontext formieren sich die Herangehenweisen, wodurch man versucht, sich als ein Individuum gegen diese Welt zu positionieren, ohne sich eine revolutionäre Änderung zu einer alternativen Welt vorstellen zu können. Eine der häufig verwendeten Formen dieses Ansatzes ist es, dass es nicht meine Aufgabe ist, die Welt zu verändern, es reicht aus, dass ich mit meiner korrekten Sprache und meinem korrekten Verhalten (nach meinen Prinzipien) von innerlichen Widersprüchen befreit und dadurch zufrieden werde. Und selbst wenn die Welt veränderlich wäre, kann dies nur so erreicht werden.
[13]Im Bereich der Bekämpfung des Rassismus stützt sich die Identitätspolitik theoretisch häufig auf Lesarten der postkolonialen Theorie. Diese Lesarten werden jedoch meistens mit poststrukturalistischen Lehren anstatt mit politischer Ökonomie artikuliert und bleiben daher im Allgemeinen im Rahmen von Diskurs-Theorie und Diskurskampf, Mikropolitik und Politik der ersten Person.
[14]Wie es Horkheimer pointiert vor dem Zweiten Weltkrieg formulierte: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte auch vom Faschismus schweigen.“
[15]Die Tatsache, dass man bewusste rassistische und sexistische Übergriffe auch unter Nennung des Namens der Täter*innen sichtbar machen soll, widerspricht dieser Kritik der Personalisierung nicht, da diese Übergriffe als bewusste Taten auf der einen Seite auf der zwischenmenschlichen Ebene stattfinden und die Veröffentlichung andererseits zum Schutz und zum Empowerment der potentiell Betroffenen beitragen kann. Dieser Ansatz der Personalisierung von Kritik und Konfrontation lässt sich jedoch nicht auf beliebige andere Praxen übertragen.
[16]Women of Colour Bremen: Von Spaltungen und solidarischen Streitkulturen: nachhallende Gedanken und Fragen zum Statement von Migrantifa Bremen – Perspektive 2.0
der einen Seite auf der zwischenmenschlichen Ebene stattfinden und die Veröffentlichung andererseits zum Schutz und zum Empowerment der potentiell Betroffenen beitragen kann. Dieser Ansatz der Personalisierung von Kritik und Konfrontation lässt sich jedoch nicht auf beliebige andere Praxen übertragen. [1]Women of Colour Bremen: Von Spaltungen und solidarischen Streitkulturen: nachhallende Gedanken und Fragen zum Statement von Migrantifa Bremen – Perspektive 2.0