Ich möchte heute einen Ausschnitt meiner Geschichte mit euch teilen. Es ist schwer für mich, darüber zu sprechen. Es ist schwer, daran zu denken. Es ist schwer, zu erinnern. Und das ist kein Zufall. Was man verdrängt, kann man nicht verurteilen. Was man verdrängt, kann man nicht anklagen. Was man verdrängt, kann man nicht bekämpfen.
Es ist kein Zufall, dass es so schwer ist, über die Dinge zu sprechen, die uns angetan werden. Wir werden stillgemacht. Die Täter leben mit der Angst, dass außer ihnen immer mindestens noch eine weitere Person weiß, was sie getan haben: Wir. Sie machen uns still, weil sie genau wissen, dass wir niemals vergessen werden, was sie uns angetan haben. Sie nennen uns Lügnerinnen. Sie werfen uns vor, dass wir übertreiben. Sie reden uns ein, wir bilden uns alles nur ein. Sie reden uns ein, wir seien zu empfindlich, wir seien verrückt, krank, dumm, schwach, selbst schuld. Sie tun alles, uns unsere eigenständige Wahrnehmung ihrer Taten zu nehmen. Denn in unserer Wahrnehmung sind sie Täter. Sie bekämpfen unsere Stimmen, gerade weil sie wissen, dass wir nicht übertreiben, dass wir nicht lügen, dass wir nicht verrückt sind. Gerade weil sie wissen, dass wir die Wahrheit sprechen, bekämpfen sie uns. Sie fürchten sich vor uns! Eine nach der anderen erheben wir unserer Stimme. Eine nach der anderen schlagen wir zurück. Sie wissen, dass sie uns nicht aufhalten können, wenn wir uns zusammentun. Und wir wissen es auch.
Die Taten eines anderen machen einen zum Opfer, das macht man nicht selbst. Ich bin zum Opfer gemacht worden. Aber ich weigere mich, mich dafür zu schämen. Ich bin nicht verantwortlich für seine Taten. Er soll sich schämen, für das was er mir angetan hat! Der Täter soll sich schämen! Ich bin Opfer und ich bin stolz. Stolz, dass ich überlebt habe. Stolz, dass ich heile. Stolz, dass ich kämpfe, gegen Typen wie ihn. Jetzt erst recht. Soll noch einer kommen und mich schwach nennen, ich weiß was ich durchgestanden habe. Ich weiß, wie schwer die Last ist, die ich trage. Ich weiß, wie stark ich bin. Es gibt nichts Stärkeres, als ein Opfer, dass überlebt, sich wieder aufbaut und aus seinem Schmerz Widerstand macht.
Wenn ich zurückblicke, gibt es vieles, was ich bereue. Ich habe viele Fehler gemacht. Ich hätte mir viel ersparen können, wenn ich besser auf mich aufgepasst hätte. Wenn ich mich besser und früher gewehrt hätte. Aber ich habe es nicht. Und das ist ok. Ich vergebe mir. Egal, wie viele Fehler ich gemacht habe. Egal, welche Fehler ich gemacht habe: Ich lasse mir nicht die Verantwortung für seine Taten zuschieben. Er allein ist verantwortlich für sein Handeln. Das Recht, sicher vor emotionalen, körperlichen oder sexualisierten Übergriffen zu sein, müssen wir uns nicht erst verdienen. Egal was wir tun. Wir haben es. Punkt.
Wenn er mit mir geredet hat, hat er mich immer zur stummen Zuhörerin seiner Heldengeschichten gemacht. Er hat erzählt und erklärt, erklärt und erzählt ohne Pause. Ich war für ihn nur Publikum. Wenn ich gesprochen habe, hat er mir nicht zugehört, und wenn ich ihm widersprochen habe, kam er gar nicht mehr klar. Also habe ich aufgehört. Irgendwann habe ich eigentlich gar nichts mehr gesagt. Ich habe meine Rolle angenommen in seinem Theater, in dem seine Geschichten spannender und seine Argumente besser waren als meine. Ich habe mich von ihm in die Rolle der stummen Zuhörerin drängen lassen. Ich habe mir meine Stimme von ihm nehmen lassen.
Ich bin zu ihm nach Hause gegangen und ich bin geblieben, obwohl ich mich gelangweilt habe. Ich bin geblieben, obwohl ich mich unwohl gefühlt habe. Ich habe Warnsignale ignoriert und bin geblieben. Ich habe meine eigenen Bedürfnisse übergangen, und meine eigene Sicherheit aufs Spiel gesetzt, weil ich dachte, dass ich nicht das Recht, habe ihn zu enttäuschen.
Ich habe mein erstes nein nicht durchgesetzt. Ich habe mein zweites nein nicht durchgesetzt, und alle, die danach kamen. Ich habe seine Manipulationen nicht durchschaut. Ich habe mein letztes nein nicht durchgesetzt und bin eingebrochen. Ich habe aufgegeben. Ich habe ja gesagt und gehofft, dass es schnell vorbeigeht. Ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe weder geschrien noch geschlagen. Ich habe in seinem Bett geschlafen und bin erst am nächsten Morgen gegangen. Ich habe verdrängt, was er getan hat. Ich habe mich dafür verantwortlich gemacht, dass es nicht schön war für mich. Ich bin ein zweites Mal zu ihm gegangen, um es besser zu machen. Ich hab‘ den Angst-Knoten in meinem Bauch ignoriert und bin trotzdem hingegangen. Habe wieder mein erstes nein nicht durchgesetzt. Bin wieder nicht gegangen. Ich habe wieder mein letztes nein nicht durchgesetzt und danach einfach gar nichts mehr gesagt. Ich habe wieder nichts getan und gewartet bis er fertig ist.
Ich habe wieder verdrängt was er getan hat. Ich habe nicht ernst genommen, dass es mir dreckig ging. Ich habe nicht ernst genommen, dass ich nachts von Vergewaltigungen träume und morgens nicht aufstehen will. Ich habe die Freude am Leben verloren. Ich habe angefangen mich selbst zu verletzen. Ich bin jeden Morgen aufgewacht und wollte nicht mehr leben. Ich bin jeden Abend eingeschlafen, und war froh, noch einen Tag geschafft zu haben.
Ich habe denen geglaubt, die mir das Gefühl gegeben haben, dass es mir schlecht geht, weil ich schwach und krank bin. Ich habe viel zu lange Menschen meine Freunde genannt, die mich stumm gemacht haben, statt zu fragen, was passiert ist. Ich habe ein Jahr gebraucht, um zu erinnern und zu benennen, dass ich vergewaltigt wurde. Ich habe heute, fast vier Jahre später, manchmal immer noch Probleme damit.
Ich hätte so viel besser machen können. Aber ich vergebe mir. Ich vergebe mir, dass ich mich nicht besser geschützt habe. Ich vergebe mir, dass ich ihn nicht aufgehalten habe. Ich vergebe mir, dass ich meine Wahrnehmung verleugnet habe. Ich vergebe mir. Er allein ist verantwortlich für seine Taten. Das Recht, sicher vor emotionalen, körperlichen oder sexualisierten Übergriffen zu sein, muss ich mir nicht erst verdienen. Egal was ich tue. Ich habe es. Punkt.
Ihm werde ich nie vergeben. Und auch wenn ich manchmal gerne würde, ich werde nie vergessen. Denn Erinnern heißt Kämpfen. Ich werde nie wieder aufhören mit dem Kämpfen. Ich werde nie wieder die Rolle der stummen Zuschauerin akzeptieren.
Also kämpfe ich, gegen ihn und jeden, der auf seiner Seite steht.
Für alles, was Menschen wie er uns genommen haben. Für alle, die nicht überlebt haben. Für alle, die ihre Stimme noch nicht gefunden haben. Für alle, die immer noch unter den Folgen leiden. Für alle, die ohne Angst vor Übergriffen leben wollen. Für jede von uns!
Quelle: https://revoltmag.org/articles/ich-werde-nie-wieder-die-rolle-der-stummen-zuschauerin-akzeptieren/