Thami Mnyele (Südafrika), Ohne Titel, Gaborone, Botswana, 1984.
Liebe Freund*innen
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research
Kleine Kinder staunen ob eines offensichtlichen Widerspruchs in kapitalistischen Gesellschaften: Warum haben wir Läden gefüllt mit Lebensmitteln und trotzdem treffen wir auf den Strassen hungernde Menschen? Diese Frage ist von immenser Wichtigkeit; aber mit der Zeit verflüchtigt sie sich im Nebel der moralischen Ambivalenz; die verschiedensten Erklärungen vernebeln die Klarheit des jugendlichen Geistes. Die verwirrendste Antwort ist die, dass hungernde Menschen nicht essen können, weil sie kein Geld haben, und aus irgendeinem Grund ist dieser Mangel an Geld – die mystischste aller menschlichen Schöpfungen – Grund genug, Menschen hungern zu lassen. Da es reichlich zu essen gibt, und da viele Menschen nicht genug Geld haben, um Lebensmittel zu kaufen, muss die Nahrung vor den hungernden Menschen geschützt werden.
Deshalb erlauben wir – wir Menschen – die Schaffung von Polizei und die Anwendung von Gewalt, um Lebensmittel gegen die Hungrigen zu verteidigen. In einem seiner frühesten journalistischen Berichte schrieb Karl Marx über die Gewalt, die gegenüber den Bäuer*innen im Rheinland angewendet wurde, die Holz sammelten, um ihre Feuer zu speisen. Die Bäuer*innen, schrieb Marx, kannten die Strafe – darunter auch die Todesstrafe – aber sie erkannten das Verbrechen einfach nicht. Weshalb werden sie geschlagen und getötet? Holz, das auf dem Waldboden liegt , aufzusammeln, kann nicht als kriminelle Handlung eingestuft werden, ebenso wenig wie das menschliche Grundbedürfnis nach Nahrung für hungernde Menschen. Und dennoch wird der soziale Reichtum in einer Gesellschaft mit verhärteten Klassenhierarchien abgeschöpft, um immer umfangreichere repressive Institutionen aufzubauen, von der Polizei bis zum Militär.
Man sollte meinen, dass inmitten einer Pandemie, wenn die Arbeitsmärkte zusammenbrechen und der Hunger zunimmt, der soziale Reichtum von der Polizei abgezweigt würde, um den Hunger zu stillen, aber so funktioniert eine Gesellschaft mit festgefahrener Klassenhierarchie nicht. Im Juli veröffentlichten die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) und andere UN-Organisationen einen Bericht – The State of Food Security and Nutrition in the World –, aus dem hervorging, dass der Trend vor 2014 zu einem Rückgang des Welthungers ging; seitdem aber sind die Zahlen drastisch gestiegen, und seit des Grossen Lockdown steigen sie exponentiell. Die Hälfte der Hungerleidenden der Welt lebt in Asien, davon die Mehrheit in Indien. Etwa drei Milliarden Menschen können sich eine gesunde Ernährung nicht leisten. Nahrungsmittellager werden nur kurzzeitig geöffnet, Hilfsgüter nur sporadisch verteilt. Wenn Menschen von der Hungerpandemie betroffen sind und auf die Strasse gehen, um Nahrung zu verlangen oder ihre Rechte zu verteidigen, sehen sie sich dem kühlen Eisen der staatlichen Repression ausgesetzt.
Im August 2020 veröffentlichte unser Büro in Südafrika das Dossier Nr. 31, ’The Politic of Blood’: Political Repression in South Africa («Die Politik des Blutes: Politische Unterdrückung in Südafrika»), ein eindrücklicher Text, der eine traurige Realität verdeutlicht: Die gewalttätigen staatlichen Institutionen, die in Zeiten der Apartheid entstanden sind, wurden nach 1994 in den post-Apartheid-Staat in Südafrika integriert. Während dieses Übergangs «wurde der von Millionen von Menschen geführte Kampf für den Aufbau demokratischer Volksmacht und partizipatorischer Formen der Demokratie reduziert auf Wahlen, Gerichte, eine freie kommerzielle Presse und die Substituierung demokratischer Formen der gesellschaftlichen Organisation durch NGOs, die heute als ‘Zivilgesellschaft’ gelten». Nach der Apartheid wurden «unabhängige Formen der Selbstorganisation und Forderungen der Bevölkerung nach mehr partizipatorischen Formen der Demokratie häufig als Straftaten geahndet». Die Situation hat sich dem Dossier zufolge so weit verschlechtert, dass in Südafrika «die Polizei Menschen tötet, von denen die überwiegende Mehrheit aus verarmten und schwarzen Menschen besteht, und zwar mit einer Pro-Kopf-Rate, die dreimal so hoch ist wie die der Polizei in den Vereinigten Staaten». Die Zahlen sind verblüffend, die Bandbreite der Gewalt schockierend.
Madelene Cronjé, New Frame (Südafrika), Die Polizei versperrt den Zugang zum Rathaus während einem Protestmarsch von Tausenden von Mitgliedern der Abahlali baseMjondolo gegen politische Unterdrückung, Durban, 8. Oktober 2018.>
In Südafrika hat die Verfolgung von Bürgerorganisationen – Gewerkschaften und Zusammenschlüsse von Slumbewohner*innen – während der Pandemie nicht nachgelassen. Fast 300.000 Menschen wurden in diesen Monaten verhaftet; öffentliche Versammlungen wurden verboten, was bedeutet, dass es für die Verbände schwierig war, Widerstand gegen die Brutalität der staatlichen Gewalt zu organisieren. Durban ist eines der Versuchsgebiete, wo die Bewegung der Slumbewohner*innen – Abahlali baseMjondolo – Landbesetzungen angeführt hat und wo die lokale Regierung mit ausufernder Gewalt gegen die Menschen vorgegangen ist. Am 28. Juli beispielsweise griff die vom Afrikanischen Nationalkongress geführte Gemeinde die eKhenana-Besetzung in Cato Manor an, einem historischen, auf Volksinitiative hin entstandenen Arbeiterviertel, in dem 1959 Frauen wie Dorothy Nyembe und Florence Mhize den Aufstand gegen den Apartheidstaat planten, der dem Afrikanischen Nationalkongress die Unterstützung der Bevölkerung einbrachte. All das ist heute vergessen, stattdessen wird – trotz gerichtlicher Anordnungen zum Schutz der Bewohner*innen – Staatsgewalt angewendet, um diese aus ihren Häusern, ihrem urbanen Landwirtschaftsprojekt und ihrer Kooperative, die ihnen Ernährungssouveränität gewährte, zu vertreiben.
Die Besetzer*innen von eKhenana trugen die Fahne von Abahlali und, als Teil ihres Ethos internationaler Solidarität, die Fahne ihrer Genossen des Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST), der landlosen Arbeiterbewegung Brasiliens. In der vergangenen Woche war in Brasilien die Rücksichtslosigkeit der staatlichen Gewalt gegen die Gemeinde Quilombo Campo Grande in voller Härte zu spüren. Nach sechzig Stunden Widerstand gegen die Militärpolizei musste die Gemeinde das aufgeben, was sie sich aufgebaut hatte. Noam Chomsky und ich schrieben eine Solidaritätsbotschaft an die Familien der Gemeinde, die hier wiedergegeben werden soll:
MST (Brasilien), Familien werden während Zwangsräumungsverfahren bei Quilombo Campo Grande in Minas Gerais mit Tränengas beschossen, 14. Juli 2020.
Solidaritätsbotschaft von Noam Chomsky und Vijay Prashad zur Zwangsvertreibung von 450 Familien aus Quilombo Campo Grande
Am 12. August schickte Gouverneur Romeu Zema von Minas Gerais die Militärpolizei, um 450 Familien aus dem seit zweiundzwanzig Jahren bestehenden Quilombo Campo Grande zu vertreiben. Drei Tage lang umstellte sie den Ort, schüchterte die Familien ein und versuchte, sie zum Verlassen ihres Landes zu zwingen, aber die landlosen Familien leisteten Widerstand. Am 14. August gelang es der Militärpolizei schliesslich unter Einsatz von Tränengas und Schallgranaten. Sie zerstörten eine Gemeinschaft, die Häuser gebaut und ökologischen Landbau betrieben hatte (einschliesslich Kaffee, der als Café Guaîi verkauft wurde). 1996 hatten die Familien, die von der Bewegung der landlosen Arbeiter (MST) organisiert worden waren, eine verlassene Zuckerplantage (Ariadnópolis, die sich im Besitz des Landwirtschaftsunternehmens der Gebrüder Azevedo befand) übernommen. Jodil Agricultural Holdings, einer der grössten Kaffeeproduzenten Brasiliens, im Besitz von João Faria da Silva, forderte die Räumung, um die Produktion der Kooperative übernehmen zu können.
Als Zeichen absoluter Demütigung zerstörten der Gouverneur und die Militärpolizei die Eduardo-Galeano-Volksschule, in der Kinder und Erwachsene unterrichtet wurden. Als Freunde von Eduardo Galeano (1940-2015), des Gewissens Südamerikas, schmerzt uns die Vertreibung und die Zerstörung aufs Tiefste.
Diese Zwangsräumung fand wenige Tage nach dem Tod von Bischof Pedro Casaldáliga (1928-2020) statt, dessen Leben ein Tribut an die Kämpfe für die Emanzipation der Armen war. Diese Zwangsräumung ist eine Beleidigung seines Andenkens, jenes Mannes, der sang:
Ich glaube an die Internationale
der erhobenen Häupter
der sich auf Augenhöhe Begegnenden
der Hand in Hand Gehenden.
So lässt es sich leben, Hand in Hand, nicht in Tränengas und Kugelregen, den die Militärpolizei auf die Bauernschaft abfeuert.
Wir verurteilen die Vertreibung der Familien sowie die Zerstörung ihres Landes und ihrer Schule. Wir stehen mit den Familien von Quilombo Campo Grande.
Benjamin Moloise, ein Fabrikarbeiter und Dichter, wurde 1955 in Alexandra in Johannesburg, Südafrika, geboren. Er trat dem damals verbotenen Afrikanischen Nationalkongress (ANC) bei und schrieb Gedichte. 1982 wurde Moloise beschuldigt, den Vollstreckungsbeamten Philipis Selepe getötet zu haben. Die ANC-Führung in Lusaka (Sambia) gestand, die Ermordung von Selepe angeordnet zu haben, sagte aber, dass Moloise ihn nicht getötet habe. Eine internationale Kampagne zur Befreiung von Moloise änderte nichts an der Entschlossenheit der Apartheidregierung, Moloise zu töten. Am Tag seiner Hinrichtung am 18. Oktober 1985 besuchte Pauline Moloise – Benjamins Mutter – ihn für zwanzig Minuten. Er sagte ihr, er habe Selepe zwar nicht getötet, aber «ich bereue meine Beteiligung nicht. Sag den Menschen, dass der Kampf weitergehen muss». Fast viertausend Menschen aus ganz Johannesburg betrauerten seinen Tod. Mayihlome, rief die Bevölkerung, ein Ruf zur Waffe, zum anhaltenden Kampf gegen Apartheid.
Kerry Ryan Chance (Südafrika), Frauen protestieren gegen Zwangsräumungen und “Umsiedlungen” zu einem neuen Wohnbauprojekt in der Hüttensiedlung von Siyanda in Durban, März 2009.
Eine Mitte Juli veröffentlichte Studie zeigte, dass zwei von fünf Erwachsenen in Südafrika angaben, dass ihr Haushalt seit der Ausgangsperre am 27. März 2020 eine Haupterwerbsquelle verloren habe. Die Auswirkungen, die dies auf den Mangel an Nahrungsmitteln hat, sind verheerend, wobei die Regierungspolitik zum Schutz der Bevölkerung vor Hunger kaum etwas ausrichtet. Anstatt bewaffnete Männer auszusenden, um die Behausungen der Menschen abzureissen und ihre Landwirtschaft zu zerstören, wäre es für den Staat weitaus sinnvoller, mit lokalen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, um die Verteilung der notwendigen Vorräte zu organisieren. An dieser Stelle werden die Dinge verwirrend: Der Schutz des Privateigentums ist für diese Staaten weitaus wichtiger als der Schutz kostbaren Lebens. «Sag den Menschen, dass der Kampf weitergehen muss», sprach Moloise, bevor er in einem kalten Gefängnis, umgeben von Jacarandabäumen, erhängt wurde.
Herzlichst,
Vijay.
Quelle: https://www.thetricontinental.org/de/newsletterissue/34-hunger-und-polizeigewalt/