Zu einer Zeit, als unbeschwertes Reisen noch möglich war, zu reichlich später Stunde … Draußen ist es längst dunkel. Lautlos, wie von Geisterhand, schieben sich die Positionslichter großer und kleiner Passagiermaschinen und Frachtflugzeuge hinter den Isolierglasscheiben des Rhein-Main-Flughafens über die Rollbahnen. Endlich an der Reihe, lege ich mein Handgepäck in die Hartschale zum Durchleuchten. Ein älterer Sicherheitsbeamter greift nach meiner Bordkarte. Als Destination sind lediglich drei Buchstaben vermerkt: GIG. Doch der Beamte weiß um ihre Bedeutung: Galeão Ilha do Governador. »Sie fliegen nach Rio?« fragt er folgerichtig. Ich bejahe. »Geschäftlich oder privat?« bohrt er nach. »In den Urlaub«, entgegne ich. So behutsam, als wäre sie eine Reliquie, legt er die Bordkarte zurück und seufzt melancholisch: »Ach ja, da wollte ich auch schon immer mal hin.«
War ich bislang noch unsicher gewesen, so ist spätestens jetzt jeder Zweifel verflogen: Trotz zahlreicher Warnungen und guter Ratschläge haben wir das richtige Urlaubsziel gewählt. Wer hatte nicht alles im Vorfeld zweifelnd gefragt und gewarnt: »Was, ihr traut euch nach Brasilien? Ins Land des Verbrechens?« Auch meine Frau hatte Bedenken: »Ausgerechnet jetzt, wo Jair Bolsonaro regiert!« Das war vor knapp einem Jahr. Geändert hat sich seither wenig: Der ultrarechte Folterverherrlicher Bolsonaro regiert nach wie vor. Zwar sind die Einwände tatsächlich eine Überlegung wert, jedoch erscheint es mir geradezu spannend, die politischen Zustände nach dem Regierungsantritt des brasilianischen Donald Trump einmal persönlich unter die Lupe zu nehmen. Und was die Frage der Kriminalitätsstatistik anbelangt, so rangiert Brasilien fast nur noch unter »ferner liefen«. Etliche lateinamerikanische Nachbarn haben dem Land den obersten Rang in der Mordstatistik längst abgelaufen – unter anderem Venezuela, El Salvador, Jamaika, Honduras, Belize, dicht gefolgt von Guatemala, Kolumbien und Mexiko.
Elende Verhältnisse
So oder so – dies waren ohnehin nicht die Gründe, warum ich meinen schon viele Jahre währenden Reisewunsch immer wieder hinausgeschoben habe. In Wahrheit hatte ich Angst, mein »Traum Brasilien« könnte sich als Illusion erweisen, zu groß könnten womöglich die Erwartungen an Land, Leute und Kultur sein. Dies zu überprüfen war längst überfällig.
Bedächtig rollt der stählerne Riesenvogel von einem Jumbojet über die Startbahn. Fast glaube ich schon, die 440 Tonnen schwere Boeing 747-8 wird sich nicht mehr in die Lüfte erheben. Knapp zwölf Stunden später, die Sonne lugt gerade erst glutrot hinter den Bergen bei Niterói hervor, setzen wir in Galeão auf der Ilha do Governador in der Bucht von Guanabara auf. Rio de Janeiro, die Sechseinhalbmillionen-Einwohner-Stadt und wohl berühmteste Metropole Lateinamerikas, erwacht gerade zum Leben.
Mit einem Linienbus geht es quer durch die nordöstlichen Stadtteile, an Industriebauten vorbei, unter Stahlbetonkolossen von Autobrücken hindurch. Immer wieder geben kleine Gassen den Blick auf Favela-Siedlungen frei – aneinandergepresste, zumeist zweigeschossige Häuser aus rohem Ziegel oder Beton, die Fenster oft ohne Glas. Wie unfertige, noch im Rohzustand befindliche Bauten. Im Morgengrauen sind kaum Menschen auf den Straßen. Alles wirkt noch still und verlassen – eine Welt des Elends, der Armut und der Tristesse. Problemlos hätte der sowjetische Film »Stalker« hier nachgestellt werden können; filmreife Kulissen sind vorhanden. Von der angeblich schönsten Stadt der Welt scheinen wir Lichtjahre entfernt. Mein »Traum Brasilien« beginnt zu bröckeln wie der graue Putz an den tristen Industriefassaden, die wir nach und nach passieren.
Eine knappe Stunde später, inzwischen bugsiert uns der Bus quer durch die zentralen Bezirke Rios, kommen wir in die besseren Viertel, umfahren den fast 40 Quadratkilometer großen Nationalpark von Tijuca. Das schon 1861 geschaffene Naturreservat ist ein quicklebendiger Urwald inmitten des ihn umgebenden Asphaltdschungels. An seinen dichten, fast undurchdringlichen Gebirgshängen leben Vogelspinnen, Kolibris, Nasen- und Ameisenbären, Gürteltiere, Kapuzineraffen, Papageien und Reptilien, wie die berüchtigte Jararaca-Lanzenotter, eine der gefürchtetsten Giftschlangen Lateinamerikas. Überragt wird der Urwald vom 710 Meter hohen Corcovado. Der Bucklige, wie er auf deutsch heißt, schultert den 30 Meter hohen Cristo Redentor. Tier und Mensch gleichermaßen segnend, breitet Christus seine Stahlbetonarme im Art-Déco-Stil über die Stadt.
Doch beileibe nicht alle Bewohner dürften seine Segnung wohltuend verspüren. Schätzungsweise 30 Prozent der Cariocas, wie sich die Einwohner Rios nennen, leben unter elenden Verhältnissen in einer der zahlreichen Favelas. Kletterpflanzen gleich schlängeln sich diese Elendssiedlungen an den Morros, den Berghängen der 1.200 Quadratkilometer großen Megacity (der Großraum Rio zählt weit über 13 Millionen Einwohner), empor. Von weitem sehen sie aus wie pittoreske Farbtupfer – ein aus der Ferne durchaus nett anzuschauender Kontrast und offenbar beliebtes Touristenmotiv auf Bildern und Mitbringseln jedweder Art.
Doch Rio wäre nicht Rio, böte die Stadt nicht auch schillerndere Seiten: Allen voran die meerseits gelegenen Viertel Barra da Tijuca, Ipanema-Leblon, Copacabana-Leme, Botafogo, Flamengo, Glória und Urca erfüllen, was ihr Nimbus verspricht: reichlich Luxus aus Glas, Stahl und Beton, der von den unaufhörlich heranschwappenden Wellen des Atlantiks sanft umspült wird. An einem Abend lassen wir uns mitten in die Bucht von Botafogo auf eine schwimmende Discoplattform schippern. Verträumt schaukeln ringsum Yachten auf den sich sanft kräuselnden Wellen, verzerren die grellbunt glitzernden Lichter der Stadt auf dem pechschwarz-ölig schimmernden Wasser. Bei Musik, Häppchen und Cocktails berauschen sich die Besserbetuchten. Auch wir sind verzaubert von den Rhythmen, der lauwarmen Brise, den betörenden Widerspiegelungen der Skyline im Januarfluss, der in Wahrheit kein Fluss ist, sondern eine riesige Meeresbucht. Gaspar de Lemos, der sie am Neujahrstag des Jahres 1502 entdeckte, glaubte, das Ende eines gewaltigen Flussdeltas vor sich zu haben. Der Irrtum klärte sich, der Name Rio de Janeiro blieb.
Anders als Rio
Nicht allein die kalten Drinks und grellen Lichter faszinieren: Ebenso beeindruckt uns die freizügige Atmosphäre. Nicht wenige schwule Paare tanzen zu den heißen Rhythmen unterhalb des Zuckerhuts und trotzen den homofeindlichen Ansichten Bolsonaros, der seinen Sohn lieber tot als schwul sähe, wie er in einem Interview bekannte. Gut möglich, dass dies nur an Rios Weltoffenheit liegt. Andernorts in Brasilien schlägt uns der konservative Wind auch schon mal etwas rauher entgegen.
Unsere nächste Station ist Salvador, die alte Sklavenmetropole und bis 1763 Hauptstadt Brasiliens. Die drittbevölkerungsreichste Stadt des Landes liegt an einer der größten Meeresbuchten am Südatlantik, der Baía de Todos os Santos, der Allerheiligenbucht. Berühmt ist sie jedoch vor allem ihrer bezaubernden Altstadt Pelourinho wegen. Vom Schandpfahl selbst, dem Pelourinho, ist nichts mehr zu sehen, dafür umso mehr von den wundervoll restaurierten bunten Herrenhäusern, den barocken Kirchen, Kathedralen und Klöstern im Centro Histórico. Doch scheint es ratsam, nicht jedes Gässchen der pittoresken Oberstadt zu betreten. Eine ältere Frau warnt uns am hellichten Tag eindringlich davor, eine kleine Straße nur wenige Schritte abseits der klassischen Touristenpfade zu nutzen, zu groß sei die Gefahr, beraubt zu werden. Ähnliches widerfährt uns unweit der Praia do Flamengo, einem kilometerlangen, palmengesäumten Sandstrand – dem wohl schönsten von Salvador. Auch hier mahnt man uns, doch besser die Hauptstraße zu nehmen.
Andererseits ist es kein Problem, auch nachts stundenlang durch die breiteren Straßen Salvadors zu laufen, und selbst in Rio bin ich mitunter im Dunkeln mutterseelenallein mit der Kamera unterwegs, um den nächtlichen Zauber der Stadt einzufangen. Zugegeben: Die Polizisten, die in den reichen Vierteln zahlreich patrouillieren, und auch der eine oder andere Einheimische beäugen mich schon mal mit einem skeptischen Blick, der Unglauben (vielleicht auch nur Mitleid) offenbart.
In Salvador gefällt uns Barra, das südlichste Viertel, mit seinen kleinen Stadtstränden, dem Leuchtturm und den netten Restaurants und Bars direkt am Meer, am besten. Es wirkt natürlicher, ist weniger museal als Pelourinho. Zudem haben wir das Glück, ein Volksfest mitzuerleben. Egal ob jung oder alt, schwarz oder weiß, Mann oder Frau: Viele sind in weiße Kostüme gekleidet und tanzen und musizieren in den Straßen, darunter besonders viele Nachfahren afrikanischer Sklaven. Überhaupt spürt man auf Schritt und Tritt die Verschmelzung der afrikanischen und portugiesischen Kultur. Es kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier das Elend bestimmend ist, dass Favelas das Stadtzentrum prägen. Daher verwundert es uns nicht, als wir beiläufig einen Schwarzen zu einem anderen sagen hörten: »Ich werde dahin gehen, wo es auf der Welt am schönsten ist: nach Europa.«
Brasilien ist riesig. Es bedeckt halb Südamerika. Seine gut achteinhalb Millionen Quadratkilometer entsprechen rund 81 Prozent der Landfläche Europas. Daher steigen wir in den nächsten Flieger, um von Bahia im Nordosten via São Paulo nach Paraná in den Südwesten des Landes zu jetten, hin zu den größten Wasserfällen der Welt. Auf einer Breite von über zweieinhalb Kilometern donnern bis zu 7.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde in die Tiefe. Ein geradezu irres Spektakel: ohrenbetäubend, gewaltig und feucht. Nicht minder imposant ist der Dschungel ringsum. Affenhorden kreischen um die Wette, Hunderte Nasenbären flitzen umher und betteln um Futter. Sogar Kaimane liegen faul in der Sonne am Wegesrand. Schilder weisen auf die Gefahren des Urwalds hin: Man solle die schmalen Pfade besser nicht verlassen: Jaguare, Anakondas, Lanzenottern, Ozelots und Kaimane sind hin und wieder hungrig (oder einfach nur schlecht drauf).
Gentrifizierte Viertel
Der Kontrast zwischen dem Naturwunder Cataratas do Iguaçu und der Hauptstadt der Region, Foz do Iguaçu, könnte kaum größer sein. Eine noch hässlichere Millionenstadt in Südamerika zu finden dürfte eine enorme Herausforderung darstellen, so eintönig, langweilig und trist wirkt Foz auf uns. Eine bloße Ansammlung von Asphalt und Beton. Die kleine Pension am Ortsrand, die wir unmittelbar neben einer Favela gebucht haben, wirkt dagegen schon fast romantisch. Ungläubig entließ uns der Taxifahrer. »Sie wollen hier wirklich aussteigen?« Bei unserer Rückfahrt zum Airport Tage später diskutierte ein Uber-Fahrer mit uns über Trump und Bolsonaro, die er als sozial engagierte und faire Politiker verehrt, und die Welt. In Deutschland hätte er nach spätestens drei Monaten ein neues Auto zusammengespart, bringt er seine Anschauungen auf den Punkt. Widerspruch ist zwecklos. Er hält uns sein Smartphone hin: »Ich weiß, wie es bei euch läuft. Hiermit bekomme ich alle Nachrichten, die ich brauche.« Er meint es todernst.
Wer sich fliegen nicht leisten kann, fährt Bus. Brasilien ist durchzogen von einem engmaschigen Netz von Buslinien. Diese sind nicht nur preiswert, sondern auch bequem. Auch wir greifen für kürzere Distanzen gern darauf zurück, fahren so nach Petropolis, Trindade und ins 250 Kilometer südwestlich von Rio gelegene Paraty, dessen historisches Zentrum mit einer geradezu bemerkenswert erhaltenen Architektur aus dem 17. Jahrhundert aufwartet. Das grobe Kopfsteinpflaster der malerischen Gassen wurde von Sklaven verlegt. Noch immer wird es von den Gezeiten überflutet – früher, um den Unrat aus der Stadt zu spülen, heute nur noch als Touristenattraktion. Daher bewegt man sich am besten barfuß oder mit »Havaianas«, also Badelatschen, durch die Gässchen.
Unsere letzte Station ist Barra da Tijuca, das modernste, zur Fußballweltmeisterschaft 2012 errichtete Viertel von Rio. Unvergesslich dessen über 14 Kilometer langer Sandstrand und die eiskalten Caipirinhas unter sengender Sonne, die für oder gegen alles gut sind: Erkältung, Hitze, politische Subordination. Im Zweifel muss man nur genügend davon trinken …
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/383875.reisereportage-traum-und-tag.html