Wirtschaft & Soziales Die Ausbeutung osteuropäischer Wanderarbeiter*innen findet wenig Aufmerksamkeit – in Bornheim war dies anders. Was folgt daraus?
Der Pulverdampf hat sich innerhalb einer Woche verzogen, die meisten rumänischen Erntehelfer*innen sind entweder zurück nach Hause gereist oder haben bei anderen Landwirtschaftsbetrieben angeheuert. Jetzt sind die 180 Wohncontainer, in denen sie in drei Zeilen übereinander gestapelt hausten – abgezäunt und von Security bewacht, versteckt, isoliert und vergessen zwischen Bahndamm, Roisdorfer Klärwerk und Friedhof -, wieder verlassen. Die Europäische Union hat dem »Bornheimer Spargel« 2014 den Titel »geschützte geografische Angabe« verliehen. Die Region zwischen Köln und Bonn ist bekannt für ihre fruchtbaren Böden, was große Chemiekonzerne wie Shell, Evonik oder LyondellBasell nicht daran hindert, diese systematisch zu verseuchen. (1) Der Beliebtheit des Spargels hat es bis jetzt nicht geschadet.
Während die EU die Bornheimer Spargelbauern und -bäuerinnen also mit einem Siegel vor unlauteren Wettbewerbern schützt, schuften diejenigen, die im Mai die Ernte einbringen, abseits öffentlicher Wahrnehmung, unbeobachtet auch vom trägen Auge des Gesetzes. Für die rumänischen Erntehelfer*innen aus verarmten Regionen wie Banat und Transsylvanien hat die EU höchstens individuelle Sonderbetreuung und Beratung in Form des Projekts »Faire Mobilität« parat: Muttersprachliche Akademiker*innen leisten individuelle Rechtsberatung und Betreuung. Gewerkschaftliche Organisierung, Proteste, Streiks und Arbeitskämpfe sind eher nicht ihr Ding.
Diesmal kam die »Faire Mobilität« zu spät. Am Freitag, den 15. Mai 2020, legten 100 bis 300 Erntehelfer*innen in Bornheim bei Bonn unter Protest die Arbeit nieder. Bereits am Montag, den 18. Mai, folgten rund 150 bis 200 Unterstützer*innen einem Aufruf anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter*innen Union Bonn (FAU) und demonstrierten vor der Unterkunft der Erntehelfer*innen. Die Mobilisierung war beeindruckend. Den Anstoß gab eine schnelle, intensive Lokalberichterstattung durch General-Anzeiger, Rheinische Post und Express, denen im Lockdown nach echten Ereignissen dürstete. Die FAU Bonn baute spontan Kontakt auf zu den Arbeiter*innen, organisierte praktische Hilfe und mobilisierte – neben vielen anderen. Kurzfristig kamen Leute aus Köln, Bonn, Düsseldorf, sogar Frankfurt und Essen zusammen, die froh waren, in Zeiten des Lockdowns einen Ansatzpunkt für sinnvolle Intervention zu finden: angewandte Solidarität, Anti-Rassismus und Arbeitskampf. Gemeinsam mit den Betroffenen zog das Protestgemisch an jenem Montag lautstark vom Container-Lager zur Zahlstelle und konnte dort durchsetzen, dass der Bonner Rechtsanwalt Harald Klinke sowie rumänisch-deutsche Übersetzer*innen die anstehenden Lohnauszahlungen begleiteten. Sie konnten verhindern, dass die Arbeiter*innen dubiose Quittungen unterzeichneten, mit denen sie weitere Forderungen abtraten.
Ein Lehrstück des institutionellen Rassismus
Der Streik war ausgebrochen, als der Bonner Insolvenzverwalter Andreas Schulte-Beckhausen, der das Pleite-Unternehmen Sabine & Claus Ritter GbR bereits seit Anfang März 2020 leitet, am Ende für einen Monat Arbeit nur 200 bis 250 Euro rausrücken wollte. Um die letzte Ernte in Zeiten von Corona noch einzubringen, hatte Schulte-Beckhausen aber für mehrere Wochen Arbeit wohl rund 2.000 Euro in Aussicht gestellt.
Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner ließ die Rumän*innen mitten im Lockdown per Sonderregel extra über Düsseldorf einfliegen. Als die Lohntüte nur ein Zehntel der erhofften Summe aufwies, platzte den Leuten der Kragen, die zuvor ohne Heizung die Eisheiligen überstehen mussten, verschimmeltes Essen serviert bekamen und neben Müllbergen wohnten, die nicht entsorgt wurden, von Infektionsschutz und Hygiene, selbst regelmäßig gereinigten sanitären Einrichtungen ganz zu schweigen. Vor allem wussten die Arbeiter*innen nicht, wie sie ohne ihren rechtmäßigen Lohn überhaupt nach Hause kommen sollten. Vielen drohte die Obdachlosigkeit.
Der Bornheimer Spargelstreik ist ein Lehrstück des industriellen und institutionellen Rassismus in Zeiten der EU-Osterweiterung, ebenso wie für plötzlich aufflammende, spontane Arbeiterproteste, die nach 120 Jahre alten syndikalistischen oder revolutionär-unionistischen Mustern verlaufen. Nur wenig unterschied das Szenario von historischen Streiks wie dem Free Speech Fight in Fresno, Kalifornien, im Jahr 1910. (2) Statt auf Seifenkisten zur Menge zu sprechen, wie es damals Joe Hill und Frank Little taten, sprechen die Wortführer*innen heute lautstark und empört in Handies, die das Geschehen auf Facebook, Youtube und Twitch in die Welt streamen. Doch so schnell die Emotionen überborden und rumänische Wanderarbeiter*innen plötzlich schwarz-rote Fahnen schwenken, so schnell zerstreuen sich die Leute auch wieder und dies – so meine Befürchtung – ohne erkennbaren Nachhall oder organisatorische Verankerung. Eine Erkenntnis, die 1910 schon frustrierte. Um das Gespenst wilder Streiks von Wanderarbeiter*innen zu bannen, setzt die EU vor allem auf Soft Power. Entstehende Risse im Herzen der EU sollen heute möglichst schnell oder sogar präventiv gekittet werden – gerne auch durch ehemals linkes, »progressives« Personal, dessen Projekte der EU-Sozialfonds und gewerkschaftsnahe Fördertöpfe recht großzügig finanzieren. (3) Schon durch deren üppig bezahlte Stellen entsteht eine scharfe Trennung zwischen Betreuer*innen und Betreuten sowie zwischen Forscher*innen und Erforschten. Die Praxis dieser Projekte verschärft diese Grenze. Es geht nicht um gemeinsame Kämpfe, Mobilisierung, gar Aufruhr – also Grenzüberschreitung -, sondern um Einhegung und Einzelfallbetreuung durch Profis. Am Ende landet alles vor Arbeitsgerichten und manche Betroffene dürfen sich über finanzielle Trostpflaster freuen. Aber es ändert sich nichts.
Was wir für die Zukunft lernen könnten
Als juristischer Nachklapp der Ereignisse in Bornheim bleiben jetzt noch rund 150 bis 200 Einzelverfahren um ausstehenden Lohn. Die FAU prüft mit Anwalt Harald Klinke außerdem, ob der Insolvenzverwalter Andreas Schulte-Beckhausen kriminell handelte. Er hatte gemeinsam mit Andreas Willems (Adwin Consulting GmbH) per Video zunächst auch deutsche Erntehelfer*innen angeworben und ihnen einen Stundenlohn von 10 Euro in Aussicht gestellt. Seine massenhafte Anwerbung aus Rumänien – trotz Pleite – wirkt wie Betrug, die Unterbringung mindestens sittenwidrig.
Es bleiben zudem – kurz skizziert -folgende Lehren:
Erstens: In Deutschland existiert eine Schattenarmee, die wesentliche Teile der Produktion stemmt. Arbeiter*innen aus Osteuropa sind anzutreffen in den Bereichen Landwirtschaft, Fleisch-Industrie, Schiffbau (Meyer-Werft), Reinigung, häusliche Pflege, Bau-Industrie. Die Arbeits- und Wohnbedingungen dieser Menschen – meist Werkverträge, Leiharbeit, Saisonarbeit – sind weitgehend unbeachtet und unbekannt. Der industrielle Rassismus besteht vor allem in systematischer Ungleichbehandlung, Ausbeutung, Rechtsnihilismus und Vertuschung.
Zweitens: Wir dürften uns nicht durch liberale Multi-Kulti-PR täuschen lassen, die für Ausbeuter*innen wie den Schweine-Baron Clemens Tönnies und viele andere inzwischen zum guten Ton gehört. Der industrielle Rassismus hat nichts gegen Ausländer*innen, solange sie brav den Platz einnehmen, der für sie vorgesehen ist. Für die Masse sieht er einen Platz ganz unten in der Verwertungskette vor.
Drittens: Diese industrielle Schattenarmee und das verschämte Verschweigen ihrer Existenz – obwohl es eigentlich alle wissen (können) – hat ihre direkten Vorläufer in der Zwangsarbeit, die im 1. Weltkrieg begann und im 2. Weltkrieg perfektioniert wurde. Danach kamen die »Fremdarbeiter«, die zu »Gastarbeitern« wurden. Heute: Werkverträge, Leiharbeit, sachgrundlose Befristung. Das Verschweigen, Verdrängen, Ignorieren ist eine überlieferte Verhaltensweise.
Viertens: Die Grundlage des industriellen Rassismus ist die Zerstörung vormals intakter Regionen: de-industrialisierte, bankrotte, privatisierte und von Land-Grabbing betroffene EU-Regionen vor allem Bulgariens und Rumäniens. Viele Obdachlose und Bettler*innen in deutschen Städten dürften eine Vorgeschichte als Wanderarbeiter*innen haben, die vom System angesogen, ausgepresst und wieder ausgespuckt wurden. Da sie als EU-Staatsbürger*innen Freizügigkeit genießen, haben sie zwar einerseits ein Recht hier zu bleiben, genießen aber andererseits viel weniger Aufmerksamkeit und Sympathie als Geflüchtete.
Fünftens: Die Behörden greifen nicht ein. Sie sehen zu, auch wenn offensichtlich rechtswidriges Verhalten, Straftaten und sogar organisierte Kriminalität selbst für Laien schon erkennbar sind. Zudem sind wichtige Kontrollinstanzen systematisch unterversorgt mit Personal und Ressourcen. Die Folge sind Rechtsnihilismus, Straflosigkeit bis hin zu mafiösen Strukturen.
Sechstens: Die EU ist ein hoch aggressives Gebilde, kein fortschrittliches Projekt. Sie verschleiert ihren ausbeuterischen, rassistischen Charakter durch Methoden der Soft Power.
Und schließlich: Wo wohnen die Wanderarbeiter*innen? Der erste Schritt, um die Verhältnisse irgendwann verändern zu können, besteht im Sichtbarmachen – wie in Bornheim etwa durch die Lokalpresse geschehen. In Zukunft wären Eigenrecherche und Kartografierung vonnöten. Die Peripherie ist derzeit unerforscht: Ostwestfalen, Niederrhein, Bornheim und so weiter. Der Schritt muss dann sein: Kontaktaufnahme mit Hilfe von Muttersprachler*innen.
Es bleibt abzuwarten, ob der Bornheimer Spargelstreik nur ein heller Moment in der Corona-Krise war, der durch das unwahrscheinliche Zusammentreffen günstiger Faktoren möglich wurde. Wünschenswert wäre das Gegenteil: Eine neue Welle sozialer Kämpfe in dieser Richtung. Lernen wir Rumänisch!
Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht.
Anmerkungen:
1) Shell betreibt in Godorf und Wesseling die größten Raffinerieanlagen Deutschlands, gebaut noch unter dem NS-Fliegergeneral Hermann Göring. Auch viele Rohre sind noch aus dem Jahr 1941. Am 30.5.2012 gab Shell bekannt, dass zuvor etwa eine Million Liter Kerosin durch eine defekte Leitung in den Boden geströmt waren. Seit 2015 warnt die Stadt Köln die Bewohner*innen der südlichen Stadtteile Rondorf, Immendorf, Hahnwald, Poll und Porz davor, das Grundwasser zu trinken oder zum Pflanzengießen zu verwenden. Es ist mit PFC verseucht und gilt als krebserregend. Ursache: unklar.
2) Fresno war ein Zentrum der kalifornischen Landwirtschaft. Die IWW setzte das Recht der freien öffentlichen Rede ab 1910 im fruchtbaren San-Joaquin-Tal durch, um Erntearbeiter*innen agitieren zu können. Matthew S. May: Hobo Orator Union. The Free Speech Fights of the Industrial Workers of the World, 1909-1916 (PDF) (Ph.D). University of Minnesota 2009, S. 51 ff.
3) Besonders gerne tragen diese Projekte das Wort »Fair« im Namen: Faire Mobilität, IG Werkfairträge, Fair im Betrieb / Work watch.