Migrantifa Garip Bali über die Pogromjahre nach der Wende, migrantische Jugendgangs und die Geschichte der Antifasist Gençlik
Gegen den deutschnationalen Rausch und die rassistische Gewaltwelle Anfang der 1990er gab es auch Gegenwehr von den bedrohten migrantischen Communities. Garip Bali, der damals aktiv war, sieht Parallelen zur Situation heute. Ein Gespräch über Militanz und migrantische Selbstorganisierung.
Ich kenne viele Menschen aus der migrantischen Community, für die das Attentat in Hanau ein Einschnitt ist. Auch wenn kaum jemand verwundert über den rassistischen Terror war, scheint es so, als gäbe es ein vor und ein nach Hanau. Was hat das rechtsterroristische Attentat mit dir gemacht?
Garip Bali: Als ich am Morgen davon erfahren habe, hat mich eine unglaubliche Wut ergriffen. Die Zunahme rassistischer Übergriffe und Anschläge insbesondere seit Chemnitz 2018, die mediale und parlamentarische Hetze und das gesellschaftliche Klima gegen Migration und Migrantinnen und dann schließlich Hanau haben mich an die Zeit Anfang der 1990er erinnert. Neben der Wut war ich aber auch schockiert, weil das seit langem Befürchtete passiert ist und so viele junge Erwachsene aus dem Leben gerissen wurden. Andererseits denkt man als Migrant aber auch daran, dass man die nächste Person sein kann, schließlich gibt es auch in Berlin Nazinetzwerke, die seit Jahren Brandanschläge verüben, ohne dass die Polizei sie aufklären konnte.
Wir sind alle sehr in Trauer um die Ermordeten. Das Gefühl von Zäsur hat aber nicht nur mit der hohen Opferzahl zu tun. Die Zäsur, die Hanau darstellen kann, ist auch eine politische Situation antirassistischer, antifaschistischer, grenzübergreifender und feministischer Solidarität, die wir heute noch organisieren müssten als Antwort auf Hanau.
Ja, wir sind keine Opfer! Das waren wir noch nie. Und wir sollten unsere Kämpfe und unseren Selbstschutz organisieren. Deshalb war es motivierend, dass direkt am Tag nach dem Attentat in über 50 Städten große Demonstrationen stattfanden. Aber es darf nicht bei einer Demo bleiben, es sollte zu einer langfristigen politischen Organisierung kommen. Auch wenn sich die Politik nach Hanau nicht verändern wird, sollten wir marginalisierte Gruppen, von Rassismus Betroffene und solidarische Linke uns auf weitere Attentate und politische Bedrohungen von rechts einstellen.
Du hast die Brandanschläge der 1990er erwähnt. Ich war damals erst elf, zwölf Jahre alt, erinnere mich aber daran, dass wir als migrantische Kids als Lebensgefühl mitgenommen haben, dass wir so sehr als Menschen zweiter Klasse diskriminiert werden, dass diese Neonazis uns das Lebensrecht nehmen wollen. Du warst damals schon älter und mitten in der Organisierung in Berlin.
Damals war ich im Verein Ada organisiert. Schwerpunktmäßig haben wir uns mit der Realität von Migranten und Geflüchteten in Deutschland auseinandergesetzt. Wir waren mehrheitlich türkeistämmige Migranten und politische Geflüchtete, die Anfang der 1980er hierher migriert waren. In den Pogromen nach der Wiedervereinigungen hat sich das kanalisiert, was wir schon vor der Wendezeit beobachtet hatten: Ein neuer deutscher Nationalismus und ein Wiedererstarken der Nazis kamen zusammen. Die Anschläge in den 1990ern waren der Höhepunkt dieser Entwicklung. Vor den Pogromen hatte sich aber schon eine Antiflüchtlingshetze entwickelt. »Das Boot ist voll«, titelte der Spiegel, die Springerpresse hetzte gegen Asylsuchende. Und Bundeskanzler Helmut Kohl sagte 1992, dass wenn man zwei Millionen Türken abschiebt, die Zahl der Arbeitslosen sich halbieren würde. Wir waren also auch damals nicht überrascht, sondern wussten von der rechten Gefahr.
Wie sahen eure Aktivitäten aus?
Wir haben damals als Ada zu den großen antifaschistischen Massenprotesten aufgerufen und einerseits quasi »Unteilbarkeit« erklärt. Andererseits haben wir uns gezielt mit Migranten in unseren Stadtteilen organisiert: Wir organisierten antifaschistische Nachbarschaftstreffen, um breit über die Frage zu diskutieren, wie wir uns gegen Brandanschläge und rechte Gewalt schützen können. Ein Resultat war, dass wir als Ada 1993 eine Demonstration in Berlin organisierten, auf der wir Waffenscheine für Migranten forderten, als Selbstschutzmaßnahme. Das hatte große Resonanz in den Medien.
Rassismus und rassistische Gewalt prägten das Leben von Migrantinnen, Schwarzen Deutschen und anderen schon vor den Pogromjahren. Schon Ende der 1980er gründenden sich Gangs von jungen Männern, nicht nur in Berlin, auch in Westdeutschland. Warum?
Ja, Mitte, Ende der 1980er gründeten sich die Jugendgangs: »36 Boys« hießen sie in Kreuzberg, in Schöneberg »Die Barbaren« und im Wedding »Panthers«. Die Gangs waren jugendkulturelle Gemeinschaften, die eine Lebensform von migrantischen Kids repräsentierten, die als zweite Generation in den westdeutschen Arbeitersiedlungen aufwuchsen und ihr Leben lang nur Ausgrenzung und Entrechtung erfahren hatten. Sie sind in Kiezen und Stadtteilen aufgewachsen, in denen zeitweise Sondergesetze gegen Migrantinnen galten, etwa die »Zuzugssperre« von 1975, in der eine »soziale Belastungsgrenze« – durch Migranten – für einige Wohngebiete deklariert wurde. Die Gesetze stigmatisierten das migrantische Leben in den Stadtteilen und ganze migrantische Bevölkerungsgruppen als Belastung und Problem.
Was machten die Jugendgangs dagegen?
Die Jugendlichen hingen in den Gangs ab und teilten dort den Alltag. Ein zentraler Punkt waren Selbstschutz und Gegenwehr gegen Nazis. Jenseits dessen waren die Gangs »unpolitisch« und auch hierarchisch und patriarchisch strukturiert. Das Motto der Gangs war, Nazis von der Straße zu fegen. Wenn man mitbekam, dass Nazis sich am Alexanderplatz treffen, dann fuhr man hin und verprügelte sie. Man konnte geschlossen als Gruppe reagieren, weil man ja ohnehin immer zusammen war.
1988 oder 1989 entwickelte sich auch eine explizite migrantisch-antifaschistische Organisierung, die sogenannte Antifasist Gençlik (Antifaschistische Jugend) in Berlin. Wie kam es dazu?
Die Antifasist Gençlik war eine selbstorganisierte Antwort auf die rassistisch-faschistische Bedrohung. Es gibt auch ein Gründungsereignis. Für den 20. April 1989, den Geburtstag von Adolf Hitler, hatten Nazis angekündigt, Migranten in Berlin anzugreifen. Diese Drohung wurde von den migrantischen Communities sehr ernst genommen. Eltern schickten ihre Kinder an diesem Tag in Kreuzberg nicht in die Schulen und Kitas. Man hatte Angst. Die Gangs und weitere Jugendliche besetzten an diesem Tag kollektiv die Straßen. Sie erklärten klipp und klar, dass sie ihre Existenz und die ihrer Freunde und Familien verteidigen werden. Gangs in 50er Gruppen gingen in ganz Berlin in den Kiezen auf die Straßen. Am Ende blieben die Nazis weg. Die Mitglieder von Antifasist Gençlik wollten die Jugendgangs politisieren und arbeiteten mit ihnen zusammen. Sie haben antifaschistische Mobilisierung vorangetrieben, Nazis gejagt und Verteidigung organisiert, aber auch ein – wenn auch kurzlebiges – Infoblatt Antifasist Haber Bülteni herausgegeben, das dem Antifa Infoblatt beigelegt wurde. Es gab eine enge Zusammenarbeit mit der autonomen Antifaszene. Einige orthodoxere Linke haben uns hingegen als »Lumpenjugend« bezeichnet.
Wie hat sich das politische Bewusstsein unter migrantischen Jugendlichen durch Antifasist Gençlik verändert?
Die Antifasist Gençlik hat zu einer Militanz des Denkens bei migrantischen Jugendlichen gegen Nazis und die herrschende Politik geführt. Die Antifa Gençlik kam genau richtig, um eine Handlungsmöglichkeit gegen die Ohnmacht durch den rechten Ton in allen Parteien und die Entrechtung, etwa die Asylrechtsverschärfung 1993, zu bieten und ein Gefühl von Würde zu erkämpfen. Nach den Brandanschlägen in Rostock und Hoyerswerda gab es eine Reihe neuer Organisierungen und Sprachformen, die Selbstermächtigung organisierten. Die Antifasist Gençlik war Teil dieser Dynamik.
Warum hat sich die Antifasist Gençlik dann zur Hochzeit der Brandanschläge 1994 aufgelöst?
Ausschlaggebend war der Tod eines Nazifunktionärs, Gerhard Kaindl von der Deutschen Liga für Volk und Heimat, bei einer Auseinandersetzung in einem Restaurant in Kreuzberg. Die darauf folgende staatliche Repression traf die Antifasist Gençlik hart. Die Masse derer, die in den Jugendgangs organisiert waren, wollten sich nicht mit den Angeklagten, die mit dem Tod von Kaindl in Verbindung gebracht wurden, solidarisieren. Nach dem Tod von Kaindl kam es nicht nur zur Kriminalisierung der Gangs und der Jugendlichen, es wurden auch sozialarbeiterische Disziplinierungsprogramme aufgelegt. In Schöneberg wurde im Wohnbereich der Gang »Die Barbaren« eine Jugendeinrichtung gebaut, in die Mitglieder der »Barbaren« eingebunden wurden. Man zielte vordergründig darauf, dass die Jugendlichen die Gangs verlassen. Das antifaschistische Moment brach damit auch weg, und die Politisierungsdynamik war beendet.
Was kann man aus der Geschichte von Antifasist Gençlik lernen nach Hanau?
Die Idee der unabhängigen, militanten Selbstorganisierung von Migrantinnen ist möglich und machbar. Selbstorganisierung bedeutet, dass Rassismusbetroffene sich unabhängig organisieren, auch unabhängig von staatlichen Strukturen und Parteien. Was nicht heißt, dass man in Abgrenzung zur deutschen Linken geht, sondern unabhängig und auf Augenhöhe miteinander politisch in Beziehung tritt! Dafür müssen neue Plattformen geschaffen werden, neue Sprachen, neue Beziehungen. Wir sind in den letzten Jahren durch identitätspolitische Haltungen auf allen Seiten – auch die deutsche Linke ist identitätspolitisch – zu sehr isoliert voneinander. Wir brauchen Solidarität. Alleine entsteht aber keine Solidarität. Wir müssen zusammenkommen und lernen, intersektional und auf Augenhöhe Politik zu machen.
Infolge von Hanau haben sich neue Gruppen gegründet, die explizit auf antirassistische und antifaschistische Kämpfe, Selbstorganisation, Solidaritätsarbeit ausgerichtet sind. Was denkst du über »Migrantifa«?
Dass nach Hanau neue »Migrantifas« entstehen, ist wichtig. Wenn Migrantifa bedeutet, dass Migration und Antifaschismus zusammen gedacht werden, dann ist das eine wichtige Antwort auf das Grenzregime, die Morde im Mittelmeer, die Angriffe der Faschisten und Rassisten heute und für den Kampf um Würde, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung.
Garip Bali
lebt seit 1971 in Berlin. Seine Eltern migrierten Ende der 1960er als kurdisch-alevitische (Gast-)Arbeiter*innen nach Berlin. Garip ist seit Anfang der 1980er Jahre in migrantischen Selbstorganisierungen aktiv, Anfang der 1990er im Verein Ada (türkisch: »Insel«), der die Zeitschrift Inisiyatif – gegen Faschismus und Rassismus auf Türkisch/Deutsch herausgab.