Bei dieser kurzen Gelegenheit möchte ich euch ein kurzes Bild über die Lage der prekär lebenden Menschen im Iran geben. Denn wenn der 1. Mai der Internationale Tag der Arbeitersolidarität ist, müssen wir zuerst in der Lage sein, die oberflächlichen Bilder zu überwinden, die die Mainstream-Medien jeden Tag über die Gesellschaften des „globalen Südens“ reproduzieren. Oberflächliche Erzählungen über den Iran sind nichts anderes als wiederholte Berichte über die Aktionen der iranischen Regierung im Kontext ihrer internationalen Konflikte. Was dabei ausgelassen wird, ist das Leben der Unterdrückten und der prekär lebenden Menschen sowie ihr Leiden und Kämpfen. Auch wenn wir ab und zu etwas darüber hören, handelt es sich meistens um offizielle Berichte der iranischen Regierung über die Gesellschaft. Aber ein großer Teil dieser Menschen am unteren Rand sind Arbeiter*innen: Frauen und Männer. Es gibt mehr als 14 Millionen offizielle Arbeiter*innen im Iran, und etwa genauso viele inoffizielle Arbeiter*innen und Tagelöhner, deren Namen in keinem Amt oder auf keiner Liste eingetragen ist. Beide Gruppen haben keine Stimme und sind der grundlegendsten Rechte beraubt, während die zweite Gruppe in den noch schlimmeren Lagen lebt. In diesen Tagen hat die Corona-Krise das Leben dieser Menschen viel schwieriger gemacht, aber ihr Leben war immer ein ständiger Kampf ums Überleben: Überleben angesichts der wachsenden Folgen des wilden Neoliberalismus und der repressiven Funktionen einer stark korrupten und dysfunktionalen politischen Struktur.
Lassen wir kurz die Zahlen reden: Laut der offiziellen Statistik der iranischen Regierung befinden sich mehr als 40% der 80 Millionen Einwohner des Landes unter der absoluten Armutsgrenze, mit einer offiziellen Zahl von rund 250 Euro Monatseinkommen. Dabei lag Inflationsrate im Jahre 2019 bei 34%. Zum neuen Jahr hat die Regierung trotzdem den monatlichen Mindestlohn jedoch auf rund 125 Euro festgesetzt. Das Niveau der sozialen Dienste ist ebenfalls sehr niedrig, entweder aufgrund der langen Umsetzung neoliberaler Politiken oder aufgrund der besonderen Prioritäten eines totalitären Staates, der seit Jahren seine zunehmenden Ausgaben für militärische Sicherheit als selbstverständliche Notwendigkeit (im Kampf gegen Imperialismus!) darstellt und das Wirtschaftselend und seine Ineffizienzen durch die Wirtschaftssanktionen rechtfertigt.
Des weiteren gibt es im Iran fast keine unbefristeten Arbeitsverträge und auch sehr wenige mehrjährige Arbeitsverträge. Leiharbeitsfirmen, die eindeutig die Armut und das Elend der Menschen missbrauchen, haben das Maß der Ausbeutung auf ein beispielloses Niveau gebracht. Arbeiter*Innen müssen sogar oft die Blanko-Verträge unterschreiben. Das heißt, sie müssen im Voraus bestätigen, dass ihnen jegliches Recht entzogen wird.
Wie reagieren aber die Arbeiter*innen auf all diese Unterdrückung? Obwohl iranischen Arbeiter*innen das Recht auf Organisation und Streik entzogen wurde (und dies war für die iranische Regierung immer eine ernsthafte rote Linie), haben sie in den letzten Jahren andauernde Proteste und Streiks durchgeführt. Natürlich sind diese Aktionen verboten und Strafbar, aber diejenigen, deren Familien hungrig sind und die mit der Gefahr leben, das Dach über dem Kopf zu verlieren, sind gezwungen, das Risiko einzugehen. Aus diesem Grund sind die iranischen Gerichte und Gefängnisse voll von protestierenden Arbeiter*innen und Arbeiteraktivist*innen, die versucht haben, sich gegen diese unmenschliche und unerträgliche Situation zu verteidigen, oder sich zu organisieren, wie zum Beispiel Vertreter der verbotenen Lehrergewerkschaften. Bis jetzt hat der Staat immer gesiegt.
Da der Staat in den letzten Jahrzehnten zu einer militärischen Sicherheitsmaschine geworden ist, können die unorganisierten und verstreuten Proteste nicht lange aushalten; besonders weil sie den Teilnehmer*innen hohe Repressionskosten auferlegen. So führt die ständige Anhäufung von Ausbeutung, Elend, Unzufriedenheit und Unterdrückung zu Massenaufständen, wie wir in den letzten zwei Jahren von Massenaufständen in Hunderten iranischer Städte gesehen haben: Januar 2018 und November 2019, die beide schwer zerschlagen wurden. Einige offizielle Regierungsquellen geben sogar an, dass im Aufstand vom 5. November 2019 mehr als 4.000 Menschen vom Militär und Geheimdienst getötet wurden.
In einer solchen Situation ist klar, wie die Situation der berufstätigen Frauen ist. In einer vollständig patriarchalischen Gesellschaft, die von der offiziellen Religion dominiert wird, sind Frauen die Hauptverliererinnen, sowohl wegen grundlegender Diskriminierung am Arbeitsplatz als auch im sozialen Umfeld und wegen des schieren Volumens an reproduktiver Arbeit, die ihnen in einer solchen Gesellschaft auferlegt wird. Der Kampf geht jedoch weiter. Arbeiter*innen auf verschiedenen Ebenen versuchen trotz der Repression weiterhin, ihre eigenen illegalen Organisationen zu gründen. Noch im letzten Jahr ist es ihnen gelungen, den Slogan „Brot, Arbeit, Freiheit, Räteverwaltung“ zu einem prominenten Slogan auf der Ebene der Arbeiter*innenbewegung zu machen. Frauen, Student*innen und andere soziale Bewegungen geben ebenfalls nicht auf und zahlen sehr hohe Kosten für ihre Kämpfe.
In diesem Zusammenhang haben wir, die Verbannten aus dem Iran, mit Erstaunen gesehen, dass es mächtigen westlichen Staaten oder kapitalistischen Zentren gelungen ist, das Problem des Irans auf das Thema Kernenergie und dergleichen zu reduzieren. Und dabei sehen wir auch voller Schmerzen, wie einige unserer nicht-iranischen linken Genoss*innen das Problem des Irans mehr oder weniger durch dieselbe Brille sehen. Westliche Mächte sehen die Interessen der Unterdrückten im Iran nicht: entweder inszenieren sie sich als diejenigen, die sich wie die US-Regierung scheinheilig als Repräsentant der Forderungen der iranischen Unterdrückten darstellt; Oder, wie einige westeuropäische Regierungen wie Deutschland, die aufgrund wirtschaftlicher Interessen und insbesondere der neuen geopolitischen Rivalität mit den Vereinigten Staaten praktisch zu Sprechern des iranischen Staats geworden sind. Daher tut es uns weh, wenn wir sehen, dass einige Tendenzen innerhalb der Linken den iranischen Staat, dessen Existenz mit der fortgesetzten Unterdrückung von Arbeiter*innen und die Minderheiten verbunden ist, als eine antiimperialistische Kraft ansehen. Unsere Antwort darauf ist, dass internationale Solidarität und globale sozialistische Kämpfe viel mehr Aufmerksamkeit und Tiefe erfordern.
Unsere größte Hoffnung gilt nun den Bewegungen, die 2019 in
den Globalen Süden darunter auch im Nahen Osten wieder aufgetaucht sind. Diese
Bewegungen haben gezeigt, wie die Überwindung universeller und gemeinsamer
Schmerzen die Solidarität der Unterdrückten auf internationaler Ebene,
besonders in der jetzigen Zeit von Corona-Krise, Klimawandel und ständigen
Kriegen erfordert. Also müssen wir unsere Brille beiseite legen und uns ehrlich
fragen: Auf welcher Seite stehen wir?
[1] . Redebeitrag von der internationalistischen und revolutionären 1.Mai-Kundgebung Bremen (2020-Deutschland).