Die deutsche und europäische Krisenpolitik lässt auf einen echten Wandel hoffen. Geschichte ist die neoliberale Hegemonie aber noch nicht
Nachdem sich die EU-Regierungen im Juli auf einen 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds für die Jahre 2021 bis 2023 verständigt hatten, sahen viele eine historische Zeitenwende gekommen. Der sonst so spröde deutsche Finanzminister Olaf Scholz (SPD) schwärmte, in Erinnerung an die Gründertage der USA, gar von einem europäischen »Hamilton-Moment«. Ähnlich wie bereits nach Verabschiedung des Konjunkturpakets der Bundesregierung im Juni, skandierte auch das Gros der linkliberalen Presse im Scholzomat-Duktus: »Wumms, die Zweite!«
Sind die von der Bundesregierung bisher eisern verteidigten neoliberalen Dogmen – Haushaltskonsolidierung, keine europäische Schuldenaufnahme, keine zusätzlichen Transferzahlungen – nun also wirklich Geschichte? Signalisieren die Ausgabenprogramme und die »Green Deal«-Rhetorik der EU-Kommission gar eine sozial-ökologische Läuterung im Angesicht der epochalen Krise?
Verständlicherweise werden solche Hoffnungen in der radikalen Linken nur müde belächelt. In der akuten Krise würden schließlich (fast) alle Kapitalist*innen kurzzeitig zu Keynesianer*innen. Wie nach den Rettungsmaßnahmen von 2008/09 werde auch dieses Mal eine Welle der Austerität auf dem Fuße folgen. Zweifellos setzt die Krise die öffentlichen Infrastrukturen schon jetzt massiv unter Druck und verschärft die sozialen Spaltungen zwischen den wie innerhalb der Einzelstaaten. Im Grunde also nichts Neues unter der sengenden Sonne? Auch diese Sicht wäre voreilig.
Zugegeben: Das politisch heftiger werdende Handgemenge und das zerstörerische Potenzial des aufziehenden Sturms erfordert eher mehr als weniger antagonistische Zuspitzung von links. Immerhin ist offensichtlich, dass keines der nun lancierten Krisenprogramme den notwendigen Systemumbau bringt.
Dennoch sollten wir genau hinschauen, welche Verschiebungen sich in den zunehmend porösen herrschenden Blöcken abzeichnen. Die neue große Krise hat gerade erst begonnen. Alles spricht für ein langes Ringen um die »richtige« politische Antwort darauf.
Renaissance des Zentrismus
Beim Versuch, eine Zwischenbilanz zu ziehen, sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass die Erosion neoliberaler Hegemonie alles andere als neu ist. In Deutschland fanden seit der Krise ab 2007 kaum mehr großangelegte Privatisierungen, Sozialkürzungen und Deregulierungen statt. Die marktradikalen Reformen der 1990er und 2000er Jahre haben nicht nur die Ungleichheit vertieft und die Bindekraft sozialer Milieus zersetzt. Sie haben die regierenden Parteien auch politische Legitimation gekostet.
Das damit eingeleitete Ende der Volksparteien hat den Druck zur Kompromissbildung im politischen System der BRD erhöht. Abgesehen von FDP, AfD und dem Wirtschaftsflügel der Union (derzeit allesamt deutlich geschwächt), haben sich die relevanten Kräfte im Parteienspektrum längst umorientiert: So dominieren inzwischen nach innen unterschiedliche Varianten einer kleinschrittigen Reform- und Befriedungspolitik, die letztlich auf eine Stabilisierung des Status Quo zielen, auf den Erhalt der überkommenen Klassen- und Wirtschaftsstruktur – trotz programmatisch im Einzelnen eher wachsender Differenzen. Das nationale Konjunkturpaket, das allseitige Zustimmung durch großflächige Geldverteilung erkauft und vom Umfang her ähnlich dimensioniert ist wie in der Krise vor gut zehn Jahren, stellt insofern gerade keinen Paradigmenwechsel dar.
Die Krise verschärft die sozialen Spaltungen zwischen den wie innerhalb der Einzelstaaten. Im Grunde also nichts Neues unter der sengenden Sonne?
In der EU insgesamt sah es in der letzten Dekade bekanntlich anders aus. Aber die brutale Austeritätspolitik löste massive Gegenwehr aus. Die Krisenländer wurden sozial und wirtschaftlich stranguliert, ohne die Strukturprobleme der Integration ernsthaft anzugehen. Die Gewichte verschoben sich vor allem in Südeuropa vom Konsens zur Repression. Parteiensysteme wurden umgewälzt, die Fliehkräfte in der EU nahmen zu – mit politisch sehr uneinheitlichen Folgen: Von der niedergeschlagenen griechischen Revolte über das fast flächendeckende Erstarken der radikalen Rechten und den Brexit (der auch zur Niederlage des Hoffnungsträgers Jeremy Corbyn wurde) bis hin zur vergleichsweise geräuscharmen Renaissance sozialdemokratischer Reformpolitik in Portugal.
Die Verhältnisse sind in Bewegung geraten; neue Massenbewegungen, von den Gelbwesten bis zu Fridays for Future, haben Spuren im öffentlichen Diskurs hinterlassen. Selbst im deutschen »Herzen der Bestie« diagnostizierte das Allensbach-Institut noch Ende letzten Jahres beunruhigt, dass das Zutrauen in die Handlungsfähigkeit von Staat und Regierung »erdrutschartig verfallen« sei.
Auch die politischen Wirkungen der Corona-Krise, die auf einen bereits 2018 begonnenen Abschwung der Industrieproduktion aufsetzt, fallen alles andere als einheitlich aus: Hierzulande erhält ein ordnungsstaatlich und sozialpartnerschaftlich auftretender Zentrismus à la Merkel, Scholz und Söder neuen Auftrieb. Das erscheint insofern paradox, als sich zugleich langfristige gesellschaftliche Polarisierungstendenzen weiter zuspitzen: Einerseits die wachsende Verzweiflung und Wut im progressiven linken und linksliberalen Lager angesichts der anhaltenden Ignoranz staatlicher Politik gegenüber Ausmaß und Dringlichkeit der notwendigen Veränderungen, andererseits die bedrohliche Aggressivität der Faschist*innen und ihre Resonanz in den (allerdings deutlich minoritären) verschwörungstheoretischen und esoterischen Filterblasen.
In den USA ist diese Frontstellung bereits bis an den Rand des Bürgerkrieges verhärtet. Die Zentralgewalt des Staates ist unter Donald Trump durch fossile und militärisch-industrielle Monopolkapitalfraktionen okkupiert worden, gestützt auf eine nationalistisch-fundamentalistisch radikalisierte und durch das Wahlsystem massiv überrepräsentierte Minderheit. Dieses Katastrophenprogramm wird nach Sanders Niederlage auch hier vorerst nur von einer müden Neuauflage des post-neoliberalen Zentrismus herausgefordert. Vieles wird dennoch davon abhängen, wie dieser Kampf ausgeht und wie weit eine mögliche Regierung von Joe Biden ihren aktuellen Zugeständnissen an das Green-New-Deal-Lager Taten folgen lässt.
Nicht nur im globalen Süden flammen derweil die Revolten des letzten Jahres wieder auf. Die sicherheitspolitischen Bedrohungen wachsen rasant. Verschärfte Handelskonflikte, der Aufstieg der autoritär konsolidierten chinesischen Großmacht (siehe Beitrag von Jörg Kronauer) und die offenkundig gewordene Anfälligkeit der transnationalen Wertschöpfungsketten erzwingen eine relative Rückbesinnung auf regionale Wirtschaftsräume.
Paradigmenwechsel in der Europapolitik
Es dürfte zuvörderst diesen Turbulenzen geschuldet sein, dass die dominanten Kapitalfraktionen in Deutschland ihre Haltung verändert haben. Schon seit dem Frühjahr drängen sie die Bundesregierung offen zu einer Beendigung der Politik der »schwarzen Null« und stattdessen zu einer zumindest temporären europäischen Schuldenaufnahme. Ökonomisch ist das rational: Öffentliche Ausgaben stabilisieren die inländische und europäische Nachfrage. Und eine Teilfinanzierung durch gemeinsame Anleihen der EU-Kommission entlastet die ohnehin vielfach hoch verschuldeten Nachbar*innen, die als Absatzmärkte für die deutsche Industrie wieder an Bedeutung gewinnen könnten.
Die Konjunkturdaten weisen darauf hin, dass dieses Wendemanöver zumindest vorläufig gelingen könnte. Die akute Gefahr einer neuen Eurokrise, die vor allem in Italien zum Bruchpunkt der EU werden könnte, scheint fürs Erste gebannt. Die Europäische Zentralbank setzt ihre ultralockere Geldpolitik fort und verhindert so neuerliche Spekulationen an den Märkten für Staatsanleihen (auch das eine bereits zuvor vollzogene Abkehr vom neoliberalen Dogma). (1)
Allerdings droht ab Herbst nicht nur eine zweite Infektionswelle mit neuen Rezessionseffekten und der Gefahr einer Bankenkrise; die Konjunkturmaßnahmen nehmen sich bei näherer Betrachtung und im Angesicht eines Einbruchs von rund 10 Prozent des BIP im 2. Quartal auch eher überschaubar aus – zumal sie überwiegend erst im nächsten Jahr zu Buche schlagen.
Konjunkturmaßnahmen: transformative Kraft?
Wie stark ihre transformative Wirkung in sozialer und ökologischer Hinsicht ausfallen wird, ist dabei noch keineswegs ausgemacht. Das nationale Konjunkturpaket kam immerhin ohne Unternehmenssteuersenkung, Soli-Abschaffung für Reiche und Abwrackprämie aus. Es enthält, auch auf Druck von sozialen Bewegungen wie Fridays for Future, im Detail durchaus sinnvolle Maßnahmen – etwa zum Ausbau der Wind- und Solarenergie. Dennoch ist bereits absehbar, dass die massiven Einnahmeausfälle in den sozialen Infrastrukturen mit den Finanzhilfen nur zu einem geringen Teil ausgeglichen werden können. Soloselbstständige, Geringverdiener*innen sowie viele kleine und mittlere Unternehmen werden hart getroffen. Ein großer Teil der Mehrwertsteuersenkung – das Herzstück des Pakets – könnte dagegen den großen marktbeherrschenden Unternehmen zu Gute kommen und nicht, wie angekündigt, den Konsument*innen.
Das nationale Konjunkturpaket kam immerhin ohne Unternehmenssteuersenkung, Soli-Abschaffung für Reiche und Abwrackprämie aus.
Die ökonomische Nachfrageschwäche wird sich insofern vermutlich fortschreiben, trotz bisher kaum gestiegener Arbeitslosigkeit. Ob daraus Sparmaßnahmen folgen oder eine weitere Erhöhung der Schuldenaufnahme, gar steuerpolitische Umverteilung – all dies werden erst die kommenden gesellschaftlichen Kämpfe entscheiden. Vermutlich wird es eine Kombination aus all diesen Elementen geben. Auf die Gewichtung kommt es aber an, weil sich daran mitentscheidet, ob mittelfristig ein Fenster für eine sozial-ökologische Revolution geöffnet werden kann.
Von größter Bedeutung wird auch sein, wie die europäischen Ausgabenprogramme konkret verteilt und gegenfinanziert werden. Bekommt etwa die EU-Kommission, die die Ausgabe der Mittel aus dem Wiederaufbaufonds an die Einhaltung ihrer »länderspezifischen Empfehlungen« binden will, damit einen demokratisch kaum kontrollierten Hebel in die Hand, um weitere »Strukturreformen« zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu erpressen? Oder können über das europäische Parlament und Druck aus der Zivilgesellschaft andere Steuerungsmechanismen und Förderkriterien erstritten werden? Und bleiben die gemeinsamen europäischen Anleihen tatsächlich zeitlich begrenzt? Wie würde eine Rückzahlung finanziert? Durch neue Einnahmen wie die angekündigten Plastik-, Aktien- und Digitalsteuern oder doch durch Ausgabenkürzungen? Ähnliche Fragen werden sich in näherer Zukunft auch für die deutsche Wirtschaft stellen.
All dies bleibt Gegenstand der Auseinandersetzung. Wie die Würfel fallen, wird wesentlich davon abhängen, ob es den linken Bewegungen gelingt, trotz Corona gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen – indem soziale und ökologische Fragen enger als bisher miteinander verbunden werden. Max Lill
Max Lill ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv und arbeitet als Sozialwissenschaftler in Berlin.
Anmerkung:
1) Über niedrige Leitzinsen und den Ankauf von Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten hält die EZB seit der Eurokrise 2011/12 die Zinsen für neue Staatsanleihen niedrig. So bleiben auch Krisenländer wie Griechenland und Italien fiskalpolitisch handlungsfähig. Vgl. zur schrittweisen Abkehr vom monetaristischen Dogma Michael Wendl: Inflation oder Deflation? OXI, 4.8.2020.
Quelle: https://www.akweb.de/ausgaben/663/europa-corona-krisenpolitik-ist-der-neoliberalismus-am-ende/